Auf der Suche nach der Wahrheit zwischen polarisierten Sphären

, credit: Andy Gracie

Andy Gracie wurde ausgewählt, ein Projekt während der Randa Art|Science Residency zu entwickeln, die vom Institut Ramon Llull organisiert und von Ars Electronica und dem Barcelona Institute of Science and Technology (BIST) in Zusammenarbeit mit dem neuen Hub für Kunst, Wissenschaft und Technologie in Barcelona, Hac Te, und der NewArtFoundation veranstaltet wird. Dieses Werk – genannt Massive Binaries – stellt einen wichtigen Beitrag für den Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft dar und verdeutlicht und behandelt einige Herausforderungen unserer Zeit. Im Gespräch verrät Andy Gracie mehr über seine Ideen und den Entstehungsprozess von Massive Binaries.

Die Vision hinter Andy Gracies Arbeit

Die Arbeit von Andy Gracie ist schwer zu definieren. Jedes Projekt verbindet verschiedene Narrative – das Beharren auf die Einordnung in eine Box würde andere automatisch ausschließen. Laut Gracie arbeiten Künstler*innen auf der Grundlage von Obsessionen – seine derzeitige Obsession: die Zerbrechlichkeit und Unbeständigkeit der menschlichen Existenz im Vergleich zu den unvorstellbaren Ausmaßen des Universums. „Ich versuche, das zu beschreiben, indem ich Exkursionen in all diese anderen Bereiche mache – in die Ozeanographie, die Kosmologie oder die Biosemiotik“, erklärt der Künstler.

credit: Andy Gracie

Dieser Ansatz stellt eine enge Verbindung zwischen seiner künstlerischen Arbeit und der Wissenschaft her. Sowohl Künstler*innen als auch Wissenschaftler*innen haben die gleiche Grundobsession: Sie versuchen, die Welt um sich herum zu verstehen.

“Ich bin sehr daran interessiert, was der Prozess ist, durch den wir das Universum verstehen und was er für uns als Spezies bedeutet. Warum haben so viele von uns diesen Drang zu verstehen, wie der Kosmos funktioniert?”

Andy Gracie

Folglich ist die Wissenschaft für Gracie nicht nur eine Ressource, sondern er betont die Interaktion mit den Forscher*innen, die in seiner Arbeit tatsächlich präsent sein sollen. „Der Großteil der Narrative, die wir hören, stammt von den Wissenschaftler*innen – ihre Anwesenheit ist wichtig, ihre Anwesenheit ist in der Arbeit spürbar. Das ist etwas, was ich immer versuche zu erreichen, vor allem, wenn die Arbeit ihr Narrativ entwickelt, ist es mir wichtig, dass sie vertreten sind“, führt er aus.

Massive Binaries – die Idee

Das Werk von Andy Gracie, das im Rahmen des Ars Electronica Festival 2023 ausgestellt wird – Massive Binaries – ist Teil einer größeren Serie, die er The Haunting nennt und die durch zwei Sphären symbolisiert wird. Gracie erklärt, dass er in seiner Kindheit auf zwei massive, uralte Sphären aufmerksam wurde, die mit einem sehr feinen Faden verbunden waren und sich ganz langsam auseinander bewegten. Wenn der Faden reißen würde, wäre das die Apokalypse. Seine Arbeit fängt Ideen darüber ein, wie Dinge enden und wie Dinge, die wir für dauerhaft halten, in Wirklichkeit unbeständig sind – so wie die Erde selbst nur für eine sehr kurze Zeit in der Skala des Universums existiert.

Massive Binaries versucht insbesondere, zwei verschiedene Narrative dieser beiden Sphären darzustellen. Die erste ist ein Paar von Neutronensternen. Manchmal binden sie sich aneinander, umkreisen sich und verschmelzen schließlich, wobei riesige Mengen an Energie freigesetzt werden – ein Phänomen, das nun durch Gravitationswellen untersucht werden kann. Für diesen ersten Teil seines Projekts arbeitete Andy Gracie mit Wissenschaftler*innen des IFAE in Barcelona zusammen, die Gravitationswellen und Neutronensterne erforschen, um einen Narrativ über die Prozesse zu entwickeln und darüber, was wir daraus lernen können.

Massive Binaries, credit: Andy Gracie

Das zweite Paar massiver Binärsysteme ist die heutige Gesellschaft, die immer stärker polarisiert zu sein scheint: links gegen rechts, Wissenschaftsgläubige gegen Wissenschaftsverweigerer. „Wir haben wieder zwei Systeme, die miteinander verbunden sind und sich gegenseitig umkreisen, und der Kontakt zwischen ihnen erzeugt alle möglichen seltsamen Informationen“, erklärt Andy Gracie.

Das, was die beiden Ideen von Andy Gracie verbindet, ist die künstliche Intelligenz, die – so der Künstler – je nach Anwendung entweder ein Werkzeug zur Steigerung von Bedeutung oder zur Zerstörung von Bedeutung sein kann: Bei der Erforschung von Gravitationswellen kann KI ein Werkzeug sein, um Bedeutung oder das, was wir für die Wahrheit halten, zu extrahieren. Im Gegensatz dazu kann der Einsatz von KI in der heutigen Gesellschaft die Wahrheit noch schwerer fassbar machen, da gegensätzliche Ideologien KI zur Bereicherung ihrer Positionen und zum Schaffen falscher Wahrheiten einsetzen können.

