HUMAN FACTOR: Prototypen ohne Ende

HUMAN FACTOR,

Ars Electronica Export macht erneut Station in Berlin, genauer gesagt im DRIVE. Volkswagen Group Forum im Herzen der Stadt, nicht unweit von der Flaniermeile „Unter den Linden“ und dem Brandenburger Tor entfernt. Die Ausstellung „HUMAN FACTOR – endless prototyping“ widmet sich hier von 1. Juli bis 27. August 2016 den Konzepten und Projekten, die weder ausgereift noch vollendet sind, und zeigt künstlerische Prototypen, die Antworten auf soziale, ökologische und ökonomische Fragen geben. Wir haben uns mit dem Kurator der Ausstellung, Martin Honzik von Ars Electronica, getroffen und uns mit ihm über einige dieser Prototypen, den Schritt zur Serie und über die Rolle der KünstlerInnen in der heutigen Zeit unterhalten.

In der Ausstellung „HUMAN FACTOR“ stehen ganz klar die Verknüpfungen von Kunst und Industrie im Mittelpunkt – hat es dieses Zusammenspiel nicht schon immer gegeben?

Martin Honzik: Kunst und Industrie ist die erweiterte Klammer dieser Ausstellung, an die wir thematisch mit einem sehr naiven und weltoffenen Zugang herangegangen sind. Die BesucherInnen werden schon nach den ersten zwei Schritten entdecken, dass es die Verbindung von Kunst und Industrie eigentlich schon immer gegeben hat. Es war auch eine sehr große kuratorische Übung für uns, an dieses Thema heranzugehen – anfangs schien uns das viel zu groß, wir haben uns schließlich im Denken über dieses umfangreiche Thema besinnen müssen und das kleinste Gemeinsame gesucht: Und das ist der Human Factor.

Dieser Human Factor braucht keine Kunst und kein Genre, wir alle tragen diesen in unserer DNA. Das sind Eigenschaften, die es braucht, wenn man sich irgendwann einmal PionierIn nennen möchte: Neugierde und das Wirkungsprinzip des Scheiterns – selbst bei einem Baby sehen wir, dass es das Gehen nicht deshalb lernt, weil es zuvor ein Buch gelesen hat, sondern weil es immer wieder versucht, aufzustehen und sich selbst dadurch perfektioniert. Genau hier steckt die Kraft der Veränderung. Wenn man Prototypen mit Serien vergleicht, dann hat die Serie zwar den Vorteil der Uniformierung, der Ökonomie und trägt all diese Dinge der Effizienz in sich, aber den Versuch zu starten, einen Fehler in einer Serie zu korrigieren, ist viel aufwändiger als an den Start zurückzugehen, die Ideen zu überprüfen und das Scheitern des Prototyps als positiv und konstruktiv zu bewerten. Das ist das Wirkungsprinzip der Ausstellung „Human Factor“ – und es ist das Wirkungsprinzip für die Spezies Mensch, das es braucht, um auf der Erde überhaupt überleben zu können.

quayola

Credit: Quayola

Können Sie uns diese Verbindung von Kunst und Industrie an einem Beispiel genauer beschreiben?

Martin Honzik: Jedes der ausgestellten Exponate und Projekte stellt ein prototypisches Beispiel für so einen Fall dar. Eines der sicher aufregendsten Projekte ist das von David Quayola – er hat 2013 die Goldene Nica des Prix Ars Electronica gewonnen und hat sich dadurch einen Namen gemacht, dass er sich den unvollendeten Skulpturen von Michelangelo angenommen hat. Michelangelo hat damals die Beschaffenheit des Steins falsch eingeschätzt und bei diesen Skulpturen deshalb nicht mehr weitergearbeitet – das waren ein vielmehr technisches als künstlerisches Problem und eine Hürde, die Michelangelo nicht überschreiten konnte.

In der Ausstellung „Human Factor“ tritt erstmals im Ausstellungskontext ein mächtiger einarmiger Roboter von KUKA an die Stelle von Michelangelo, der versucht, diese technischen Schwierigkeiten zu lösen und damit die Gedanken und das Werk Michelangelos zu vollenden. Ein sehr starkes Bild, das viele Fragen aufwirft: Welche Rolle nehmen die KünstlerInnen heute ein? Welche Instrumente setzen sie ein? Es geht dabei auch sehr stark um geistiges Eigentum. „Sculpture Factory“ von Quayola ist sicher die Schlüsselarbeit der Ausstellung, um die sich die anderen Exponate kuratorisch entwickelt haben.

Setzen wir doch den kurzen Streifzug durch die Ausstellung fort – worauf freuen Sie sich noch besonders?

Martin Honzik: Ich freue mich auf die Konstellationen, die zwischen den Arbeiten geschehen. Und ich freue mich darauf, eine Ausstellung zu erleben, bei der Anspruch nicht der war, ausschließlich eine reine Kunstausstellung zu schaffen. Die BesucherInnen finden zum Beispiel eine Aquaponik-Anlage, die es möglich macht, Fische und Pflanzen in einem geschlossenen Kreislauf aufzuziehen. Hier kann man zunächst nicht unterscheiden, ob das jetzt eine künstlerische Installation ist oder nicht. Aquaponik ist ein feiner Weg, die Gegebenheiten der Natur an sich zu verstehen und ein Modell zu schaffen, das uns Menschen und Tiere länger auf diesem Planeten überleben lässt.

