„Die Angst, einen Fehler zu begehen, ist keine gute Beraterin, wenn es darum geht, Neuland zu entdecken“, davon ist Michael Doser, Physiker bei der Europäischen Organisation für Kernforschung, CERN, in Genf, überzeugt. Fehler eröffnen neue Möglichkeiten, führen womöglich zu unerwarteten Entdeckungen – und passieren selbstverständlich auch in der Wissenschaft tagtäglich.
Wie aber damit umgehen, wenn ein Experiment missglückt oder eine Theorie widerlegt wird? Genau das soll dieses Jahr in der Academy of Error am Ars Electronica Festival untersucht werden. Passend zum Festivalthema „Error – the Art of Imperfection“ diskutieren am Sonntag, 9. September 2018, WissenschaftlerInnen aus aller Welt miteinander, wohin ein Error in der Forschung führen kann. Von 10:30 bis 12:30 Uhr kann man ihnen in der Conference Hall der POSTCITY Linz dabei zuhören. Michael Doser leitet die Diskussion als Chairman – und hat uns bereits jetzt von Fehlern in der Forschung, Normen im Bereich der Antimaterie und dem Begriff der Perfektion erzählt.
Sie sind dieses Jahr Chairman der Academy of Error am Ars Electronica Festival; dort soll der Umgang mit Fehlern in der Wissenschaft reflektiert werden. Welche Rolle spielt der Fehler in der Naturwissenschaft?
Michael Doser: Chairman of the Academy of Error – what a wonderful job title. Die Bronzeplakette brauche ich an meiner Tür.
Als Chairman muss man ja oft steuern, gelegentlich ausgleichend wirken und vor allem darauf schauen, dass benötigte Ressourcen verfügbar sind und optimal verteilt werden; gewissermaßen ein Fehlerbudget vorsehen. Ich muss also sicherstellen, dass alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen gleich viele Fehler machen, beziehungsweise gleich häufig gestört und idealerweise aus ihrer Bahn geworfen werden. Der Fehler ist ja einerseits das Unbeabsichtigte und Unerwartete, das zu Kopfkratzen und Entdeckungen führen kann, andererseits das bewusste Suchen nach den Orten, wo die bisherigen Erklärungen zusammenbrechen, ihre Gültigkeit verlieren, und eine erweiterte Erkenntnis entstehen kann.
“Fehler” deckt sowieso zu viele Begriffe ab: Irrtum, Messungenauigkeit, Scheuklappen, Verwechselung, Vorurteil, Fehlerhaftigkeit, Ungenauigkeit, Störung, Perturbation… von welchem Fehler reden wir also?
Theorien, die das vorhersagen, was nicht beobachtet wird, sind zumindest fehlerhaft und möglicherweise auch falsch, es sei denn, die Messung ist fehlerhaft oder vielleicht schlicht unmöglich. Ebenso Theorien, die nicht das vorhersagen, was eben doch (oder zumindest scheinbar, was die Theorie wieder retten kann) beobachtet wird. Aber auch eine fehlerhafte Beobachtung kann neue Betrachtungsweisen hervorbringen: eine statistische Fluktuation in Messdaten am Large Hadron Collider vor zwei Jahren, die mit einer späteren Datennahme wieder verschwand, hat in der Zwischenzeit Hunderte von theoretischen Entwicklungen angeregt, die natürlich alle ein schlussendlich nicht existierendes Signal erklärten, von denen vielleicht ein paar wenige, leicht abgeändert, dann doch der Wirklichkeit näher kommen als bisherige Versuche, möglicherweise aber auch alle falsch sind.
Die Conference Hall am Ars Electronica Festival. Credit: Robert Bauernhansl
Ebenso verhält es sich mit inkompatiblen Theorien, die versuchen, die gleiche Beobachtung zu erklären (und wer sagt, dass Ockham’s Rasiermesser nicht gelegentlich eine Mordwaffe ist, die den Falschen umbringt?). Ob jetzt dunkle Materie (und auch da, ob als schwach wechselwirkendes Teilchen oder als massives Objekt?) oder aber eine veränderte Gravitation die richtige Erklärung ist, ist noch nicht geklärt. Die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Modellen, von denen höchstens eins stimmen kann, befruchtet jedoch sowohl Theorie wie Experiment oder Beobachtung, mit dem Ziel, eine Möglichkeit der Differentiation und der Überprüfung zu entwickeln.
