Die COVID-19-Krise und die Verwundbarkeit der Gesellschaft
Ein Vortrag in vier Teilen.
1 Nur eine Gesundheitskrise?
Die Coronavirus-Krise ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern markiert eine Krise der Gesellschaft. Der Verlauf der Pandemie zeigt, wie in jedem Land die Gesellschaft funktioniert, z.B. wie die Politik funktioniert, welche Bereiche der Gesellschaft betroffen sind, wie die Menschen reagieren und welche Optionen für die Zukunft zur Verfügung stehen. Allerdings hat eine umfassende globale Reaktion in einer Weise stattgefunden, wie sie noch nie zuvor beobachtet wurde. Es scheint, dass der von China gewählte Ansatz dem Rest der Welt als Vorbild diente.
Der Schock rund um das Coronavirus löste die größte Wirtschaftskrise seit 100 Jahren aus. Er hat in den meisten Ländern zu einem starken Rückgang der Wirtschaftsleistung und einer hohen Arbeitslosigkeit geführt. In den wohlhabenderen Ländern der Welt wurden ungeheuer hohe Geldsummen für Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft angekündigt oder ausgegeben. Die Summen sind höher als die Maßnahmen, die 2008 zur Bewältigung der Finanzkrise und 2009 zur Bewältigung der Wirtschaftskrise ergriffen wurden. Die nach wie vor steigenden Kurse an den Aktienmärkten können als Zeichen dafür gewertet werden, dass Investoren hoffen, dass sich diese Rettungspakete als wirksam erweisen. Doch dies ist ungewiss. Auch eine lang anhaltende Wirtschaftskrise oder ein tiefer Absturz an den Aktienmärkten ist möglich.
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2 Warum ist die Gesellschaft so verwundbar?
Wir leben in der reichsten Gesellschaft aller Zeiten. Aber eine Pause von zwei oder drei Monaten ist nicht ohne ernsthafte Probleme zu bewältigen. Das liegt an der Organisation des Reichtums in kapitalistischen Volkswirtschaften und an der Transformation des Weltwirtschaftssystems in Zeiten der sogenannten Globalisierung. Dies führte zu einem enormen Wohlstandsgefälle, das in den letzten Jahren in vielen Ländern weiter zugenommen hat.
Die Reorganisation wirtschaftlicher Aktivitäten, z.B. durch globale Wertschöpfungsketten, hat das globale System rationeller und effizienter gemacht, wie viele Indikatoren zeigen. Vergessen wird dabei jedoch, dass es gleichzeitig immer verletzlicher und immer instabiler wird. Große Teile der Wirtschaft operieren ständig am Limit ohne Reserven und Puffer. Im Jahr 2008 haben wir erfahren, wie instabil das Finanzsystem mittlerweile geworden ist. Der Schock durch das Coronavirus zeigt, wie verwundbar unser gesamtes Wirtschaftssystem im globalen Maßstab geworden ist.
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3 Welches Gesellschaftsbild machte die Gesellschaft so verletzlich?
Die heutige Gesellschaft resultiert aus der Globalisierung seit den 1990er Jahren. Theoretisch basiert sie auf dem Gesellschaftsbild des neoliberalen Gedankenkollektivs seit den 1920er Jahren. Seit den 1980er Jahren, dominiert letzeres die Politik in wichtigen reichen Ländern.
Maggie Thatcher steht für zwei Slogans: „Es gibt keine Alternative“ – was den Diskurs über die Transformation von Wirtschaft und Politik leugnet. Und zweitens: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“ – kennzeichnet einen bedeutenden Wandel im Denken. Der Begriff der Gesellschaft, der die Wirtschaft als Teil davon einschließt, ist durch die Idee einer „Ordnung“ ersetzt worden, die Gesellschaft und Wirtschaft gleichzeitig durchdringt. Es ist die Ordnung „des globalen Marktes“ oder „des Marktes“ im Singular – der zentralste Begriff des Neoliberalismus.
Die Idee des „Marktes“ oder der „Globalisierung“ als übergeordneter Prozess hat entscheidende Merkmale, z.B. hat sie keine Grenzen in Bezug auf Natur und Gesellschaft. Dies führte zu einer rasch wachsenden Umweltkrise und der Transformation der Gesellschaft in eine ökonomisierte Gesellschaft.
Der Schock durch das Coronavirus markiert eine Krise in einer verwundbaren Gesellschaft, die im globalen Maßstab vom Konzept des „Marktes“ geleitet wird.
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4 Der Blick in die Zukunft
Der Schock durch das Coronavirus wird die Gesellschaft verändern, und es wird nicht möglich sein, zum alten „Normalzustand“ zurückzukehren. Es werden zwei Szenarien skizziert:
(1) Im negativen Szenario wird der Coronavirus-Schock oberflächlich gesehen wenig Veränderung bringen, aber tatsächlich wird er die politische Hülle, die den Kapitalismus umgibt, grundlegend umgestalten. Dies wird in Analogie zu den Entwicklungen nach der Finanzkrise von 2008 erklärt, bei der die Eliten, die die Krise verursacht haben, nicht gefordert und zur Rechenschaft gezogen wurden. In diesem durchaus realistischen Szenario kann sich eine neue autoritäre Form des Kapitalismus herausbilden, in der die neue Macht für die Staaten auch in neue Formen der Überwachung ausgeweitet wird.
(2) Das positive Szenario knüpft an viele historische Erfahrungen an, in denen die Welt nach Krisen verbessert wurde. Wir erleben derzeit eine Neugestaltung des politischen Handelns, die durchaus positive Momente hervorbringt, wie neue Formen des kollektiven Gesprächs über Ängste, neue Formen der Solidarität mit Fremden und die Erfahrung, wie wichtig und mächtig Politik sein kann. Vielleicht ist es in diesem Szenario möglich, den Coronavirus-Schock mit der Sorge über die kommenden ökologischen Krisen zu verbinden und wirksame Schritte zu deren Eindämmung zu unternehmen.
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Project Credits / Acknowledgements
The videos were edited by Niko Mayr.
Biographie
Walter Ötsch
Walter Ötsch is an economist and was formerly employed at the Johannes Kepler University Linz, where he established and headed the Institute for Comprehensive Analysis of the Economy. Since 2015 he has been professor of economics and cultural history at the Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. His areas of expertise are the cultural history of economic theory and questions of political communication. Publications: Populismus für Anfänger. Anleitung zur Volksverführung (2017) and Mythos Markt. Mythos Neoklassik. Das Elend des Marktfundamentalismus (2019). Further information at: www.walteroetsch.at
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