Cutting Edge: Zwischen Klick und Kontrolle

Made to Measure Group Laokoon (DE): Cosima Terrasse (FR), Moritz Riesewieck (DE), Hans Block (DE), Credit: Konrad Waldmann

Das Projekt „Made to Measure — I is a Search Engine“ untersucht, wie Tech-Unternehmen durch die Auswertung von Nutzer*innendaten Strategien entwickeln, um menschliche Schwächen und Unsicherheiten gewinnbringend auszunutzen.

Seit 1979 leistet Ars Electronica Pionierarbeit – sie baut Brücken zwischen Disziplinen, dient als Plattform für neue Allianzen und setzt Impulse für einen offenen, inklusiven Dialog über unsere Zukunft. In Zusammenarbeit mit Künstler*innen aus aller Welt realisieren und präsentieren wir Projekte, die Konventionen infrage stellen und Entwicklungen vorwegnehmen. 

Für diese Serie bitten wir Mitglieder des Ars Electronica Teams, in unser Archiv – das weltgrößte seiner Art – einzutauchen und ein Projekt auszuwählen, das sie persönlich berührt, inspiriert oder zum Nachdenken angeregt hat und uns zu erzählen, warum dieses Projekt heute relevant ist. Gemeinsam begeben wir uns auf eine Reise zu Meilensteinen der sogenannten digitalen Revolution. Meilensteine, die „Cutting Edge“ waren. 

In dieser Ausgabe gibt uns Veronika Liebl, Direktorin für Europäische Kooperationen sowie Leiterin der Abteilung Festival/Prix/Exhibitions bei Ars Electronica, Einblick in ein Projekt, das vor Augen führt, wie viel unsere digitalen Spuren über uns verraten – und warum der bewusste Umgang mit Daten, Privatsphäre und Verantwortung heute wichtiger ist denn je.

Welches Projekt hast du ausgesucht? 

Ich habe mich für „Made to Measure — I is a Search Engine“ des Kollektivs Laokoon (Cosima Terrasse (FR), Moritz Riesewieck (DE) und Hans Block (DE)) entschieden. Die Arbeit wurde im Rahmen der „Ars Electronica Journeys“ in Auftrag gegeben, die wir während der Pandemie entwickelt haben, um Künstler*innen zu unterstützen und unserem Publikum die Möglichkeit zu eröffnen, Kunst erleben zu können. Im Rahmen des Ars Electronica Festival 2021 haben „Made to Measure — I is a Search Engine“ dann via Stream präsentiert. Finanziert wurde das Ganze von Creative Europe bzw. dem European ARTificial Intelligence Lab, das rechtliche, kulturelle, pädagogische und ethische Dimensionen von KI beleuchtete.

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Erzähl uns, worum es in diesem Projekt geht? 

Ausgangspunkt von „Made to Measure“ ist die Frage, ob man aus den Google-Daten eines Users einen Doppelgänger erschaffen kann und wenn ja, wie nahe dieser an der Wirklichkeit ist?

Im Sommer 2020 rief Laokoon deshalb Menschen auf, ihre Daten anonym einzureichen. Mehr als 100 Leute folgten dem Aufruf. Nach Sichtung aller Einreichungen, entschied sich das Künstler*innenkollektiv für einen Datensatz, der mehr als 100.000 Datenpunkte umfasste und fünf Jahre im Leben einer Frau dokumentierte. Mittels algorithmischer Analysen erstellten die Künstler*innen ein umfassendes Persönlichkeitsprofil und rekonstruierten dann Schritt für Schritt Orte, Krisen, Beziehungen und intime Momente – sie schrieben die Geschichte einer Person, die sie nie getroffen hatten.

Warum ist dieses Projekt so herausragend?  

In der Theorie wissen wir ja, dass unsere Daten wertvoll sind. „Made to Measure“ zeigt aber ganz konkret, wie lückenlos sich unser Leben aus scheinbar unbedeutsamen digitalen Daten rekonstruieren lässt – manchmal nicht ganz präzise kontextualisiert, aber erschreckend nahe an der Realität. Es zeigt, wie einfach Persönlichkeitsprofile von uns erstellt werden können, die Aufschluss über sehr persönliche Dinge wie unsere sexuellen Präferenzen oder psychischen Erkrankungen wie Essstörungen geben. All das wiederum ist Grundlage für zahlreiche Geschäftsmodelle, die Suchtpotentiale, Meinungsmanipulation und Abhängigkeiten ebenso gezielt wie skrupellos zur Monetarisierung nutzen – wie Expert*innen in Interviews erzählen, die ebenfalls Teil des Projekts waren.