“Das Projekt befasst sich damit, wie massive Systeme, die miteinander interagieren, seltsame Phänomene hervorbringen und verschiedene Arten neuer Informationen generieren können, und wie die künstliche Intelligenz dabei eine Art schizophrene Rolle spielt.”

Andy Gracie

Massive Binaries – die Ausführung

Die Idee der beiden massiven Binärsysteme wird in Form einer Installation dargestellt, die aus einer mechanischen Skulptur als zentrale Struktur besteht, deren Hauptzweck darin besteht, Schatten der umkreisenden Massen zu erzeugen. Es wird zwei Videobildschirme geben: Einer wird die Erzählung der Neutronensternseite des Werks mit Texten entwickeln, die auf der Grundlage von Interviews mit Wissenschaftler*innen und Gracies eigenen Ideen verfasst wurden, und der zweite wird zwei Figuren zeigen, die als künstliche Intelligenzen generiert wurden. “ Eine davon ist pro Wissenschaft, pro Rationalität, pro Toleranz und pro Diversität, was man wahrscheinlich als linksorientierte Person betrachten würde. Die andere Figur ist genau das Gegenteil: sehr wissenschaftsfeindlich, traditionell und konservativ, was man gemeinhin eher als rechtsorientiert bezeichnen würde“, so Andy Gracie. Das Ergebnis ist eine Auseinandersetzung, in der beide Seiten ihre Positionen gegeneinander verteidigen und die sich in dieser Umgebung mit den von den Neutronensternen erzeugten Schatten entfaltet.

Massive Binaries, credit: Andy Gracie

Massive Binaries entstand im Rahmen der Randa Art|Science Residency – eine ganz andere Arbeitsweise, als Gracie es gewohnt ist, wie der Künstler zugibt. Aber nachdem einige Hindernisse überwunden wurden, ist Gracie nun sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

“Es hat mich herausgefordert, in einem anderen Tempo und ohne das gewohnte Studio zu arbeiten. Es war sehr interessant, mich selbst zu beobachten und zu sehen, wie ich mich an diese Situation angepasst habe und wie ich mich der Herausforderung gestellt habe, eine vielleicht etwas andere Art von Arbeit zu machen, als ich es normalerweise tun würde.”

Andy Gracie

Wem gehört die Wahrheit?

Wie bereits erwähnt, wurde Massive Binaries im Rahmen einer Residency kreiert. Als Gracie seine Ideen für dieses Projekt vorschlug, gab es also bereits einige Vorstellungen über das breitere Ökosystem, in das es sich einfügt. Bestimmte Aspekte seiner Arbeit – wie die Idee, dass KI die Wahrheit verstärken oder verkomplizieren kann – haben sich daraus ergeben und stellen nun auch eine Antwort auf das Festivalthema dar. Die Frage, wem die Wahrheit gehört und was die Wahrheit ist, zählt laut Andy Gracie zu den wichtigsten Fragen der Gegenwart. „Das liegt zum Teil daran, dass wir derzeit mit so vielen Herausforderungen konfrontiert sind – in Bezug auf das Klima, die Gesellschaft, die Ressourcen, die Wirtschaft etc.; und wir können diese Themen nur dann erfolgreich verhandeln, wenn wir die Wahrheit über sie kennen“, führt er weiter aus. Folglich kann die Wahrheit als eine Ressource betrachtet werden, was den Prozess der Wahrheitsfindung zu einer Schlüsseloperation macht.

“Ich meine eine universelle Wahrheit, die immer noch existiert, selbst wenn es für die Gesellschaft schwierig ist, diese Wahrheit zu erkennen.”

Andy Gracie

Im Moment, so Gracie, gibt es so viele verschiedene Agenden, dass das Konzept der Wahrheit zur Waffe wird. “ Es scheint, als ob derjenige, der die lauteste Stimme hat, die Wahrheit besitzt“, sagt er, „und indem man das besitzt, was die Leute für die Wahrheit halten, hat man das überzeugendste und mächtigste Werkzeug, um zu manipulieren.“

Das Werk Massive Binaries von Andy Gracie ist Teil der Themenausstellung. Einzelheiten zum Ars Electronica Festival 2023 werden demnächst online veröffentlicht und hier findest Du die Festival Highlights.

Massive Binaries von Andy Gracie wird im Rahmen der Randa Art|Science Residency entwickelt, die vom Institut Ramon Llull organisiert und von Ars Electronica und dem Barcelona Institute of Science and Technology (BIST) in Zusammenarbeit mit dem neuen Zentrum für Kunst, Wissenschaft und Technologie in Barcelona, Hac Te, und der NewArtFoundation veranstaltet wird.

Andy Gracie arbeitet interdisziplinär in den Bereichen Installation, Robotik, Sound, Video und elektronische Medien. Er nutzt wissenschaftliche Theorien und Praktiken, um unser Verhältnis zur Erforschung und zum Experimentieren zu hinterfragen und gleichzeitig die Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft in den Fokus zu rücken. Seine Arbeit umfasst die Auseinandersetzung mit Weltraumforschung, Kosmologie und Deep Time und beinhaltet eine kontinuierliche Beschäftigung mit Semiotik, Simulationstheorie und postapokalyptischen Szenarien.

, ,