Künstliche Intelligenz und klassische Musik fließen im Projekt Walzersymphonie nahtlos ineinander. Kompositionsstudierende erarbeiten im Austausch mit der KI-Anwendung Ricercar innovative Orchesterstücke.
2025 wird der 200. Geburtstag von Johann Strauss (Sohn) gefeiert – ein Komponist, der mit Werken wie dem Donauwalzer und Operetten wie Die Fledermaus und Eine Nacht in Venedig Musikgeschichte schrieb. Der Komponist Strauss war bestimmt vom Streben nach Innovation, das in der Auseinandersetzung mit neuen Technologien und Ideen seiner Zeit zum Ausdruck kam.
Waren es damals die Erfindung des Telefons und elektrische Leitungen, ist es heute Künstliche Intelligenz, die so gut wie alle Bereiche unseres Lebens und unserer Gesellschaft insgesamt maßgeblich verändern wird. Die Kunst ist dabei keine Ausnahme – im Gegenteil, sie befindet sich mitten im Sturm. „Es ist naheliegend, dass Johann Strauss die Möglichkeiten der KI austesten und für sich nutzbar machen würde“, ist Roland Geyer, Intendant des Johann Strauss Festjahres 2025 Wien (JOST 25), überzeugt. Das Ars Electronica Futurelab hat er daher eingeladen, sich mit dem Projekt Walzersymphonie am Jubiläumsjahr zu beteiligen, um mit Hilfe von moderner KI einen neuen künstlerischen Zugang zur Musik von Johann Strauss zu ermöglichen.
Walzersymphonie: KI meets Kunst
Das Gros der Kunstcommunity begegnet KI heute mit Skepsis. Gerät das kreative Schaffen nun in Bedrängnis – oder wird es gar befördert? Passen menschliche Kreativität und KI zusammen und wenn ja, wie können Mensch und KI im künstlerischen Prozess konkret und sinnvoll zusammenwirken? Fragen wie diese stehen im Zentrum des Projekts Walzersymphonie. Hier geht es nicht nur um das Ergebnis, sondern vor allem um die unmittelbare künstlerische Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz und einen öffentlichen Diskurs über die Rolle von Künstlicher Intelligenz in der Kunst
Stichwort Öffentlichkeit; nicht zuletzt sind auch wir Rezipient*innen, das Publikum, das zum Nachdenken aufgefordert ist: Wie wichtig sind für uns andere Menschen, damit es über die Kunst zu einer Kommunikation zwischen uns kommt? Und: Sind menschliche Gefühle am Ende die Quintessenz eines Kunstwerks, eines Musikstücks?
Walzersymphonie fordert aufstrebende Kompositionsstudierende vier internationaler Musikuniversitäten auf, anhand einer speziell mit der Musik von Johann Strauss trainierten KI neue Stücke hervorzubringen.
Das Kick-Off-Event im Mai undJuni 2024 besteht aus Workshops zur Auseinandersetzung mit KI und klassischer Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, der Universität Mozarteum Salzburg, der Zürcher Hochschule der Künste sowie der Hochschule für Musik und Theater München.
Von September 2024 an erarbeitet jede teilnehmende Universität selbständig ein Stück im Austausch mit KI – so entsteht im Finale eine viersätzige Symphonie, die im Rahmen der Großen Konzertnacht beim Ars Electronica Festival in Linz im September 2025 uraufgeführt und im November 2025 in Wien zur Aufführung gebracht wird. Spielen wird das Bruckner Orchester Linz.
Ricercar: Klassik meets KI
Seit 2019 arbeitet der KI-Forscher und klassische Musiker Ali Nikrang am Ars Electronica Futurelab an Ricercar, einem KI-Tool, das speziell auf die künstlerischen Bedürfnisse klassischer Musiker*innen abstellt. Das italienische Wort „Ricercare“ bedeutet ‚suchen‘. Zudem war „Ricercar“ oder „Ricercare“ auch eine musikalische Form der Renaissance- und Barockzeit. Komponist*innen benutzten diesen Begriff für Stücke, in denen sie mit einem Thema oder einer musikalischen Idee experimentierten und die Variationsmöglichkeiten sowie harmonisches Potenzial ermittelten. Genau das passiert auch bei Ricercar als Software: Das interaktive KI-Tool greift auf vielfältige Trainingsdaten zurück, um dann von menschlichen Nutzer*innen herausgefordert zu werden. „Mit dem Durchbruch von Deep Learning 2012 hatte man plötzlich völlig neue Möglichkeiten und Werkzeuge, um mit KI zu arbeiten. 2019 starteten dann die ersten Versuche die aktuellen ‚Transformer-Technologien‘ für die Musikerzeugung einzusetzen“, erinnert sich Ali Nikrang an die Anfänge von Ricercar.
