Seit 1979 leistet Ars Electronica Pionierarbeit – sie baut Brücken zwischen Disziplinen, dient als Plattform für neue Allianzen und setzt Impulse für einen offenen, inklusiven Dialog über unsere Zukunft. In Zusammenarbeit mit Künstler*innen aus aller Welt realisieren und präsentieren wir Projekte, die Konventionen infrage stellen und Entwicklungen vorwegnehmen.
Für diese Serie bitten wir Mitglieder des Ars Electronica Teams, in unser Archiv – das weltgrößte seiner Art – einzutauchen und ein Projekt auszuwählen, das sie persönlich berührt, inspiriert oder zum Nachdenken angeregt hat und uns zu erzählen, warum dieses Projekt heute relevant ist. Gemeinsam begeben wir uns auf eine Reise zu Meilensteinen der sogenannten digitalen Revolution. Meilensteine, die „Cutting Edge“ waren.
In der ersten Ausgabe gibt uns Gerfried Stocker, künstlerischer Leiter der Ars Electronica, Einblick in ein Projekt, das die Vision von Würde und sozialer Verbundenheit zur Triebfeder für technologische Innovation macht.
Gerfried Stocker, willkommen bei „Cutting Edge“, unserer Serie über herausragende Kunstprojekte. Du hast das Ars Electronica Archiv besucht und uns eines deiner Lieblingsprojekte mitgebracht. Welches?
Gerfried Stocker: Aus einem so riesigen Archiv zur Geschichte der Medienkunst ein Projekt auszuwählen, ist natürlich ein Wahnsinn und im Grunde nicht zu machen. Es gibt so viele, unglaubliche Projekte. Ich hab mich am Ende aber für das „Avatar Robot Café“ von Ory Yoshifuji aus dem Jahr 2018 entschieden.
Erzähl uns, worum es in diesem Projekt geht.
Gerfried Stocker: Auf den ersten Blick wirkt es wie eine technische Spielerei – es geht um Roboter, die in einem Café in Tokyo Bestellungen aufnehmen, Kaffee zubereiten und den Gästen servieren. Schaut man genauer hin, erschließt sich eine andere, tiefere Bedeutung: Es geht um Menschen, die einer Arbeit nachgehen, sich gebraucht fühlen und für andere etwas tun wollen, das aber aufgrund schwerer körperlicher Einschränkungen – etwa weil sie an Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) leiden – nicht können, weil sie außer Stande sind ihr Haus oder ihre Wohnung zu verlassen. Das “Robot Avatar Café” macht sie deshalb zu „Pilots“, die ihre Roboter „OriHime“ und „OriHime-D“ aus der Ferne steuern. Auf diese Weise können sie am Arbeitsprozess teilnehmen und mit anderen Menschen in Kontakt treten, Teil eines Teams sein. Die Roboter handeln also nicht autonom; sie sind der verlängerte Arm, sie sind die Sinne ihrer Pilots.
Warum ist dieses Projekt so herausragend?
Gerfried Stocker: Das „Avatar Robot Café“ zeigt ganz konkret, wie Technologie helfen kann, soziale Barrieren zu überwinden und Brücken zu bauen – dort, wo einst Mauern standen. Was dieses Projekt für mich so herausragend macht, ist, dass es Technologie als Mittel zur Stärkung menschlicher Verbindung begreift und zum Einsatz bringt. Die Roboter im „Avatar Robot Café“ sind keine intelligenten Maschinen, die uns ersetzen sollen – im Gegenteil: Sie sind Avatare, die nur durch die Präsenz, Aufmerksamkeit und Steuerung ihrer menschlichen „Pilots“ funktionieren.
Diese Roboter wurden nicht einfach für Menschen mit Behinderungen entwickelt, sondern gemeinsam mit ihnen – mit Rücksicht auf kulturelle Kontexte und reale Bedürfnisse. Sichtbar wird dies nicht nur in ihrem Design, sondern auch in ihrem Betriebssystem: Es ist so vielfältig steuerbar, dass nahezu jede Möglichkeit eingebunden werden kann – mit den Augen, dem Kinn, per Maus oder Smartphone.
Was mich am „Avatar Robot Café“ besonders berührt, ist nicht die Technik selbst, sondern der Impuls dahinter: Technologie als nützliches und sinnstiftenden Werkzeug für Menschen. Es geht um Teilhabe, um Würde und um das tiefe menschliche Bedürfnis, gebraucht zu werden. Genau hier berührt dieses Projekt das, was wir als Gesellschaft so oft aus dem Blick verlieren: das Miteinander. Dieses Café ist kein Showroom für Technologie – es ist ein sozialer Resonanzraum. Und gerade deshalb ist es so bedeutsam.

Wie du ganz am Anfang gesagt hast, wurde dieses Projekt im Jahr 2018 realisiert. Inwiefern ist es heute relevant?
Gerfried Stocker: Gerade weil dieses Projekt bereits 2018 realisiert wurde, entfaltet es heute eine umso größere Strahlkraft. Denn wir befinden uns in einer Phase massiver Umbrüche – technologisch, gesellschaftlich, politisch. Die Frage, wie wir mit Digitalisierung umgehen, ist und war nie eine technische. Sie betrifft immer unser Selbstverständnis – als Gesellschaft, als Individuen, als Mitmenschen.
Das „Avatar Robot Café“ ist nicht nur eine kluge technologische Idee, sondern ein zutiefst menschliches Statement. Es macht sichtbar, wie Technologie soziale Isolation überwinden kann – indem sie Menschen, die durch Krankheit oder andere Umstände ausgeschlossen sind, wieder in ein aktives Leben einbindet. Und das ist heute dringlicher als vor sieben Jahren. Denn wir stehen vor einer Wahl: Lassen wir weiterhin zu, dass Technologien uns entzweien, ersetzen, kontrollieren? Oder gestalten wir sie endlich so, dass sie uns verbindet, unterstützt, stärkt? Diese Entscheidung darf nicht bei Konzernen oder ihren Algorithmen liegen – sie liegt bei uns.
Genau hier berührt dieses Projekt im Übrigen den Kern dessen, worum es bei Ars Electronica immer geht: um künstlerisches Denken und Handeln in Zeiten des Wandels und um die Verantwortung, Technologie als Werkzeug für ein menschenwürdiges Miteinander zu begreifen. Gerade jetzt, wo autoritäre Kräfte wieder lauter werden und das Recht des Stärkeren wieder in Mode zu kommen scheint, braucht es Projekte wie dieses. Das “Avatar Robot Café” führt uns vor Augen, dass Menschlichkeit kein Nebeneffekt von Fortschritt sein darf, sondern sein Ziel sein muss.
Gerfried Stocker – vielen Dank!
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Gerfried Stocker
Gerfried Stocker ist Medienkünstler und Ingenieur für Kommunikationstechnik. Seit 1995 ist er künstlerischer Leiter und Geschäftsführer der Ars Electronica. Gemeinsam mit einem kleinen Team entwickelte er 1995/96 die wegweisenden Ausstellungsstrategien für das Ars Electronica Center und initiierte den Aufbau des Ars Electronica Futurelab. Seither verantwortet er die Weiterentwicklung der Programme der Ars Electronica – sowohl in Linz als auch auf internationaler Ebene.