Das Projekt „Turnton Docklands” zeigt eine immersive Zukunft, die trotz Krisen Hoffnung, Gemeinschaft und neue Formen des Zusammenlebens erfahrbar macht.
Seit 1979 leistet Ars Electronica Pionierarbeit – sie baut Brücken zwischen Disziplinen, dient als Plattform für neue Allianzen und setzt Impulse für einen offenen, inklusiven Dialog über unsere Zukunft. In Zusammenarbeit mit Künstler*innen aus aller Welt realisieren und präsentieren wir Projekte, die Konventionen infrage stellen und Entwicklungen vorwegnehmen.
Für diese Serie bitten wir Mitglieder des Ars Electronica Teams, in unser Archiv – das weltgrößte seiner Art – einzutauchen und ein Projekt auszuwählen, das sie persönlich berührt, inspiriert oder zum Nachdenken angeregt hat und uns zu erzählen, warum dieses Projekt heute relevant ist. Gemeinsam begeben wir uns auf eine Reise zu Meilensteinen der sogenannten digitalen Revolution. Meilensteine, die „Cutting Edge“ waren.
In dieser Ausgabe gibt uns Christl Baur, Head of Ars Electronica Festival, Einblick in ein Projekt, das eine überraschend hoffnungsvolle Zukunft entwirft und uns dazu einlädt, unsere eigenen Vorstellungen von morgen neu zu verhandeln.

Welches Projekt hast du ausgesucht?
Christl Baur: Als ich gebeten wurde, für die Reihe „Cutting Edge“ ein Projekt aus dem umfangreichen Ars Electronica Archiv auszuwählen, war mir sofort klar wie anspruchsvoll diese Aufgabe werden würde. Vor meinem inneren Auge erschienen unzählige Arbeiten – visionär, stilbildend oder radikal –, die auf ihre Weise Grenzen verschoben, technische Entwicklungen vorwegnahmen oder ganze Diskurse prägten. Ein einzelnes daraus auszuwählen, war entsprechend schwierig.
Schließlich entschied ich mich für „Turnton Docklands” – ein Projekt, das mir besonders eindrucksvoll in Erinnerung geblieben ist. Präsentiert beim Ars Electronica Festival 2017, stammt es vom Linzer Künstler*innenkollektiv Time’s Up, das seit vielen Jahren im Hafen von Linz experimentelle Situationen und sogenannte „physical narratives“ entwickelt. „Turnton Docklands” zählt zu ihren ambitioniertesten Arbeiten: eine immersive Erzählwelt, an der über 50 Personen beteiligt waren und die das Untergeschoß des LENTOS Kunstmuseums in ein fiktives, zugleich erstaunlich realistisches Hafenviertel verwandelte.

Erzähl uns, worum es in diesem Projekt geht.
Christl Baur: In „Turnton Docklands” betreten Besucher*innen ein Hafenviertel des Jahres 2047. Die Ausgangslage ist düster: Ökologische Kipppunkte sind überschritten, Küstenstädte ringen mit toxischen Gewässern, kollabierenden Ökosystemen und extremen Wetterereignissen. Doch statt eine reine Dystopie zu entwerfen, entwickelt Time’s Up ein faszinierendes Gegenmodell. In der fiktiven Küstenstadt Turnton hat sich eine Gemeinschaft herausgebildet, die angesichts der Krise neue Formen des Zusammenlebens findet – solidarisch, selbstorganisiert, transparent und getragen von einer nachhaltigen Ökonomie.
Der Raum selbst wird zum erzählerischen Medium. Time’s Up schafft hier keine klassische Installation, sondern eine begehbare Erzählung: ein dicht verwobenes Geflecht aus Objekten, Dokumenten, Medien, Geräuschen und räumlichen Situationen. Man stößt auf Labore, Behörden und Werkstätten, auf eine Hafenbar, auf Nachrichtenartikel und Tagebücher, technische Apparate, Karten, Lebensmittel und zahllose Alltagsdetails, die gemeinsam ein komplexes Bild ergeben. Alles lässt sich anfassen, lesen, ausprobieren oder untersuchen. Die Geschichte entfaltet sich nicht frontal, sondern im langsamen, neugierigen Eintauchen.
Diese Methode bezeichnet Time’s Up als „physical narratives“ – begehbare Erzählformen, die weder linear funktionieren noch von Darsteller*innen vermittelt werden. Sie entstehen durch Räume und Gegenstände, durch Hinweise, Atmosphären und Verdichtungen. Was erzählt wird, ergibt sich aus dem forschenden Blick der Besucher*innen – und aus den Gesprächen, die sie vor Ort miteinander führen. Es ist eine Erzählweise, die Empirie, Fiktion und Imagination verbindet und das Publikum zu aktiven Deuter*innen macht. Nichts bleibt Kulisse; jedes Detail ist Teil eines größeren Bedeutungsgespinsts.

