Data to the People: Ernst Hafen

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„Data to the People – The Path Away from Digital Feudalism” lautet der Titel des Vortrags des Biologen Ernst Hafen, der im Block “Fakes, Responsibilities and Strategies“ der Themenkonferenz am Freitag, 7. September 2018, am Ars Electronica Festival sprechen wird. Warum wir uns in einer neuen, digitalen Art von Feudalherrschaft befinden, weshalb Datengenossenschaften notwendig sind und wie unsere Daten dem Fortschritt dienen können, hat Ernst Hafen im Interview verraten.

https://www.youtube.com/watch?v=RnfgnVqDgC0

Sie sprechen am Freitag beim Themensymposium im Block „Fakes, Responsibilities and Strategies“. Können Sie schon einen Einblick in den Vortrag geben?

Ernst Hafen: Ich bin Biologe und interessiere mich seit 30 Jahren für grundlegende Fragen der Biologie, die ich anhand von kleinen Fruchtfliegen untersuche. Fruchtfliegen sind gute Modellsysteme für viele grundlegende biologische Probleme. Schon beim letzten gemeinsamen Vorläufer zwischen Insekten und Menschen waren diese Prozesse vorhanden. Irgendwann habe ich jedoch realisiert, dass, wenn wir den Menschen wirklich verstehen wollen, wenn wir wissen wollen, weshalb Sie und ich unterschiedlich auf Medikamente reagieren, dann sind Fliegen einfach zu weit weg. Dann müssen wir Menschen fragen.

Menschen haben den Vorteil, dass sie sprechen können – und momentan sehr viele Daten erfassen, zum Beispiel mit dem Handy. Das fand ich sehr spannend! Die Firma 23andMe, 23 steht hier für die 23 Chromosomenpaare, die wir in unseren Zellen haben, geht zum Beispiel davon aus, dass wir das Genom jetzt zwar lesen können, aber keine Ahnung haben, was es uns sagt. Mit der Information von vielen Leuten könnten wir aber besser verstehen, wie Krankheiten oder Reaktionen auf Medikamente entstehen. Die Firma 23andMe offeriert also Genomanalysen in Kits und stellt den Menschen Fragen. Mit den Antworten wird man sozusagen zum Citizen Scientist, wir, mit unseren Daten, tragen also zur medizinischen Forschung bei. Ich war begeistert und habe damals, vor ungefähr 10 Jahren, meiner Familie zu Weihnachten ihre Genomanalyse geschenkt. Ich war fasziniert von diesem Ansatz, habe dann hunderte solcher Kits gekauft und hier am Institut an Biologen und Biologinnen verkauft. Wir haben gemeinsam mit einer Ethikerin Studien dazu durchgeführt, wie man mit diesen Informationen der Genomanalyse umgeht. Es existiert ja dieses Schreckensbild, dass eine Genomanalyse unheimlich viel über einen Menschen verrät – dabei wüsste ich sehr viel mehr über Sie, wenn ich stattdessen Ihr Facebook-Profil ansehen würde.

Damals begann ich also, mich mit Daten und dem Citizen Science Aspekt auseinanderzusetzen. Es wurde mir klar, dass wir mit jeder App, mit jedem Sozialem Netzwerk oder eben mit den Genom-Kits unsere Daten eigentlich weggeben – aber dass diese in Wirklichkeit ein großer Schatz sind! Was wären also Möglichkeiten, diese Daten besser zu nützen? So entstand der Gedanke einer Daten-Genossenschaft.

Was kann man darunter verstehen?

Ernst Hafen: Eine Genossenschaft gehört den Mitgliedern, jedes Mitglied hat eine Stimme. Das passt sehr gut zu der Tatsache, dass Sie und ich und jede Frau und jeder Mann auf dieser Welt uns in unseren Genom-Daten wahnsinnig ähneln. Sie haben Millionen von Buchstaben in Ihrem Genom, das habe ich auch, wir unterscheiden uns in einem von tausend dieser Buchstaben. Das ist alles. Abgesehen natürlich vom Geschlecht, Sie haben zwei X Chromosomen und ich ein X und ein Y, aber abgesehen von diesen kleinen Unterschieden sind wir uns sehr ähnlich. Wenn im Buch Krieg und Frieden jeder tausendste Buchstabe ein Fehler wäre, würde das den Sinn des Buches nicht verändern. Aber in biologischer Sprache sind diese kleinen Unterschiede wichtig! Wir wollen herausfinden, wie diese kleinen Unterschiede dazu führen können, dass wir uns als Menschen unterscheiden oder verschieden auf Medikamente reagieren.