IKRAUSIM

Credit: Nick Ervinck

Natürlich findet man in der Ausstellung auch das Who-is-Who des Prix Ars Electronica. Ein Teil unserer kuratorischen Arbeit ist, dass wir aus dem Pool des Prix Ars Electronica unsere thematischen Assoziationen und Verbindungen hin zu den künstlerischen Arbeiten suchen und finden. Agnes Meyer-Brandis ist mit ihrer „Teacup Tools“-Installation dabei, aber auch Nick Ervinck mit „AGRIEBORZ“ und „IKRAUSIM“. Er stellt wiederum einen neuen Prototyp einer Künstlerpersönlichkeit dar, der sich einer neuen Technologie annimmt, die zwar technologisch schon weit fortgeschritten ist, aber in der Anwendung relativ fantasiebefreit ist und die in Europa definitiv noch immer eher als Lifestyle gesehen wird.

Trotzdem hat diese Technologie das Potential, auf jeden Fall im Produktions- und Industriebereich eine Revolution einzuleiten. Eine Revolution, die zwar nicht unseren Planeten grüner macht, aber ein sehr prägendes System, das unseren Planet umspannt, verändern wird – und das ist 3-D-Druck. Nick Ervinck hat schon als junger Designer die Firmen kontaktiert, die diese Teile produzieren, und sich mit seinem kreativen Zugang den Möglichkeiten dieser Technologie angenähert. Er entwickelt heute auf einer unglaublich hohen ästhetischen Ebene 3-D-Drucke und entwickelt auch dieses Gerne und die Materialfähigkeiten zusammen mit den kommerziell orientierten Unternehmen weiter.

Und hier begegnen wir bei „Face Cartography“ erneut einem Roboter, der jedoch seinen Blick eher auf den Menschen als auf Materialien richtet…

Martin Honzik: Der Künstler des Werks, Daniel Boschung, war interessanterweise früher für Volkswagen als Fotograf tätig und hat durch Volkswagen die Welt bereist und das Unternehmen näher kennengelernt. Während Quayola einen Roboter von KUKA einsetzt, verwendet Boschung einen Roboter von ABB – die Welt scheint geteilt in diese beiden Robotersysteme. Boschung lädt die Menschen ein, sich vor diese Hightech-Maschine zu setzen, der Roboter macht schließlich Hunderte Fotografien von kleinen Sektoren des menschlichen Gesichts, eine Software setzt dies zusammen und es kommt zu einer unglaublichen Auflösung eines Porträts. Eine Auflösung, die man sich selbst gar nicht antun möchte.

Dem gegenüber steht „Human Study #1, 3RNP“ von Patrick Tresset. Auch hier dreht es um die Metapher einer Porträtsituation, die jedoch anders gespielt wird. Auf drei robotischen Schwenkarmen ist jeweils eine Kamera montiert. Die BesucherInnen sind eingeladen, sich von diesen wie von einem Zeichner porträtieren zu lassen. Währenddessen beobachtet man sich selbst dabei, wie man minutenlanges Stillhalten in Kauf nimmt und die Luft anhält, obwohl es sich dabei nicht um einen menschlichen Zeichner sondern um eine Technologie handelt, die ein Abbild von einem erzeugt.

Jakob Tonski

Credit: Florian Voggeneder

Jakob Tonski, ebenso ein Gewinner der Goldenen Nica, ist anfangs einer Spielerei nachgegangen und hat versucht, ein klassisches Sofa auf einem Bein stehen zu lassen. Herausgekommen ist eine technische Fingerübung auf hohem Niveau, die die BesucherInnen mit einem Phänomen konfrontiert, das sie so nicht erwartet haben, und die auch bei uns beim Prix Ars Electronica als bestes Kunstwerk prämiert wurde. Das Sofa ist mit einer derart ausgefinkelten Technologie ausgestattet, die wiederum eine Anlehnung an den Satellitenbau und an der Problematik von freischwebenden Objekten im dreidimensionalen Raum nimmt.

„Endless Prototyping“, so lautet der Untertitel der Schau in Berlin. Schaffen wir es jemals zur Serienreife?

Martin Honzik: Hoffentlich nicht. Denn, wenn wir das geschafft haben, ist wirklich jegliche Möglichkeit der Veränderung vorbei. Die Selbstbestimmtheit ist weg. Die Welt funktioniert nicht, wenn sie perfekt ist. Sie funktioniert, weil sie nicht perfekt ist. Und deshalb werden wir immer wieder gezwungen, an den Start zurückzugehen. So sehr es unsere Bestrebung ist, in die Zukunft zu sehen, wir sind einfach zu klein dafür.

Sollten Sie zwischen dem 1. Juli und dem 27. August 2016 in Berlin sein: Die Ausstellung „HUMAN FACTOR – endless prototyping“ im DRIVE. Volkswagen Group Forum Berlin ist auf jeden Fall sehenswert und inspirierend. Auf export.aec.at/humanfactor haben wir Ihnen alle Informationen über die Prototypen und KünstlerInnen zusammengestellt.

Martin Honzik

Martin Honzik ist Künstler und Leiter des Bereichs Festival/Prix/Exhibitions bei Ars Electronica. Er absolvierte das Studium für visuelle, experimentelle Gestaltung an der Kunstuniversität Linz (Abschluss 2001) wie auch den Master Lehrgang für Kultur- und Medienmanagement der Johannes Kepler Universität Linz und ICCM Salzburg (Abschluss 2003). Von 1998 bis 2001 war er Teil des Produktionsteams im OK Offenes Kulturhaus im OÖ Kulturquartier und wechselte 2001 zum Ars Electronica Future Lab, wo er bis 2005 in den Bereichen Ausstellungsdesign, Kunst am Bau, Interfacedesign, Eventdesign und Projektmanagement tätig war. Seit 2006 ist Martin Honzik Leiter des Ars Electronica Festivals, des Prix Ars Electronica wie auch der Ars Electronica Center Ausstellungen und der internationalen Ausstellungsprojekte der Ars Electronica.

,