Waag Society: „Hinterfrage ständig, was du tust“

Waag Society,

Der STARTS Prize der Europäischen Kommission sucht nach Projekten, die sowohl in Wissenschaft, Technologie als auch Kunst beheimatet sind. In zwei Kategorien warten je 20.000 Euro auf die GewinnerInnen. Noch bis zum 13. März 2017 können auf https://starts-prize.aec.at/ Projekte eingereicht werden! Die Waag Society ist neben der Ars Electronica und BOZAR ein wesentlicher Partner dieses Netzwerks. Ihre Gründerin Marleen Stikker sowie Lucas Evers vom Open Wetlab sprechen in diesem Interview darüber, wo sie die Überschneidungen dieser drei Bereiche sehen und wie sich diese Zusammenarbeit seit Beginn der Waag Society vor mehr als 22 Jahren entwickelt hat. Sie erzählen außerdem darüber, welche Chancen sich für KünstlerInnen, aber auch für WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen auftun, wenn man über den Tellerrand der eigenen Disziplin blickt und sich gemeinsam von einer großen Kraft, der Neugierde, antreiben lässt.

Wie denken Sie über die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Technologie und Kunst?

Marleen Stikker: Es ist dringend nötig, dass Wissenschaft, Technologie und Kunst zusammenarbeiten. Es sind ihre Blickwinkel, die sich gegenseitig ergänzen, wenn wir Technologien betrachten, und es ist das nutzen von Technologien in der Gesellschaft, das mehr Inklusion schafft und die Technologien selbst sozialer, menschlicher und ökologischer macht. Es ist genau diese Neugier der Forschung, die Wissenschaft, Technologie und Kunst zusammenbringt. Und das ist etwas, das uns hier bei der Waag Society schon lange beschäftigt, und ein zunehmendes Interesse an diesem postdisziplinären Feld an sich zieht.

Wenn wir uns den Einfluss der Informationstechnologie auf unsere Gesellschaft näher ansehen, ist es mehr als offensichtlich, dass Forschung, Entwicklung und Produktionsketten nicht selten nur von Kreativität und der Kunst inspiriert sondern immer mehr direkt von ihnen beeinflusst werden. Ein Großteil der Software, Hardware und anderer Anwendungen, die heute von vielen genutzt werden, hat ihren Weg in die Öffentlichkeit und zu den KonsumentInnen über die Kultur gefunden. Technologie steht nie für sich allein, sondern ist an sich immer kulturell und wird auch kulturell verstanden. Nicht nur ihr Gebrauch ist kulturell und kreativ, sondern auch ihre Herstellung.

„Während die technologisch orientierten Wissenschaften uns ein Verständnis davon geben, wie Technologien als solche funktionieren, hilft uns die Zusammenarbeit mit der Kunst zu begreifen, wie die Technologie uns Menschen beeinflusst und sich dadurch nachhaltig in die Gesellschaft einbettet.“

Was haben diese Felder heutzutage gemeinsam?

Lucas Evers: Technologien sind heutzutage komplex. Und um sie weiterentwickeln zu können braucht es Fantasie und Kreativität – auch um ihre gesellschaftlichen Auswirkungen zu verstehen und wie sie sozial und nachhaltig verwendet werden können. Wissenschaft, Technologie und Kunst sind natürlich ganz zentral mit Menschen verbunden. Ganz egal ob sie Technologien verwenden, wie sie Technologien gebrauchen. Sind die Menschen es gewohnt, Technologien zu nutzen? Machen Technologien unser Leben gar besser? Das sind Fragen, die WissenschaftlerInnen, IngenieurInnen und KünstlerInnen in unterschiedlichen und sich ergänzenden Weisen ansprechen.

So braucht zum Beispiel der globale Ãœbergang zur erneuerbaren Energie auf jeden Fall Forschung, um zu verstehen, wie man erneuerbare Quellen erschließt. Natürlich braucht es hier ebenso Kreativität im Design und der Technik. Aber es braucht auch ein Verständnis davon, wie man diesen Ãœbergang sozial und gesellschaftlich begeht. KünstlerInnen können hier eine wichtige Rolle einnehmen, wenn es darum geht, die Fragen für diese Prozesse zu stellen. Es gibt viele Forschungsrichtungen, die sich um postdisziplinäre Forschung bemühen, um Technologie noch menschlicher zu machen. Der gemeinsame Faktor in Wissenschaft, Technologie und Kunst ist aber die von Neugierde angetriebene Forschung, die auf vielfältige Weise Wirkung zeigt – über den reinen Wirtschaftswachstum hinaus – und so zum Beispiel bessere öffentliche Dienste und öffentliche Räume schafft.

Waag Society

Das Zuhause der Waag Society in Amsterdam. Credit: Waag Society

Die Waag Society bezeichnet sich selbst als Institut für Kunst, Wissenschaft und Technologie. Was hat sich seit ihrer Gründung vor mehr als 22 Jahren in diesen Feldern geändert?

Marleen Stikker: Dass Kunst, Wissenschaft und Technologie zusammenarbeiten, das ist nicht neu, diese Felder teilen sich sogar einen gemeinsamen Ursprung. Hier kann man viele Beispiele anführen: Angefangen von den Neuerungen bei Materialien in der bildenden Kunst bis hin zur Fotografie, über etwas ganz Spezielles wie die Entlüftung in der Architektur von Gaudi oder die Gruppe Experiments in Art and Technologies (E.A.T.) von Robert Rauschenberg aus den Laboren von Bell und Symbiotica. Seit dem Bestehen der Waag Society sind viele dieser Gemeinschaftsprojekte rund um IKT, Medientechnologien und dem Internet entstanden – viele davon gemeinsam mit der Waag Society.