Warum ist dieses Projekt so herausragend?
Christl Baur: „Turnton” Docklands ist für mich ein seltenes Beispiel einer Zukunftsvision, die nicht im Alarmismus steckenbleibt. Die ökologische Lage des Jahres 2047 ist drastisch – kollabierte Ökosysteme, toxische Küsten, extreme Wetter –, doch das Projekt zeigt, dass selbst aus dystopischen Umweltbedingungen gesellschaftliche Utopien hervorgehen können. Neoliberalismus und Wachstumsdogmen sind überwunden; eine gemeinwohlorientierte Ökonomie hat sich etabliert; nachhaltige Technologien prägen den Alltag. So existieren in Turnton Laboratorien, die Plastikpartikel im Meer abbauen, Algenfarmen wie die „Ocean Recovery Farm“, die Gewässer reinigen und Nahrung produzieren, sowie Institutionen wie das „New Neighbors Integration Bureau“, das Migration als Ressource begreift und kulturelle Vielfalt als Stärke. Zukunft erscheint hier nicht als monolithisches Schicksal, sondern als Plural möglicher Entwicklungen, die durch Handeln, Irrtümer, Anpassung und Mut entstehen.
Zugleich beeindruckt das Projekt durch seine enorme Detailtiefe. Jede Ecke von Turnton erzählt eine Geschichte: die Bar „Medusa“ mit ihren algengestützten Drinks; das Büro des Hafenkoordinationszentrums; die Ankündigung eines Kulturfestivals zur Stärkung der Nachbarschaft; die Werkstätten des Upcycling Centers; oder die leisen Hinweise auf eine globale politische Neuausrichtung. Time’s Up lädt die Fiktion so glaubwürdig auf, dass Besucher*innen vergessen, dass sie sich nicht tatsächlich in einem realen Hafenviertel befinden. Viele bleiben stundenlang, tauchen ab, sprechen miteinander, entwickeln Hypothesen – und bringen ihre eigenen Geschichten in die Welt von Turnton ein.
Zwischen all den ernsten Zukunftsfragen finden sich zudem charmant-humorvolle Momente – etwa der Aufzug, der Bewegung nur simuliert, obwohl man keinen Millimeter fährt. Genau diese Mischung aus Tiefe, Ernsthaftigkeit und spielerischer Ironie macht die Erfahrung so zugänglich und inspirierend.
„Turnton Docklands” lädt nicht zum passiven Konsum ein, sondern fordert das Publikum dazu heraus, selbst zu Forscher*innen zu werden: zu beobachten, zu entdecken, zu kombinieren und Zusammenhänge aufzuspüren. Die Erzählung ist so vielschichtig angelegt, dass sie sich nie vollständig erschöpft. Mit jedem Besuch eröffnet sie neue Ebenen und Perspektiven – und bleibt dadurch ein lebendiges, immer wieder neu erfahrbares Zukunftsszenario.

Inwiefern ist es heute relevant?
Christl Baur: Mehr denn je zeigt sich heute, wie treffsicher „Turnton Docklands” bestimmte Entwicklungen antizipiert hat. Ökologische Prognosen, die 2017 noch spekulativ wirkten, haben sich teilweise beschleunigt erfüllt: Extremwetter, Artensterben, geopolitische Spannungen – The Great Acceleration ist Realität geworden. Gleichzeitig erleben wir eine gesellschaftliche Unruhe, die das Projekt fast prophetisch vorwegnahm: schwindende Gewissheiten, polarisierte politische Landschaften, ein Nebeneinander aus Resignation und Aufbruch. „Turnton Docklands” antwortet darauf nicht mit Fatalismus, sondern mit der Frage: Welche Zukunft wollen wir aktiv gestalten? Und was bedeutet es, heute Entscheidungen zu treffen, die Hoffnung überhaupt erst ermöglichen?
Das Projekt macht erlebbar, was Rebecca Solnit so präzise formuliert hat: Hoffnung ist kein Optimismus, sondern eine Einladung zum Handeln. Turnton zeigt eine Zukunft, die nur deshalb existiert, weil Menschen – rückblickend aus dem Jahr 2047 – erkannten: “Change was our only chance”. Diese Einsicht verleiht der Arbeit eine fast dringliche Gegenwärtigkeit.
Für mich ist „Turnton Docklands” ein Meilenstein immersiver Zukunftsforschung – ein Beispiel dafür, wie „Futuring“ als räumliche Praxis funktionieren kann, indem Zukunft nicht nur gedacht, sondern physisch erfahrbar gemacht wird. Das Projekt zeigt eindrucksvoll, dass Zukünfte verhandelbar und veränderbar sind – und dass Wandel im Kleinen beginnt: in alltäglichen Entscheidungen, Haltungen und Handlungen. Genau darin liegt seine Kraft.
Die Installation warnt vor den Folgen unseres gegenwärtigen Handelns, eröffnet zugleich aber Räume der Ermutigung. Sie zeigt, dass selbst fragile Zukunftsszenarien gestaltbar bleiben. „Turnton Docklands” beweist für mich, dass Kunst ein wesentliches Werkzeug sein kann, um alternative Zukünfte nicht nur zu reflektieren, sondern aktiv zu imaginieren – und damit möglich zu machen.
Christl Baur – vielen Dank!

Christl Baur
Christl Baur ist Head of Ars Electronica Festival, Forscherin mit interdisziplinärem Hintergrund in Kunstgeschichte, Kulturmanagement und Naturwissenschaften. Sie interessiert sich besonders für die Verbindung von ästhetischen und sozialen Praktiken, die sich um Kollaboration und Experimentieren drehen und soziale, politische und wirtschaftliche Protokolle herausfordern. Ihr Forschungsgebiet umfasst Themen wie Videokunst, Neue Medientechnologien, Computer, Biotechnologie und Interaktive Kunst und sie arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft. Sie arbeitet eng mit Künstler*innen zusammen, deren Praxis an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technologie liegt.