Wie mit dieser Technologie künstlerische Projekte realisiert werden können, welche Anforderungen klassische Musiker*innen an die KI stellen und wie man mit ihr kollaborieren kann, das sind die Kernthemen des Walzersymphonie-Projekts.
1. Satz: Imagination, Intention, Imitation
Seit 40.000 Jahren hören wir Menschen nun schon Musik. Wie wir Musik definieren, wie wir sie einsetzen und erleben, hat sich in diesen Jahrtausenden immer wieder maßgeblich verändert. Auch die im Kielwasser der generativen KI so hitzig diskutierte Imitation von Musik ist nicht die erste ihrer Art.
Mit Walzersymphonie wird Ricercar erstmals an Musik-Universitäten zum Einsatz gebracht – für Ali Nikrang eine notwendige Symbiose zwischen Kunst und Forschung. „Es geht dabei überhaupt nicht um Automatisierung. Es geht um die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Mensch und Maschine“, sagt er und stellt sich damit gegen das oberflächliche Verständnis von KI als einer substanzlosen Imitationsmaschine, die unser Zutun überflüssig macht. Denn auch wenn KI manche Prozesse automatisieren, beschleunigen und sogar verbessern kann, lernt sie – oder besser es – immer von Datensätzen, die von Menschen herrühren. Im Fall von Ricercar sind es nicht nur zahlreiche von einer Pianistin eigens für das Projekt eingespielte Musikstücke von Johann Strauss, sondern auch Tausende von Stücken aus dem gesamten musikalischen Repertoire der letzten Jahrhunderte, mit denen die KI trainiert wurde. „Dadurch wird Ricercar zu einem Werkzeug, das Studierenden hilft, sich mit der Musik von Johann Strauss auch in Bezug auf andere Werke der Musikgeschichte auseinandersetzen und dabei neue Wege in der Komposition zu erkunden“, sagt Ali Nikrang.
2. Satz: Kann KI Kunst?
Musik und Technologie sind untrennbar miteinander verbunden. Immer schon. Fortschritt, Weiterentwicklung und das Suchen nach neuen Möglichkeiten gehören gleichermaßen zur Kunst (und der Musik) wie Technologie – und jeder nächste Schritt bringt neue Fragen mit sich. Gerfried Stocker, Medienkünstler und seit 1995 Künstlerischer Geschäftsführer von Ars Electronica, interessiert im Rahmen des Projekts Walzersymphonie vor allem, wie KI den künstlerischen Prozess beeinflusst.
„Dass wir Kunst wertschätzen, liegt ja vor allem daran, dass sie von Menschen gemacht wird“, spielt Gerfried Stocker nicht nur darauf an, dass künstlerisches Schaffen von Inspiration und Emotion vorangetrieben und geleitet wird, sondern auch darauf, dass Autor*innenschaft und Authentizität essenzielle Parameter sind, wenn es um den ökonomischen Wert von Kunst geht.
Walzersymphonie soll keine Musikstücke ‚im Stil von‘ hervorbringen, sondern jungen Komponist*innen helfen, ihre eigene Handschrift im Austausch mit Johann-Strauss-Partituren zu entwickeln. „Dass KI alles Mögliche sehr überzeugend ‘imitieren’ kann, ist aus künstlerischer Perspektive überhaupt nicht aufregend”, sagt Gerfried Stocker. „Was aber interessant ist, ist das Unbekannte: Wo und wie kann mit KI etwas Neues entstehen, welche Formen kann dieses Neue annehmen und was kann es über uns und unsere Welt erzählen?”
