Gemeinschaftliche Förderung der Pflanzenvielfalt

Mittels einer App und KI-gestützter Bildanalyse sammeln Bürger*innen in ganz Europa phänotypischen Daten für über 1.000 Linien pflanzlicher genetischer Ressourcen (PGR) von Bohnen. „INCREASE“ von Kerstin Neumann (DE) und Roberto Papa (IT) verbindet Wissenschaft und Bürger*innenbeteiligung, um zur dezentralen Erhaltung der Agro-Biodiversität beizutragen. Credit: Elisa Bellucci

Das Projekt INCREASE trägt zum Schutz pflanzengenetischer Ressourcen bei, indem es Bürger*innen in den Anbau und die Beobachtung verschiedener Bohnensorten einbezieht und so die biologische Vielfalt und eine nachhaltige Landwirtschaft fördert.

Citizen Science ist eine Praxis, bei der Mitglieder der Öffentlichkeit an wissenschaftlichen Forschungsaktivitäten teilnehmen und mit Wissenschaftler*innen zusammenarbeiten, um Daten zu sammeln, Ergebnisse zu analysieren und zum wissenschaftlichen Prozess beizutragen. Diese Zusammenarbeit erweitert den Umfang und die Reichweite der Forschung in verschiedenen Bereichen wie Umweltüberwachung und Biodiversität und fördert gleichzeitig die wissenschaftliche Kompetenz und das Engagement der Gemeinschaft. Durch die Einbeziehung von Nicht-Wissenschaftler*innen nutzen Citizen-Science-Projekte die Bemühungen von Freiwilligen, um reale Probleme anzugehen und wissenschaftliche Erkenntnisse zu fördern.

Der European Union Prize for Citizen Science der 2023 ins Leben gerufen wurde, zeichnet jährlich herausragende Leistungen im Bereich der Citizen Science aus. Der Preis wird im Rahmen von Horizon Europe finanziert und von der European Research Executive Agency (REA) als Teil des IMPETUS-Projekts verwaltet. Er soll Initiativen hervorheben, die Bürger*innen in wissenschaftliche Forschung und Innovation einbeziehen und eine pluralistische, integrative und nachhaltige Gesellschaft in Europa fördern. In diesem Jahr geht der European Union Prize for Citizen Science an Kerstin Neumann und Roberto Papa für ihr Projekt „INCREASE”, das Menschen dazu anregt, verschiedene Bohnensorten anzubauen und zu dokumentieren, um dadurch die Pflanzenvielfalt zu schützen und zu fördern. In unserem Interview mit den Künstler*innen erfahren wir mehr über den Einsatz von KI und Deep Learning zur Analyse der von den Teilnehmer*innen gesammelten Daten und über ihre Bemühungen, Geschlechtervielfalt und soziale Inklusion im Projekt zu gewährleisten.

Credit: Elisa Bellucci

Was sind die Hauptziele des INCREASE-Projekts und warum sind sie wichtig fĂĽr die Erhaltung der Pflanzenvielfalt und den Bohnenanbau?

Kerstin Neumann & Roberto Papa: Das Citizen Science Experiment ist ein Teil des INCREASE-Projekts, dessen Ziel es ist, die genetischen Ressourcen von vier wichtigen Hülsenfrüchten – Kichererbsen, Linsen, Lupinen und Gartenbohnen – zu charakterisieren und zu erhalten. Ein innovatives Merkmal dieses Projekts ist die Einführung des Konzepts der „dezentralisierten Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen (DCPGR)”. Dabei sollen pflanzengenetische Ressourcen, die bisher in Genbanken lagern und nur für Expert*innen zugänglich sind, für alle Landwirt*innen und Bürger*innen verfügbar gemacht werden. Diese beteiligen sich aktiv an der Erhaltung und Evaluierung der Pflanzen, sammeln Daten und helfen so, die Anpassung der Bohnensorten an verschiedene Umgebungen sowie ihren potenziellen Wert als Nahrungsmittel zu bewerten.

Das Experiment dient dazu, dieses innovative Konzept der dezentralen Erhaltung von pflanzengenetischen Ressourcen zu testen. Ziel ist es, die Nutzung dieser Ressourcen zu erleichtern, die biologische Vielfalt zu fördern und den Zugang für alle Menschen erheblich zu erweitern.