Wie verteidigt man aber die Notwendigkeit, Fehler machen zu dürfen, wenn Fehler nicht automatisch produktiv sind, sondern eben auch zu einem Scheitern führen können? Nicht Fehler aus Dummheit oder Selbstüberschätzung, sondern weil der neue Weg, der noch nie begangen wurde, sich als Fehleinschätzung oder Sackgasse entpuppt? Solche Fehler nicht zuzulassen heißt aber, nur inkrementell zu arbeiten, das Bekannte zu optimieren, nicht aber eine grundsätzlich neue Entwicklung zu ermöglichen. Dass ein Schritt in eine neue Richtung ein Risiko darstellt, und zwar dass dieser Schritt entweder scheitern, oder sich als Fehler, als unfruchtbar, erweisen könnte, sollte kein Grund sein, so einen Schritt nicht gelegentlich zu wagen. Die Angst, einen Fehler zu begehen, ist keine gute Beraterin, wenn es darum geht, Neuland zu entdecken und zu erkunden; gleichzeitig ist nicht jede Expedition, die vorgibt, einen kürzeren Weg nach Indien zu finden, unterstützungswürdig – ein Argument für ein nicht übermäßig, aber dennoch vernünftig dotiertes Fehlerbudget.
Wir interessieren uns beim Festival vor allem für den Error als die Abweichung von der Norm. Welche dieser Abweichungen findet man in Ihrem Fachgebiet, der Antimaterie? Wie können sie trotzdem zum Erkenntnisgewinn führen?
Michael Doser: Die Norm heißt hier, im Bereich der Antimaterie, Symmetrie, gleiche Eigenschaften, und somit seit dem Urknall gleiche Häufigkeit von Materie und Antimaterie. So schaut es auch im Labor aus, und zwar so genau man messen kann – und man kann inzwischen extrem genau messen. Die Abweichung von der Norm hingegen ist maximal: eine vollkommene Abwesenheit von beim Urknall entstandener Antimaterie im sichtbaren Weltall. Die Erkenntnis dabei ist, dass die Norm falsch ist, dass es eine Symmetriebrechung geben muss, dass das Modell zutiefst einen Sprung haben muss, den wir aber trotz intensiven Bemühungen noch nicht gefunden haben. Und vielleicht wird am Ende dies der Erkenntnisgewinn: dass wir nicht in der Lage sein könnten, dieses Problem jemals zu lösen… eine Konfrontation mit den Grenzen unserer Erkenntnis.
Können Sie von einem Error in Ihrer Forschung oder wissenschaftlichen Laufbahn erzählen? Hypothesen, die nicht standgehalten haben, oder Theorien, die umgefallen sind?
Michael Doser: Das Paradebeispiel in der Teilchenphysik ist die Spiegelsymmetrie, die besagt, dass das, was wir im Spiegel sehen, genauso eine existierende Realität darstellt, wie die, die sich im Spiegel spiegelt. Ein Ball fällt von einem Turm; sein Spiegelbild fällt auf die genau gleiche Weise. Ein Kreisel dreht sich rechtsrum; das Spiegelbild dreht sich linksherum, aber einen linksdrehenden Kreisel kann man genau gleich beschreiben wie einen rechtsdrehenden; für beide gilt die gleiche Physik.
Und deshalb wurde auch sehr lange Zeit davon ausgegangen, dass alle physikalischen Prozesse spiegelsymmetrisch seien, bis dann 1956 – durch die Theoretiker Lee und Yang dazu animiert – die Physikerin Chien Shiung Wu in Kernzerfällen von Kobalt-60 feststellen musste, dass für diese die Spiegelsymmetrie vollkommen gebrochen ist: diese Kerne verhalten sich wie (rechtsdrehende) Kreisel, und senden bei ihrem Zerfall Elektronen in Richtung des Drehimpulses, nach oben, aus. Der Prozess im Spiegel, also (linksdrehende) Kreisel, die Elektronen ebenfalls nach oben aussenden würden, kommt überhaupt nicht vor: die Spiegelsymmetrie war entgegen den sehr starken Erwartungen der bekanntesten Physiker und Physikerinnen der Zeit gebrochen. T.D. Lee schrieb im März 1966: “The more we learn about symmetry operations — space inversion, time reversal and particle–anti-particle conjugation — the less we seem to understand them. At present, although still very little is known about the true nature of these discrete symmetries, we have, unfortunately, already reached the unhappy state of having lost most of our previous understanding.“, eine Einschätzung, die auch 50 Jahre später weitgehend stimmt.