Neben dem künstlerischen Prozess geht es um die wirtschaftliche Dimension – und auch die führt wieder zurück zu Johann Strauss, der nicht nur ein großartiger Komponist, sondern zudem ein erfolgreicher Geschäftsmann war. „Damals wie heute eröffnen neue Technologien neue Businessmodelle und Ausbildungsmöglichkeiten. Unser Experiment soll zeigen, wie eine ideale Welt aussehen könnte, in der KI und Kunst Wertschöpfung generieren“, sagt Gerfried Stocker.
3. Satz: Menschliche Kreativität trifft kreative Technologie
Roland Geyer ist Kulturmanager und leitet das Wiener Strauss-Jubiläumsjahr 2025. Walzersymphonie ist das einzige Projekt in Sachen KI, aber ein entscheidendes: „Wir wollten von Anfang an kein museales Programm machen, sondern ausgehend von den Werken und der Person Johann Strauss zukunftsweisende Experimente durchführen. Traditionelle Aufführungen von Strauss‘ Kompositionen haben im Programm eine wichtige Position inne, aber das Jubiläumsjahr gibt uns auch die Möglichkeit, ganz besondere, außergewöhnliche Wege zu beschreiten“, sagt Geyer. Für ihn ist Walzersymphonie ein Abenteuer besonderer Art: „Es entsteht kein neues originales Strauss-Werk. Das, was lebendig gestaltet wird, muss von den heute lebenden Bearbeiter*innen kommen – im Dialog Mensch und Maschine. Damit stellt sich natürlich die philosophische Frage nach der Definition des Werkbegriffs und der Urheber*innenschaft.“
Johann Strauss selbst hatte immer großes Interesse, die musikalischen und technischen Entwicklungen seiner Zeit auf- und anzunehmen, er integrierte Motive seiner Zeitgenossen in seine eigenen Kompositionen – wie zum Beispiel Opern von Meyerbeer, Verdi und Gounod – und machte Balltänze daraus. Technische Entwicklungen, die ihn im 19. Jahrhundert umgaben, wurden zur Inspiration für sein musikalisches Werk: So entstanden die zwei Walzer Motoren und Telegramme sowie die Polka Durchs Telefon.
„Die KI, die für die Komposition verwendet wird, wird durch ihre Nutzung von lebenden Komponist*innen, Musiker*innen und Musikwissenschaftler*innen weiterentwickelt, insofern ist das Projekt Walzersymphonie kein rückwärtsgewandtes Was-wäre-wenn-Gedankenspiel, sondern soll für zukünftige Künstler*innen den Weg bahnen, ein großartiges neues Arbeitsmedium zu sein. Das Potential, die KI in Zukunft kreativ in schöpferische Prozesse zu integrieren, wollen wir mit unserem Strauss-Projekt evozieren.“
4. Satz: Kunst ist für Menschen. Genau wie KI.
„Ganz egal wie leistungsfähig KI ist oder wird, sie ist ohne Intention”, sagt Gerfried Stocker. „Es wird immer an uns liegen, zu entscheiden, was wir überhaupt wollen bzw. wie und wofür wir diese – genau wie jede andere – Technologie zum Einsatz bringen wollen. Wir alle müssen verinnerlichen, dass ‘die KI’ für sich genommen gar nichts macht, sondern immer nur Menschen mit KI etwas tun. Wir sind in dieser Geschichte nicht das erduldende Objekt, sondern das entscheidende, schöpferische und handelnde Subjekt. Projekte wie Walzersymphonie sollen helfen, dieses Bewusstsein auszubilden und zu stärken.”
„Wovon wir wegkommen sollten, ist das alleinige Bestreben, Bestehendes zu automatisieren oder Vorhandenes zu imitieren”, sagt Ali Nikrang. „Die Kunst – und speziell die Musik – kann und soll aufzeigen, dass KI ein Werkzeug sein kann, das unsere Talente fördert, unsere Kreativität befeuert und unsere Fähigkeiten erweitert – und nicht überflüssig macht. Mit Ricercar wollen wir herausfinden, wie eine solche KI aussehen kann, und mit Walzersymphonie erforschen, wie wir mit einem solchen System interagieren können.”