Entdeckungsreise der Zeit: Himatsubushi

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Himatsubushi – das ist Japanisch und bedeutet ungefähr so viel wie Zeit totzuschlagen. Aber eben nicht ganz, denn eigentlich ist der Begriff sehr dehnbar: Von der negativsten bis hin zur positivsten Betrachtungsweise umfasst Himatsubushi ziemlich viel. In der gleichnamigen Ausstellung am Ars Electronica Festival, von 6. bis 10. September 2018 am Dach der POSTCITY Linz, dreht sich deshalb auch alles um die unterschiedlichsten Betrachtungsweisen von Hima, also Zeit. Ob am Himatsubushi Trail, der zum Schlendern über alte Paketrutschen und Förderbändern einlädt, im Himatsubushi Lab, wo die Zeit ganz genau unter die Lupe genommen wird, oder in der Himatsubushi Lounge, in der bei guter Aussicht entspannt werden darf, hier kann man sich Zeit nehmen: Zum Nachdenken, Philosophieren oder einfach nur Entspannen.

Festivalleiter Martin Honzik und Kuratorin Emiko Ogawa haben im Interview mit uns mehr über den Begriff Himatsubushi gesprochen – und bereits ein paar der Highlights verraten.

Lasst uns damit beginnen, über den Namen der Ausstellung zu sprechen, Himatsubushi….

Martin Honzik: Das Wort Himatsubushi muss unbedingt von Emiko erklärt werden, weil es ein Begriff ist, der tief aus der Kultur Japans stammt.

Emiko Ogawa: Die direkte Bedeutung von Himatsubushi ist es, Zeit totzuschlagen. Im Japanischen hat es aber nicht diese starke Bedeutung, vielmehr ist es sehr spielerisch und charmant. Hima kann sehr viel auf einmal heißen, es kann verschwendete Zeit sein oder Zeit, die man plötzlich geschenkt bekommt. Hima bedeutet auch freie Zeit. Es sind also vom negativen bis zum positiven alle Aspekte in diesem Wort Hima vereint. Tsubushi ist das Zerquetschen. Es ist eine Art des Tötens, aber nicht mit Kraft, sondern eher so, als würde man eine Mücke zerdrücken. Das ist der Grund, warum Himatsubushi eigentlich nicht bedeutet, Zeit wirklich „totzuschlagen“. Es geht vielmehr darum, die eigene Imagination zu verwenden, um Zeit zu verbringen. Wir fanden, dass diese Art der Imperfektion sehr gut zum diesjährigen Festivalthema, „Error – the Art of Imperfection“ passt. Wir glauben außerdem, dass unsere Leben in Zukunft sehr strukturiert und effizient sein werden, also wird diese ineffiziente Zeit, die Zeit, in der wir nichts tun, die wir vielleicht sogar verschwenden, ein sehr wichtiger Teil unserer Zeit im Leben für den Menschen sein. Wir sehen eine Metapher in Himatsubushi.

telekniting. Credit: Dmitry Morozov / ::vtol::

Es ist also eine Gegenposition zum momentanen Trend der Optimierung und Rationalisierung.

Martin Honzik: Ja, ist es. In einer Zeit, wo es dem Individuum möglich ist, die eigene Persönlichkeit zu multiplizieren, in virtuelle Räume zu springen und Dinge unter anderen Persönlichkeiten und Namen zu machen, ist es eine sehr logische Konsequenz, dass Identifikation ein immer wichtigerer Aspekt wird. Identifikation im Sinne von wissen, wer man ist oder woher man kommt. Das ist der Grund, warum Himatsubushi nicht nur ein Statement für die Zeit ist, in der wir leben, sondern auch ein Statement für den Mikrokosmos, den wir mit dem Ars Electronica Festival schaffen. In seiner materialisierten Form wird Himatsubushi ein Ort sein, der still ist, komplett kontrovers zu allem, für das ein Festival normalerweise steht: voller Leben, voller Patina, voller sozialem Austausch. Mit Himatsubushi bieten wird einen neuen Programmpunkt an, in dem Menschen Zeit inmitten des energiegeladenen Festivals finden können, um einen Schritt zurück zu machen und sich selbst zu finden. Es ist eine Übung, die wir anbieten, und die vielen Kunstwerke, die von unseren Partnern und uns kuratiert wurden, unterstreichen und reizen diese Kommunikation und Dialog, den wir starten wollen.

