„Schauen wir nur, oder sehen wir auch?“ 

sehen, gesehen werden, sich selbst sehen und drunter, drüber, gegenüberstehen / Isabel Wöckl (AT), Ellinor Brandenburg (DE), Photo: Isabel Wöckl

Manuela Naveau, Kuratorin des Kunstuni Campus beim Ars Electronica Festival und Universitätsprofessorin für Critical Data / Interface Cultures, über das Sehen, das Träumen, das Feiern und einen Turm am Hauptplatz von Linz. 

Gastbeitrag der Kunstuniversität Linz 

Der Kunstuni Campus, gleich am gegenüberliegenden Donauufer des Ars Electronica Center während des Festivals zu finden, steht heuer in Hinblick auf die Hoffnung als das große Thema ganz im Zeichen des Sehens: Was können wir sehen? Und was nicht? Wie sehen wir? Am Hauptplatz wird von Paul Eis und Maximilian Meindl der Abteilung Architektur ein Turm errichtet, der unerwartete Perspektiven bietet. Die Moholy-Nagy Universität Budapest als special featured Partner-Universität bespielt diesmal die Galerie „splace“ der Kunstuniversität Linz

Im Innenhof des westlichen Brückenkopfgebäudes eröffnet einen Tag vor der offiziellen Eröffnung des Ars Electronica Festival, also am 3. September, der Kunstuni Campus mit dem Soundcampus – jeden Abend von 18:00 bis 22:00 Uhr stehen dort bis 8. September Konzerte, Performances & DJing auf dem Programm. Damit nicht genug spielt am 4. September im Mariendom eine zwölfköpfige Formation unter Beteiligung der Kunstuni Linz auf – „NoFive“ inszeniert Anton Bruckners fünfte Symphonie und das ikonische „Seven Nation Army“-Riff der White Stripes mit Vollröhren-Verstärkern. 

Manuela Naveau, Kuratorin des Kunstuni Campus und Universitätsprofessorin für Critical Data / Interface Cultures gibt einen Ausblick auf die junge Medienkunst, die am Kunstuni Campus in Form von Ausstellungen, Installationen, Performances, Screenings und Workshops geboten wird. 

Credit: Paul Eis, Maximilian Meindl

„HOPE – who will turn the tide”, hat die Ars Electronica diesmal als große Frage ausgegeben, auf dem Kunstuni Campus 2024 wird als Antwort von den Architekturstudierenden ein großer Turm errichtet – um auf die Wichtigkeit des Sehens und Perspektivenwechsels in unseren unruhigen Zeiten aufmerksam zu machen. Was ermöglicht das hohe Bauwerk Besucher*innen noch alles? 

Manuela Naveau: Hinter der Idee für den Bau des achtzehn Meter hohen Turms mit einem Leitergerüst steckt eine Figur aus der griechischen Mythologie: Lynkeus, abgeleitet aus dem Griechischen von lynx für „Luchs“, hatte eine besondere Gabe: Er hatte nicht nur ein aufmerksames und waches Auge, das ihm verhalf, die wunderschönen Momente auf unserer Welt zu erkennen, sondern sein eigentlich technischer Blick ließ ihn durch Menschen, durch Wände und Gegenstände blicken bis tief ins Innerste unserer Welt. Als eine der wichtigen Figuren der Argonauten war sein klarer „Durchblick“ über kurze und lange Distanzen von Vorteil. Auch Johann Wolfgang von Goethe sah in Lynkeus eine besondere Figur. In seinem Drama Faust II im dritten Akt verkündete Lynkeus der Türmer die Ankunft Helenas und im fünften Akt ist er Zeuge der Brandstiftung von Mephisto. Das Lied des Türmers Lynkeus beginnt jedoch mit einer Ode an das Sehen und die Welt, wenn auch im weiteren Verlauf des Gedichtes Gefahr und Verwüstung drohen. Das Konzept des Turms auf dem Linzer Hauptplatz ist also, bestehende Sichtweisen und Weltbilder zu hinterfragen. Der Turm ist begehbar und es stellt sich jedoch die Frage, was man sieht, wenn man hinaufsteigt. Sieht man besser? Sieht man mehr? Oder erblickt man etwas ganz anderes als man glaubt zu sehen? Jedenfalls lädt der Turm zur Reflexion zum Thema Sehen ein. 