Die Genossenschaft widerspiegelt eine gleichmäßige Verteilung der Daten. Im Unterschied zu Geld sind persönliche Daten sehr ähnlich verteilt – Anzahl der Schritte, Anzahl der Herzschläge, die Anzahl unserer Atemstöße, die Menge von Essen, die wir zu uns nehmen…Nach dem Genossenschaftsprinzip gehören diese Werte den Bürgern und Bürgerinnen, nicht Firmen wie 23andMe oder Google.

Daten sind vielleicht gleichmäßig verteilt, trotzdem profitieren wieder nur einige wenige von ihnen. Ist das nicht Beweis für den zunehmenden Verlust der eigenen Datenhoheit?

Ernst Hafen: Genau, aber wir nehmen das als gegeben hin. Seit zehn Jahren verwenden wir Smartphones und gratis Apps, weil es so einfach ist und weil wir mit unseren Daten bezahlen. Daten haben allerdings einen weiteren, sehr interessanten Aspekt, den Geld nicht hat: Daten sind kopierbar. Seit Mai gibt es in Europa und in der Schweiz die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), und diese DSGVO beinhält den Artikel 20 zur Datenportabilität. Wenn Sie Ihren Mobilfunkprovider wechseln, können Sie Ihre Nummer mitnehmen, das ist die Portabilität. Datenportabilität in der Datenschutzgrundverordnung hat ursprünglich das gleiche Ziel. Sie haben das Recht als Bürger oder Bürgerin, zu jedem Krankenhaus zu gehen, zu Ihrem Provider zu gehen, zu Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin zu gehen, und eine digitale Kopie Ihrer Daten anfordern. Wenn das Ihre Mobilnummer ist, können Sie damit nicht viel anfangen, aber mit der Kopie Ihrer persönlichen Daten haben Sie eine unglaubliche neue Macht! Sie als Individuum sind die einzige Person, die berechtigt ist und mit der Datenportabilität auch die Möglichkeit hat, Ihre Daten zu sammeln: Genomdaten, medizinische Daten, Schritte, die Sie gelaufen sind, was Sie heute im Supermarkt gekauft haben, und so weiter. Es ist diese Aggregation, zu der weder Facebook noch Google die Macht haben. Wenn Sie also jetzt Ihr Recht zur Datenportabilität wahrnehmen, und alle anderen EU-Bürger und -Bürgerinnen auch, und dafür ein entsprechendes Konto haben, das genossenschaftlich organisiert ist und auf dem Sie Ihre Daten speichern können – und wenn Sie entscheiden, welche Daten Sie wem zur Verfügung stellen wollen – dann bauen wir eine parallele Infrastruktur unter der Kontrolle der Bürger und Bürgerinnen auf. Das führt zu einer Demokratisierung der persönlichen Datenökonomie.

Das ist sehr theoretisch.

Ernst Hafen: Das ist so, aber wir reden auf der einen Seite davon, dass alle Angst haben, aber auf der anderen Seite besitzen fast alle ein Smartphone. Also müssen wir diesen abstrakten Gedanken so umsetzen, dass die Leute das auch wollen. Dass sie einen Nutzen aus ihren Daten ziehen. Ich werde in meinem Vortrag Beispiele zeigen, wie Menschen schon jetzt dazu bereit sind, aus altruistischen Gründen für die Forschung Daten zu spenden. Aber das kann noch sehr viel weiter gehen, Sie können auch selbst Ideen haben, was Sie mit Ihren Daten machen.

Was muss passieren, damit wir nicht Gefahr laufen, mit der Datenmenge überfordert zu sein?

Ernst Hafen: Es ist ein bisschen wie im Mittelalter, als die Feudalherren keine Löhne bezahlten, sondern für Schutz und ein Dach über dem Kopf sorgten. Seitdem haben wir gelernt, dass es besser ist, wenn wir individuelle Bankkonten haben und unser Geld selbst ausgeben. Nun sind Daten wesentlich komplizierter als Euros oder Schweizer Franken. Es wird also eine ganz neue Dienstleistungsindustrie geben, die uns hilft, mit Daten umzugehen, genauso wie es beispielsweise Finanzberater oder -Beraterinnen gibt. Es wird neue Berufe wie Data Advisors geben, Leute, die uns beraten, wo wir unsere Daten anlegen sollen. Heute sind wir noch in einer Feudalherrschaft, und zwar heißten die Feudalherren Google und Amazon und Facebook. Cambridge Analytica hat es gezeigt, das zieht sich bis zur Einflussnahme bei politischen Wahlen. Nur wir wissen überhaupt nicht, welche Daten von uns erfasst werden. Mit der Kopie dieser Daten haben wir eine Übersicht über unseren digitalen Fußabdruck. Wahrscheinlich werden wir in Zukunft für diese Datendienstleistung bezahlen, so, wie wir auch für einen Kaffee im Restaurant bezahlen.