Eine Sache, die in Bezug auf das Festivalthema immer wieder auftaucht, ist, dass wir mit unserem Traum der Digitalen Revolution womöglich gescheitert sind. Vielleicht hat sie uns überholt. Könnte Himatsubushi eine Art sein, auf die wir den Traum wieder wahr werden lassen können?

Martin Honzik: Das ist eine große Frage! Aber ich stimme dem Statement nicht zu. Es sieht nur so aus, als ob unser Traum gescheitert wäre, aber das ist keine Tatsache. Dinge wie Himatsubushi sind ein Zeichen dafür, dass alles, was mit der Digitalisierung einhergeht, auch eine starke Beziehung zu dem haben muss, woher wir kommen, zu unserer Geschichte, unserer Identifikation, der Bedeutung unserer Kultur. Das ist der Ausgangspunkt. Sobald du nicht weißt, wo alles begann, hast du keine Werkzeuge oder Instrumente mehr in der Hand, um zu evaluieren, wo du gerade stehst. Je mehr wir verstehen, dass neue Technologien und welche anderen Innovation auch immer diese starke Beziehung zur Tradition brauchen, desto mehr brauchen wir sie. Oder zumindest müssen wir uns diese Frage immer stellen, weil wir dazu neigen, zu vergessen, wer wir sind.

Was ich dem Begriff Himatsubushi noch gerne hinzufügen würde ist, dass diese Idee nicht alleine aus der japanischen Kultur stammt. Als wir dieses Projekt entwickelten, machten wir die Erfahrung, dass alle sofort eine Idee davon haben, was Himatsubushi ist, oder zumindest ruft es einen langen, tiefen Denkprozess in den eigenen Erinnerungen hervor. Es ist ein sehr fruchtbarer und inspirierender Prozess. Himatsubushi scheint sehr tief in unserer DNA vergraben zu sein, also haben wir uns dafür entschieden, die Definition von Himatsubushi nicht festzunageln, sondern sie sehr offen zu lassen. Himatsubushi ist ein Rahmen, in dem sich Menschen selbst finden können, es ist eine endlose Liste von wunderschönen Bildern.

Break Time Experience. Credit: Yihyun Lim, Kacper Pietrzykowski, Andrea Piccolo, Patrik Dolo, Stella Kim, Minh Dinh

Himatsubushi geht an die menschliche Essenz heran.

Emiko Ogawa: Wir wollten gemeinsam mit Festivalbesuchern und –Besucherinnen interpretieren, was Himatsubushi für den Menschen sein kann. Es geht darum, wer der Mensch eigentlich ist und was er in diesem Zeitalter braucht.

Martin Honzik: Das geht natürlich mit der Diskussion einher, die wir jetzt sehr provokativ in den Raum stellen, dass Maschinen langsam Kreaturen werden. Sie werden ihre eigene Spezies und wir, als Menschen, müssen eine neue Art von Empathie entwickeln, eine soziale Intelligenz, und umgekehrt. Wir spielen bereits mit dieser Idee, auf ironische oder provokative Art. Aber ich denke, es kommt von einer größeren Überlegung, weil wir immer dieselbe Frage stellen, egal zu welchem Zeitpunkt. Letztes Jahr, als wir das Festivalthema „AI – Das Andere Ich“ hatten, kamen wir auch an den Punkt, an dem wir sagen mussten: Bitte, lasst uns nicht über Künstliche Intelligenz diskutieren, bevor wir nicht diese kleine Frage beantwortet haben, wer wir Menschen eigentlich sind.

Himatsubushi wird am Festival in drei Teile geteilt sein. Könnt ihr mir beschreiben, was uns erwartet?

Emiko Ogawa: Die Himatsubushi Orte sind durch einen Pfad, den Himatsubushi Trail, miteinander verbunden. Man kann hier spazieren, Kunstwerke finden und genießen, was man gerade findet. Der Himatsubushi Trail führt zum Himatsubushi Lab, einer Gruppenausstellung von Künstlern, Künstlerinnen, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die mit dem Begriff der Zeit arbeiten. Wir haben fünf Labs und Aussteller, Ausstellerinnen eingeladen, die sich mit der individuellen Sicht auf die Zeit beschäftigen. Es kommt auch ein Team von Hakuhodo, das sich mit Zeit befasst. Im Lab geht es wirklich um Hima, wie Menschen über Hima im Jetzt oder Hima in der Zukunft nachdenken. Wie kann es für den Menschen wichtig sein? Wie können wir es fühlen, wie nicht? Es gibt fünf Projekte, fünf Prototypen, die bestimmte Ideen von Zeit vermitteln. Sie versuchen, Zeit als Kunstwerk oder Erfahrung darzustellen. Der dritte Teil der Ausstellung ist das Sonnendeck am Dach der POSTCITY Linz. Die Terrasse im Außenbereich ist mit einer Holzterrasse innen verbunden, was architektonisch sehr interessant ist. Besucher und Besucherinnen können sich hier entspannen – oder aktivieren.