Linear Dialogue / Daniel Walter (AT), Photo: Photo: Daniel Walter

Weil es von der Weltlage bis hin zur Aufgeregtheit in den sozialen Medien Hoffnung auf mehr Besonnenheit bräuchte? 

Manuela Naveau: Genau. Und es braucht ein genaueres Hinsehen. Man lässt uns ja auch viel anschauen, aber das heißt auch, dass wir gelenkt werden in dem, was wir zu sehen bekommen. Es ist ein vorgefertigter Blick. Gutes Beispiel sind hier die Sozialen Medien in Verschränkung mit Künstlicher Intelligenz, denn es hat den Anschein, dass Technologie für uns die Welt sieht. Und dieses Sehen hat aber wiederum einen Einfluss darauf, wie wir unser Sehen ausrichten. Im kuratorischen Text fragen wir daher: „Was wäre ein Sehen, das nicht nur durch den klaren Blick besticht, sondern seine Aufmerksamkeit auf Zwischenbereiche und Möglichkeitsräume richtet, ein Sehen, das um die Unschärfen herumtänzelt, anstatt sie durchdringen zu wollen? Wovon träumen Sehende?“ Und um genau diese Zwischenbereiche geht es in dem Projekt, denn wer sagt uns denn, dass unsere Welt für uns Lebewesen alle gleich aussieht? Und hier liegt für mich auch viel Positives, denn Sehen kann ganz unterschiedliche Formen haben und involviert alle zur Verfügung stehenden Sinne, ist also ein sehr sensitiver Prozess. 

Goethe schrieb in seinem „Lied des Lynkeus: Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, gefällt mir die Welt“. Der Turm der Kunstuni gilt also auch als Einladung, nicht nur stundenlang in digitale Welten einzutauchen, sondern auch die analoge Welt wieder genauer zu betrachten? 

Manuela Naveau: Ja, auch wenn ich mir selbst mit dieser Dichotomie sehr schwertue, denn sie impliziert immer Wertigkeiten und tradierte Vorstellungen von Natur und Technologie, die wir mit unseren Projekten aufzubrechen versuchen. Viel wichtiger sind für uns Fragestellungen, wie wir uns als Menschen, mit all unseren analogen und digitalen Möglichkeiten in unsere Umwelt ein- und unterordnen. Was sehen wir, was bisher nicht gesehen wurde und was hilft uns unsere Welt besser zu verstehen bzw. als lebenswerten Raum zu gestalten? Im Sinne von Goethe könnten wir fragen: Schauen wir nur, oder sehen wir auch? Auch wenn der Turm von so manchen Menschen nicht besucht werden kann – etwa Menschen mit eingeschränktem Bewegungsapparat oder Menschen mit Höhenangst –, so hoffen wir doch, dass die Diskussion rund ums Sehen auch diese Menschen involviert und sie inspiriert. 

ARTeFACT / Erika Mondria (AT), Photo: Erika Mondria

Was kann junge Medienkunst noch für mehr Reflexion leisten? 

Manuela Naveau: Kunststudierende haben sehr ausgeprägte sensorische Kapazitäten. Gepaart sind diese Kapazitäten mit einer beeindruckenden Vorstellungskraft sowie Mut etwas Neues auszuprobieren. Medienkünstler*innen und Künstler*innen der Digitalen Kunst beeindrucken zusätzlich mit ihrem technischen Interesse und Knowhow. Gleichzeitig sehen sich junge Kunstschaffende nicht als Zentrum der Welt, ein sogenanntes anthropozentrisches Weltbild ist ihnen viel fremder als älteren Generationen. Auch wenn sie inmitten einer Multikrise vom Ego-Kult Sozialer Medien umgeben sind und der Marketingmaschinerie einer kapitalistischen Gesellschaft ausgeliefert sind, sie flirten mit der Kunst, den Wissenschaften und den letzten technologischen Entwicklungen zu gleichen Teilen und sind im spielerischen Suchen nach gesellschaftsrelevanten Fragestellungen wohl unschlagbar. Und ich spreche hier nicht nur von unseren Studierenden … 