Sie haben es bereits erwähnt, es herrscht eine gewisse Angst, dass Firmen, Versicherungen oder Banken uns aufgrund unserer Daten anders behandeln oder einstufen. Wie kann man dem begegnen?

Ernst Hafen: Das ist eine sehr berechtigte Frage. Wenn Sie in Ihrer Kreditkartenabrechnung ein XXL Kleid haben, muss ich nicht Ihr Genom kennen, um zu wissen, dass Sie übergewichtig sind. Auch Facebook Likes liefern schon sehr viele Daten, aufgrund derer man profilieren kann. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft und als Demokratie, festzulegen, wo das hingehen soll. In der Schweiz gibt es zum Beispiel eine Grundversicherung, alle werden zum gleichen Tarif versichtert. Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung, eine politische Entscheidung. In vielen anderen Ländern ist es allerdings nicht so. Das ist eine gesellschaftspolitische Diskussion, die wir führen müssen und die wir jetzt schon führen.

Ich glaube, auf der anderen Seite können wir aufgrund von Daten, wie zum Beispiel medizinische Daten, die wir für die Forschung teilen, sehr viel früher Fortschritte in der personalisierten Medizin machen und merken, warum Menschen auf Medikamente wie reagieren oder wann Krankheiten im Anzug sind. Unser Gesundheitssystem ist in Wahrheit ein Krankheitssystem, das nur davon profitiert, wenn Menschen krank sind. Das Geld, das für Prävention ausgegeben wird, ist ein Bruchteil dessen, was für das gesamte Krankheitswesen verwendet wird. Über die individuellen Daten, die Sie etwa durch Sensoren im Smartphone immer genauer erfassen können, kann sich das ändern. Ich sage, in fünf Jahren ist das Smartphone ein medizinisches Gerät, mit dem Sie auch telefonieren können! Wir werden natürlich trotzdem Spitäler brauchen, aber heute sind die Entwicklungskosten von Medikamenten sehr hoch und sie funktionieren vielleicht an 50 Prozent der Personen. Wir wissen nicht, warum. Wenn man aber zum Beispiel eine App macht, wie wir gerade mit der orthopädischen Universitätsklinik in Zürich, mit der man Patienten und Patientinnen regelmäßig abfragen kann, existieren plötzlich Reports. Wir können also sehen, wo die größten Komplikationen auftreten oder welche Prothesen am besten funktionieren. Das geht nur über uns – wenn wir mitmachen wollen.

Das ist eine sehr optimistische Einstellung.

Ernst Hafen: Klar. Es lohnt sich gar nicht, etwas anderes als Optimist zu sein! Wir haben keinen Beitrag mehr zu leisten, alles wird delegiert. Das muss nicht so sein, weil wir eigentlich viel zur wissenschaftlichen Forschung beitragen können. Das muss nicht nur medizinisch sein, sehen Sie sich zum Beispiel Wikipedia an. Niemand hätte gedacht, dass es so etwas geben würde. Und da ging es nur darum, Beiträge zu schreiben – stellen Sie sich vor, was man machen kann, wenn man Krankheiten bekämpft.

Ernst Hafen promovierte 1983 am Biozentrum der Universität Basel. Von 1984 bis 1986 arbeitete er als Postdoc an der University of California in Berkeley, bevor er 1987 als Assistenzprofessor an die Universität Zürich wechselte. Er wurde 1997 zum ordentlichen Professor befördert. Von 2005 bis 2006 war er Präsident der ETH Zürich. Seit 2005 hat er eine Professur am Institut für Molekulare Systembiologie der ETH Zürich inne. Ernst Hafen hat auf dem Gebiet der Entwicklungsbiologie und Zellbiologie mehrere wegweisende Beiträge geleistet, unter anderem zur Charakterisierung von Genen und den entsprechenden Signalwegen, die bei der Zellschicksals-Spezifikation und der Kontrolle von Zell- und Körpergröße eine Rolle spielen. Er erhielt mehrere Preise und war in den Redaktionen verschiedener Zeitschriften und wissenschaftlicher Komitees tätig. Er ist Mitbegründer von evalueSCIENCE, einem privaten Beratungsunternehmen, das im Rahmen eines standardisierten Peer-Review-Prozesses Bewertungen und Second Opinions zu F&E-Projekten für Life-Science-Unternehmen, akademische Institutionen und Investoren anbietet.

Ernst Hafen spricht bei der Themenkonferenz am Freitag, 7. September 2018, zwischen 14:00 und 15:20 in der Conference Hall der POSTCITY Linz. Mehr erfahren Sie auf unserer Programmwebseite.

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