Martin Honzik: Oder aktivieren, indem sie entspannen!

Emiko Ogawa: Zwischen den beiden schwanken, immer in Bewegung bleiben. Wir finden, dass diese Dazwischen-Situation sehr wichtig für Menschen ist. Wir wollen nicht nur die Möglichkeit für eine Lounge bieten, sondern mehr.

Das Dach der POSTCITY Linz. Credit: Vanessa Graf

Was sind einige Highlights, die wir bei Himatsubushi antreffen werden?

Martin Honzik: Schon alleine diese provokative Möglichkeit zu schaffen, das Festival zu verlassen und einen Ort zu finden, an dem man kontemplative Impulse schaffen kann, ist ein großes Highlight. Wir möchten damit ein Bedürfnis stillen, wir möchten diese Möglichkeit anbieten, aber wir müssen auch aufpassen, dass wir nicht das Ziel der Übung aus den Augen verlieren. Wir möchten keine Menschenmassen dort oben, sonst wird die Himatsubushi Idee der Selbstfindung unmöglich. Die anderen Stars sind natürlich die umhergehenden Leute, die die Stille und sich selbst erleben werden.

Es gibt außerdem eine sehr interessante Collage an Design Thinking Projekten, die von unseren internationalen Partnern mitgebracht werden und die sich der Zeit auf eine sehr philosophische Art und Weise widmen. Es ist eine sehr kompakte Situation, bei der man Aspekte der Zeit in jeder Ecke findet. Es wird ein wunderschöner Ort sein, um Zeit und unsere Beziehung dazu zu diskutieren.

Ein interessantes Projekt ist „Mother’s Hand Taste (Son-mat)“ von Jiwon Woo. Es geht um den Mythos, dass Essen, dass von unseren Müttern zubereitet wurde, einen spezifischen, besseren Geschmack hat. Es ist ein sehr gutes Beispiel von Himatsubushi. Eine der am tiefsten eingeprägten Erinnerungen im Menschen ist der Geruch der eigenen Mutter und alles, was damit einhergeht. Essen schmeckt einfach besser, wenn sie es zubereitet hat, das scheint uns sehr klar und objektiv. Dabei ist es natürlich total subjektiv! Dieses Projekt verbindet wissenschaftliche Methoden, um dieser Realität, die hinter dem subjektiven Gefühl steckt, näher zu kommen. Die Künstlerin legt Fakten auf den Tisch und untersucht Bakterien auf den Händen von Müttern. Nehmen sie wirklich Einfluss auf den Geschmack von Essen? Es wird eine Reiskoch-Zeremonie am Dach geben, bei der Makgeollie gekocht wird, ein weit verbreitetes, fermentiertes Getränk in Korea. Wenn man etwas fermentiert oder kocht, kann man keine Zeit totschlagen, also ist es ein wunderschönes Beispiel, auch ein sehr ironisches, das mit der Beziehung von uns zu unserem Ursprung arbeitet.

Ein weiteres Projekt stammt von Hideaki Ogawa und Kyoko Kunoh, „Flower of Time“. Man könnte sagen, dass es ein zentrales Werk in der Himatsubushi Ausstellung ist, man sieht es direkt am Sonnendeck am Dach. Es ist ein sehr ironischer und poetischer Einstieg in die Idee des Himatsubushi Trails, weil es mit der Idee von Zeit und den unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Zeit spielt. Zeit wird sehr unterschiedlich wahrgenommen, manchmal fühlt sie sich langsamer an, manchmal schneller. Diese Arbeit handelt davon.