Ich persönlich suche nach einer solchen Symmetriebrechung in einem anderen Bereich, der Schwerkraft, was allerdings im Widerspruch mit einer unglaublich soliden Theorie, der allgemeinen Relativitätstheorie, stehen würde. Eine gezielte Suche nach einem Fehler, den es wahrscheinlich gar nicht gibt, und mit einer Methode, die sich – im Vergleich zu anderen Vorgehensweisen – vielleicht als Fehler herausstellen wird.
Michael Doser am Ars Electronica Festival 2011. Credit: rubra
Wie schafft man es, ganz im Sinne von the Art of Imperfection, mit dem Wissen zu arbeiten, dass so viel unverstanden bleibt?
Michael Doser: Ich glaube, wer endgültige Antworten erwartet, wird in der Wissenschaft nicht glücklich werden. Im Gegenteil: man muss ein gewisses Vergnügen an der Impermanenz des Wissens haben, gepaart mit dem Antrieb, die Imperfektion eben doch, wenn nicht in den Griff zu bekommen, so zumindest einschränken zu wollen. Eine Abschätzung der Ungenauigkeit, mit der eine Antwort erhalten wird, ist untrennbar von der Bestimmung der Messgröße selbst; eine solche Quantifizierung der Ignoranz ist einerseits die Krönung des oft extremen Aufwandes den eine Messung benötigt, andererseits ein Ansporn, Technik und Wissenschaft weiter zu entwickeln, um diese Ignoranz noch besser auszuleuchten und zu reduzieren.
Glauben Sie an den Zufall?
Michael Doser: Natürlich! Auch, wenn man als Experimentalphysiker immer wieder versucht ist, von einer bösartigen, oder zumindest hinterlistigen, Natur auszugehen, wenn einem wieder einmal eine Stromversorgung mitten in der Messung aussteigt. “Natürlich” allein schon wegen der probabilistischen Natur von Abläufen auf der Quantenebene – deterministische Erklärungen sind schon lange und überzeugend ausgeschlossen worden, die möglichen Schlupflöcher werden einerseits immer weniger und andererseits immer exotischer. Aber auch in der Entdeckung oder Erforschung von Neuem hat der Zufall außerordentlich oft den Weg gewiesen; die Fähigkeit, diesen Zufall allerdings auch zu erkennen und auszunützen, scheint hingegen eine sehr gute Vorbereitung, eine tiefe Kenntnis des Gebiets, und eine intensive Auseinandersetzung mit dem zu lösenden Problem vorauszusetzen.
Gibt es überhaupt so etwas wie Perfektion im Universum?
Michael Doser: Das anthropische Prinzip betrachtet das Universum ja mehr oder weniger als die beste aller möglichen Welten, aus anthropozentrischer Sicht, natürlich – was in Anbetracht der vielen zurzeit anscheinend „‘zamg’schusterten“ (zusammengeschusterten, Anm.) ‘just-so’ Parameter wie Kopplungskonstanten oder Massen entweder den Gipfel unseres Verständnisses des Universums darstellt und darstellen wird (und somit unserem Intellekt ein deprimierendes Armutszeugnis ausstellt), oder aber das Ausmaß unserer Ignoranz beleuchtet (und somit ein fast ebenso deprimierendes Armutszeugnis unseres Intellekts darstellt, allerdings mit einem kleinen Hoffnungsschimmer).
Aber was heißt schon Perfektion? Ist eine absolut genau ausbalancierte Nadel, die nicht umfällt, perfekt? Ein ewig gleich laufendes Uhrwerk? Oder doch eher die unordentliche Realität, messy reality, mit ihren vielfältigen Möglichkeiten und potenziellen Entwicklungen? Eine Realität, die diese Ungewissheit erlaubt, wo Entwicklungen offen sind, und die durch ihre auf jeder Ebene eingebauten Verbindungsmöglichkeiten unendliche Kombinationen erlaubt, kommt meiner Vorstellung von Perfektion sehr nah.
Michael Doser ist Physiker am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf, und hat sich auf die Arbeit mit Antimaterie spezialisiert. Er beschäftigt sich derzeit mit der Bildung von Anti-Atomen, der Suche nach einer Erklärung der Materie-Antimaterie-Asymmetrie und der Messung der gravitativen Wechselwirkung zwischen Materie und Antimaterie. Er ist Sprecher des AEgIS-Experiments bei CERN, hält Vorlesungen über Antimaterie und schreibt regelmäßig für Physics Lettes B und die Review of Particle Properties.
Die Academy of Error findet am Sonntag, 9. September 2018, von 10:30 bis 12:30 in der Conference Hall der POSTCITY Linz statt. Michael Doser wird die Diskussion unter führenden ExpertInnen aus Wissenschaft und Forschung leiten.
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