Die Waag Society selbst begann im Jahr 1994 mit der Digitalen Stadt, eine öffentliche Initiative und offene Gemeinschaft im Internet, sozusagen eine frühe Form der sozialen Medien. Das Internet war offen und KünstlerInnen sowie HackerInnen experimentierten und erforschten das Potential. Sie reichten diese störende Technologie mit Bedeutung an, die es möglich machte an Macht zu gewinnen und die Menschen zu kontrollieren. Heute ist das Internet von nur wenigen großen Akteuren bewohnt und kontrolliert. Waag Society ist daran beteiligt, diese Technologie zu demystifizieren, neoliberale Algorithmen aufzudecken und ethische sowie souveräne offene Alternativen zu erforschen.

Derzeit beobachten wir eine Bewegung, in der sich KünstlerInnen immer mehr für das technologische Feld interessieren. Meist von den KünstlerInnen initiiert, treten Gemeinschaftsprojekte zu Tage, bei sie mit Institutionen zusammenarbeiten, die in Feldern wie der Medizin, der digitalen Fertigung, in wissenschaftlichen und biotechnologischen Laboren, in digitalen sozialen Innovationen, in der Hardware-Industrie, in den Neurowissenschaften oder in der Nanotechnologie beheimatet sind.

„Hier sind zwei besonders interessante Veränderungen zu sehen: Einerseits nimmt sich die Kunst ungemein vieler neuer Felder für ihre künstlerische Produktion an und andererseits ist es so, dass aus unterschiedlichen Gründen wissenschaftliche und technologische Forschung Interesse daran haben, ihre Ergebnisse in Form einer Zusammenarbeit an KünstlerInnen weiterzugeben.“

Technologien in unserem Leben gehen über die Nützlichkeit hinaus, sie repräsentieren auch unsere Ängste und Wünsche – denken Sie an das Gefühl bei einem neuen Mobiltelefon, bei neuen Materialien in der Mode, an die Hoffnung, die mit medizinischen Innovationen verbunden ist, an die Angst, die Privatsphäre in den sozialen Medien zu verlieren. Niemand sonst außer KünstlerInnen sind imstande solche Ängste und Wünsche besser zu verstehen und uns verstehen zu lassen, wie Technologien emotional werden können.

Welchen Ratschlag möchten Sie denjenigen mitgeben, die ihr Projekt für den STARTS Prize 2017 einreichen wollen?

Lucas Evers: Hinterfrage ständig, was du tust, mach es gemeinsam, tu es, indem du es schaffst. Es gibt immer mehr Bereiche in unserem Alltag, die von Technologie Gebrauch machen. Es formen sich auch immer mehr Zusammenschlüsse zwischen Wissenschaften, Technologie und der Kunst – und dabei geht es nicht nur um Informations- und Kommunikationstechnologien (für mehr Inklusion), sondern auch um neue Materialien (um weniger Müll zu produzieren), Smart Cities und Citizens (mit intelligentem Verhalten), digitale Fertigung (maßgeschneidert, menschennah), Big Data, Super- und sogar Quantencomputing (kann es sicher sein?) und Biotechnologien (lebende Materialien).

Der STARTS Prize soll KünstlerInnen dazu ermutigen, diese Felder zu betreten und mit anderen zusammenzuarbeiten – er soll aber auch wissenschaftliche, technische und kreative Forschungsgruppen auffordern, sich untereinander und mit KünstlerInnen zu vernetzen. Wir denken, es ist notwendig, Vorstellungen von etwas zu haben, und zu darüber nachzudenken, in welche Richtung Technologien für Gesellschaften entwickelt werden sollen, die sie fairer, offener und integrativer machen. Und genau so ein Gedanke könnte es sein, der ein Projekt für den STARTS Prize antreibt.

Marleen Stikker

Marleen Stikker (1962) gründete die Digitale Stad (Die Digitale Stadt) im Jahr 1994, die erste virtuelle Gemeinschaft, die kostenlosen öffentlichen Zugang zum Internet einführte. Sie ist Gründerin von Waag, ein soziales Unternehmen, das aus der Waag Society besteht, einem Forschungsinstitut für kreative Technologien und sozialer Innovation, und aus Waag Products, das Unternehmen wie Fairphone gründete, das das erste fair entwickelte Smartphone der Welt hergestellt hat. Sie ist außerdem Beraterin einer Strategiegruppe der Europäischen Union.

Lucas Evers

Lucas Evers trat im April 2007 der Waag Society bei und leitet derzeit das Open Wetlab der Waag Society, das Biokunst, Biodesign, Biotechnologie und Biowissenschaften mit der Öffentlichkeit zusammenbringt, um zu untersuchen und zu verstehen, wie Biotechnologien unsere Gesellschaft beeinflussen. Derzeit ist er aktiv an mehreren Projekten an der Schnittstelle von Kunst, Design, Wissenschaft und Technologie beteiligt. (Foto: Marco Baiwir)

This project has received funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under grant agreement No 732019. This publication (communication) reflects the views only of the author, and the European Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.