Dennoch: Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist der Kunstuni Campus in Linz Fixpunkt des Ars Electronica Festival – als Präsentationsplattform für Arbeiten von Studierenden und Lehrenden und Ort des Austauschs mit anderen Universitäten aus aller Welt … 

Manuela Naveau: Der erste sogenannte Campus beim Ars Electronica Festival in Kooperation mit Künstler*innen der Kunstuniversität Linz fand 2001 statt. Im Jahr 2002 wurde die institutionelle Kooperation zwischen der Ars Electronica und der Kunstuniversität Linz ins Leben gerufen und im Jahr 2004 wurde mit Interface Cultures ein gemeinsam inspiriertes Masterprogramm an der Kunstuniversität Linz gestartet, welches fortan sich um die Ideen und künstlerischen Transformationsprozesse einer jungen Generation an genau dieser Schnittstelle von Kunst, Technologie und Gesellschaft kümmert. Seit 2019 und basierend auf enormer Unterstützung von Rektorin Brigitte Hütter ist der Kunstuni Campus ein Festival im Festival. Mittlerweile gibt es jedes Jahr Installationen, Performances, Screenings, Workshops, den Soundcampus, Hauptplatzaktivitäten und, und, und. Dazu kommen die diversen Auftritte von rund 20 bis 30 Partneruniversitäten in Sachen Medienkunst. Ars Electronica und die Kunstuni Linz arbeiten hier sehr eng zusammen. 

4everfeed / Maria Orciuoli (IT), Photo: Maria Orciuoli

Diesmal bespielt die Moholy-Nagy University of Art and Design Budapest als special featured Partner-Universität die Galerie „splace“ der Kunstuni Linz auf dem Hauptplatz. Was erwartet die Besucher*innen dort? 

Manuela Naveau: Mit „FUTURESENSE“ gehen die Kurator*innen Judit Eszter Kárpáti, Ágoston Nagy und Esteban de la Torre der Moholy-Nagy Universität Budapest im „splace“ den Fragen nach den aktuellen Anomalien und Herausforderungen der Gegenwart nach, um ihre Wirkung auf die Zukunft einschätzen zu können. Ganz im Sinne des ungarischen Bauhaus-Künstlers László Moholy-Nagy sensibilisieren sie für künstlerische Methoden und Praxen, laborieren an intuitivem Wissen und schaffen einen Raum für die Gleichzeitigkeit von Fragen, Überlegungen und möglichen Lösungen. Das Animations-screening „BEST of MOME Anim“ lädt ein, im Ausstellungsraum zu verweilen und die Highlights der Animationskunst der letzten Jahre zu bestaunen. Elf weitere Installationen beeindrucken über taktile, interaktive oder Sound-Erlebnisse und kommunizieren über verschiedene Medien mit ihrem Publikum. 

Die Moholy-Nagy University of Art and Design Budapest ist herausragend mit ihren Tätigkeiten im Bereich Kunst, Design und Technologie und es stellte sich uns die Frage: Was jedoch ist mit jenen Universitäten, die noch weniger Erfahrung in diesem Bereich haben, aber überzeugt tätig sind und auch ein Teil des Netzwerks sein möchten? Basierend auf dieser Idee schufen wir gemeinsam mit dem International Office der Kunstuni Linz und mit Unterstützung des Erasmus+ Förderprogramms Blended Intensive Program (BIP) heuer erstmals eine Lehrveranstaltung zum Thema BIP on Critical Data und sind stolz, dass wir die Arbeiten von Studierenden und Lehrenden der Cyprus University of Technology in Limassol gemeinsam mit der University of Sevilla am Kunstuni Campus präsentieren können. 

Ein weiterer Höhepunkt im Rahmen der Ars Electronica ist der Auftritt von NoFive im Mariendom – was steckt hinter der Band unter Beteiligung der Kunstuni? 