Yoichi Ochiai wird ein ganzes Lab mit zu Himatsubushi bringen. Er ist ein regelmäßiger Gast bei Ars Electronica, seine Projekte gehören wirklich immer zu den absoluten Festival-Highlights, und wir können uns wirklich schon darauf freuen, was er uns seine Gruppe von Assistenten und Helferinnen für Himatsubushi geplant haben.

Balance Scale for Lightness. Credit: Yasuhiro Suzuki.

Emiko Ogawa: Yasuhiro Suzuki sollte auch unbedingt erwähnt sein! Dieses Jahr haben wir es geschafft, vier seiner Projekte zum Festival zu bringen. Seine Arbeiten sind sehr philosophisch, sie fragen nach der Zeit selbst. Eines der Projekte ist zum Beispiel „Balance Scale of Lightness“. Es ist eine Waage, die auf dem Kopf steht und wo Luftblasen vom Boden aufsteigen. Die Waage versucht also, sich mit Leichtigkeit auszubalancieren. Man kann davorstehen und sich fragen: Was ist Leichtigkeit? Was ist Schwere? Es ist eines dieser Projekte, vor denen man den ganzen Tag lang stehen könnte. Ein weiteres Werk nennt sich „Nature’s Time Metronome“, ein weiteres Beispiel seiner typischen Herangehensweise: Er nimmt sehr normale, alltägliche Aspekte wie Zeit, die uns ständig begegnen, und behandelt sie unter einem künstlerischen Gesichtspunkt, mit einem Dreh. Am Metronom sieht man verschiedene Levels der Zeit: eine Minute, 10 Minuten, ein Tag, ein Jahr, 100 Jahre, bis zu 10.000 Jahren. Er sammelte die Zeitrahmen der Natur!

Wir zeigen auch „One Minute Sculptures“ von Erwin Wurm. Besucher und Besucherinnen können selbst zur Statue werden, für eine Minute – sie entscheiden selbst, wann sie denken, dass eine Minute vergangen ist. Es ist eine Reflektion über Aktion, Zeit und Dauer, die die subjektive Natur von Zeit aufzeigt. Der Himatsubushi Trail und die Ausstellung laden die Menschen wirklich dazu ein, mit auf diese Entdeckungsreise der Zeit zu kommen.

Emiko Ogawa ist sowohl Künstlerin als auch Kuratorin. Sie arbeitet im Rahmen der Ars Electronica beim Prix Ars Electronica, dem weltweit traditionsreichsten Medienkunst Wettbewerb. Sie arbeitete im Kontext der Neueröffnung des Ars Electronica Centers 2009 mit ihren Zeichnungen für das Auszeichnungs- und Wegweisersystem, und hat seitdem bei der Planung von Ausstellungen für das Ars Electronica Center, dem Ars Electronica Festival und von Ars Electronica Export mitgewirkt. Emiko kreiert als Creative Catalyst Installationen und Workshops und lädt dabei ihr Publikum zur Mitwirkung ein. Als Künstlerin obliegt ihr die kreative Leitung, die grafische Gestaltung und das Interaktionsdesign der Media Artist Gruppe h.o(hdoto). Mit der Absicht das `Unsichtbare begreifbar zu machen´, betreibt die Gruppe Projekte, die die Kommunikation fördern und Offenbarungen über die Gesellschaft machen.

Martin Honzik Festival Leiter Ars Electronica

Martin Honzik ist Künstler und Leiter des Ars Electronica Festivals, Prix Ars Electronica und Exhibitions. Er studierte visuelles experimentelles Design an der Kunstuniversität Linz (Abschluss 2001) und absolvierte den Masterstudiengang Kultur- und Medienmanagement an der Universität Linz und am ICCM Salzburg (Abschluss 2003). Neben seiner Tätigkeit als freier Künstler in verschiedenen Kunstprojekten war er Mitarbeiter des Ars Electronica Futurelabs, wo er bis 2005 unter anderem Ausstellungsdesign, Kunst in der Architektur, Interfacedesign, Eventdesign und Projektmanagement betreute. Seit 2006 ist Martin Honzik Direktor des Ars Electronica Festivals und des Prix Ars Electronica und verantwortlich für die Ausstellungen im Ars Electronica Center sowie für die internationalen Ausstellungsprojekte der Ars Electronica.

Himatsubushi ist am Ars Electronica Festival von 6. bis 10. September 2018 in der POSTCITY Linz zu den Öffnungszeiten der POSTCITY zu sehen. Details erfahren Sie auf unserer Webseite.

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