„Made to Measure“ macht klar, dass die Frage nach Datenmacht keine Science-Fiction-Story rund um eine allwissende Superintelligenz ist, sondern dass es um ganz konkrete Mechanismen im Hier und Jetzt geht. Ich glaube, dass uns viel zu wenig bewusst ist, dass die Verschiebung ökonomischer Macht durch die systematische Sammlung und Auswertung von Daten längst Realität ist. Und diese Datenmacht folgt profitorientierten Logiken, die den Interessen von Shareholdern dienen – und nicht dem Gemeinwohl. Wer Zugang zu Daten hat, kontrolliert Märkte und beeinflusst ganze Branchen.

Made to Measure Group Laokoon (DE): Cosima Terrasse (FR), Moritz Riesewieck (DE), Hans Block (DE), Credit: Konrad Waldmann

Natürlich ist all das ambivalent. Das Sammeln und Auswerten von Daten hilft uns ja auch, Klimamodelle zu verbessern, medizinische Diagnosen zu präzisieren oder Verkehrsflüsse effizienter zu gestalten. Problematisch wird es, wenn der Zugang zu Daten in den Händen einiger weniger Konzerne konzentriert ist oder gar missbraucht wird – wenn Privatsphäre untergraben, Meinungen manipuliert oder demokratische Prozesse destabilisiert werden.

Projekte wie „Made to Measure“ machen deutlich, dass wir klare und demokratisch legitimierte Leitplanken für den Umgang mit Daten brauchen. Mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) von 2018 und dem AI-Act von 2024 hat die Europäische Union diesbezüglich wichtige Schritte gesetzt; und in den nächsten Jahren wird es darum gehen, wie diese rechtlichen Rahmenbedingungen in der Praxis umgesetzt werden. Informationelle Selbstbestimmung, das Recht auf Privatsphäre, die Sicherung von Freiheit und der Schutz vor Diskriminierung müssen Grundpfeiler einer funktionierenden, digitalen Gesellschaft sein. Wer „Made to Measure“ gesehen hat, versteht, warum diese Prinzipien nicht verhandelbar sind – weil sie die Grenze markieren zwischen einem technologischen Fortschritt, der uns Menschen dient, und einer Entwicklung, die uns unterwirft.

Inwiefern ist es heute relevant?   

Daten sind die Währung des digitalen Zeitalters – doch wem gehören sie, wer nutzt sie, wer profitiert von ihnen? Ohne wirksame Regeln verschiebt sich Macht immer weiter zu den großen, privaten Tech-Konzernen, die mehr über uns Bürger*innen wissen als unsere demokratisch legitimierten Regierungen.

„Made to Measure“ führt exemplarisch vor, wie leicht die aus unseren digitalen Spuren gewonnenen Erkenntnisse gegen uns verwendet werden können und warum es von so großer Bedeutung ist, wer die Kontrolle über Daten hat: Datenschutz ist keine technische, sie ist eine demokratische Schutzfrage.

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Hinzu kommt die politische Dimension, weil es ja auch um Macht geht, wenn wir über Daten sprechen. Und da gibt es Stimmen, die uns wirklich wachrütteln sollten. Peter Thiel etwa – Mitgründer von Paypal und Palantir, Facebook-Investor der ersten Stunde und einer der einflussreichsten Silicon-Valley-Investor überhaupt –, der die Demokratie ganz offen ablehnt, weil sie Innovation und unternehmerische Freiheit bremsen würde.

Das ist hochproblematisch, weil es zeigt, dass einflussreiche Akteur*innen längst daran arbeiten, demokratische Werte wie Teilhabe, Transparenz oder Gleichheit zu untergraben und – ihre eigenen – wirtschaftlichen Interessen über alles andere zu stellen. Der Datenökonomie kommt dabei essenzielle Bedeutung zu: Wer über Daten verfügt, kontrolliert nicht nur Märkte, sondern auch Menschen – ihre Gewohnheiten, Vorlieben und Schwächen.

Und genau deshalb ist es so wichtig, Datenmacht demokratisch einzurahmen. „Made to Measure“ macht das auf eine Art erfahrbar, die niemanden kaltlässt.

Veronika Liebl – vielen Dank!


Veronika Liebl

Veronika Liebl ist Direktorin für Europäische Kooperationen sowie Leiterin der Abteilung Festival/Prix/Exhibitions bei Ars Electronica. Sie studierte Wirtschafts- und Betriebswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz mit Aufenthalten an der Harvard University und der Universität Fribourg. Seit 2011 ist sie bei Ars Electronica für Kulturmanagement und europäische Projektentwicklung tätig. Zudem ist sie Mitglied des Linzer Kulturbeirates, des Vorstandes der UNESCO City of Media Arts Linz und des Content Innovation Council der Frankfurter Buchmesse. Seit über zehn Jahren realisiert sie Kooperationsprogramme mit Partnern aus Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft und leitet EU-Projekte wie den STARTS Award und das European ARTificial Intelligence Lab.

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