Manuela Naveau: Einer der wildesten Beiträge zum Brucknerjahr! Eine mächtige Wand aus Gitarren-Amps verstärkt das Ensemble aus neun E-Gitarrist*innen, einem Bassisten, einem Drummer und einem Dirigenten und lässt Bruckners Fünfte als avantgardistische Soundscape zwischen Hoch- und Popkultur oszillieren und vibrieren. Über das Brucknerjahr verteilt tritt NoFive als Projekt im Rahmen von Oberösterreichs KulturEXPO an fünf sehr unterschiedlichen Orten auf – und vor allem auch im Mariendom wollen Projektleiter Andre Zogholy von der Kunstuni Linz und seine Formation mit ihren musikalisch-radikalen Ansätzen weit über den Kreis der klassischen Klassik-Fans hinaus für Bruckner begeistern. 

tell me everything about love / Julian Holzer (IT), Photo: Julian Holzer

Heuer feiert Interface Cultures als Department der Kunstuni Linz außerdem sein zwanzigjähriges Jubiläum – was bietet Ihr bei der Ars Electronica auf?

Manuela Naveau: Wir schauen zurück, sehen rund um uns, in uns hinein und blicken nach vorne. „NOUS“ ist der Titel der Ausstellung von Interface Cultures in der POSTCITY, wir beobachten uns selbst, suchen nach dem Wesen von Interface Cultures und fragen nach dem NOUS, französisch für „wir“. Insgesamt sind 25 Arbeiten in der POSTCITY, am Kunstuni Campus am Hauptplatz und an weiteren Satellitenorten ausgestellt. Alumni von Interface Cultures präsentieren am Freitag im Pecha Kucha-Format ihren Werdegang nach dem Masterstudium. Gefeiert wird am selben Tag am Schiff Florentine, das permanent an der Anlegestelle Urfahranermarkt liegt, denn hier am Wasser finden die Leonardo LASER Talks Linz statt und Fabricio Lamoncha, Senior Artist an unserer Abteilung und selbst Alumni von Interface Cultures, kombiniert kollaborative Labor-Gespräche mit Koch- und Essenserlebnissen: DIY-Solarküche, diverseste Fermentierungsprozesse und genießbare Biolab-Artefakte am Donauschiff. Besucher*innen sind herzlich willkommen, mit uns zu feiern! 

Seit ihrer Gründung im Jahr 2002 feiert die Zusammenarbeit zwischen Ars Electronica und der Kunstuniversität Linz die Auseinandersetzung mit Medienkunst und -kultur. Die Campus-Ausstellung ist eine wichtige Plattform,  die Talente von internationalen Hochschulen mit einzigartigen Ansätzen in Lehre und kreativer Praxis verfolgen. Jedes Jahr lädt dieses Programm Universitäten aus der ganzen Welt ein, Projekte von Studierenden, Alumni und Professor*innen zu präsentieren. 

2024 begrüßt die Campus-Ausstellung insgesamt 42 internationale Universitäten, darunter langjährige Teilnehmer*innen wie die Bauhaus-Universität Weimar, die National Tsing Hua University in Taiwan und die School of the Art Institute of Chicago. Neue Partner wie die University of Nebraska-Lincoln, die Simon Fraser University in Vancouver und die National University of Singapore bringen neue Perspektiven ein und bereichern die Ausstellung mit unterschiedlichen Blickwinkeln und innovativen Ansätzen. 

Zu sehen sein werden die Arbeiten der Studierenden am Kunstuni Campus am und um den Hauptplatz, im Salzamt, sowie in der POSTCITY. Mehr zum Programm findet ihr in Kürze auf unserer Festival Website 

Manuela Naveau

Manuela Naveau, 1972 in Linz geboren, ist Universitätsprofessorin, unabhängige Kuratorin und arbeitet künstlerisch-forschend. Gemeinsam mit dem künstlerischen Leiter und Geschäftsführer des Ars Electronica Centers Gerfried Stocker entwickelte sie die Abteilung Ars Electronica Export, die sie fast 18 Jahre lang leitete. Seit 2020 ist Manuela Naveau Universitätsprofessorin für Critical Data an der Abteilung Interface Cultures / Institut für Medien an der Kunstuniversität Linz, welche sie seit Februar 2023 leitet und wo sie erst kürzlich die Critical Data Research Group initiierte. Weitere Infos unter https://www.manuelanaveau.at/ 

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