INCREASE reagiert auf die dringende Notwendigkeit, die negativen Folgen des Klimawandels zu mildern. Es fordert uns auf, unsere Einstellung zur Ressourcennutzung zu überdenken und betont die Bedeutung des Projekts nicht nur wissenschaftlich, sondern auch kulturell, sozial und ethisch. Es möchte das Modell der Erhaltung und Nutzung genetischer Ressourcen sowie die Rolle der Bürger*innen neu definieren. Das Projekt fördert die nachhaltige Nutzung von pflanzengenetischen Ressourcen, bewahrt das landwirtschaftliche Erbe und schärft das Bewusstsein für Agrobiodiversität und genetische Ressourcenerhaltung.

Das Hauptziel von INCREASE ist es, die Auswirkungen der Klimakrise zu mindern, indem die Agrobiodiversität erhöht und nachhaltige Landwirtschaft gefördert wird. Ein weiteres Ziel ist die genetische und phänotypische Charakterisierung der genetischen Ressourcen von über 1.000 Bohnen-PGR-Linien. Durch einen partizipativen wissenschaftlichen Ansatz werden diese Pflanzen in verschiedenen europäischen Umgebungen angebaut, um ihre Eigenschaften und Anpassungsfähigkeit zu identifizieren. Zudem wird ein neues dezentrales Erhaltungssystem erprobt, das die Vermehrung von Keimplasma und die Selbstproduktion auch in städtischen Umgebungen unterstützt. Schließlich soll das Bewusstsein für ökologische Nachhaltigkeit und die Vorteile einer gesunden Ernährung gefördert werden, indem der Verzehr und Anbau von Hülsenfrüchten unterstützt wird.

Wie werden die BĂĽrger*innen in das dezentrale Naturschutzsystem eingebunden und welche Rolle spielen sie bei der Datenerhebung und -analyse?

Kerstin Neumann & Roberto Papa: Im INCREASE-Projekt geht es darum, genetische Ressourcen nicht nur in Genbanken zu bewahren, sondern sie auch Menschen und lokalen Gemeinschaften zur Verfügung zu stellen. Diese dezentrale Erhaltung soll die Genbanken ergänzen und den Wert der pflanzengenetischen Ressourcen (PGR) durch ihre nachhaltige Nutzung und die Förderung der Agrobiodiversität erhöhen. Diese Biodiversität ist besonders wichtig, um die Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme in Zeiten der Klimakrise zu stärken.

Der partizipative Ansatz von INCREASE hat die praktische Umsetzung dieses dezentralen Erhaltungssystems ermöglicht und eine europaweite virtuelle Gemeinschaft geschaffen. Das Citizen Science Experiment, das nun im vierten Jahr läuft, hat viele Freiwillige angezogen. Seine Stärken liegen in der Inklusivität und einfachen Teilnahme.

Die Teilnehmer*innen erhalten fünf verschiedene Bohnensorten sowie eine Kontrollsorte und säen die Bohnen auf einem Feld, im Garten oder in Töpfen auf dem Balkon und dokumentieren deren Wachstum und Blüte mit der CSA-App (Cellular Smartphone Application).

Durch die Dokumentation der äußerlich erkennbaren Merkmale sammeln die Teilnehmer*innen wertvolle Daten, die in die wissenschaftliche Forschung einfließen. Diese Daten helfen zu verstehen, wie sich Bohnensorten an unterschiedliche Umgebungen anpassen.

Die aktive Beteiligung der Bürger*innen an der Nutzung und dem Verzehr dieser Ressourcen fördert die Biodiversität und die nachhaltige Landwirtschaft. Gleichzeitig wird das Bewusstsein für Ernährung und ökologische Nachhaltigkeit geschärft.

Credit: INCREASE Consortium

Wie verbessern kĂĽnstliche Intelligenz und Deep Learning die Analyse der von BĂĽrger*innen gesammelten Daten?

Kerstin Neumann & Roberto Papa: Das Citizen Science Experiment untersucht Tausende von Bohnensorten in unterschiedlichsten Umgebungen. Die DNA-Sequenzierung hat mehrere gut charakterisierte genetische Gruppen identifiziert. Die Studie sammelt dazu äußere Merkmale in Form von Zahlen und Bildern. Diese umfangreiche Sammlung von Bildern wird nun mithilfe künstlicher Intelligenz und Deep Learning analysiert. Erste Tests zur Identifizierung von Merkmalen wie der Blattform sind vielversprechend. Unser Ziel ist es, bestimmte Merkmale direkt aus den Bildern zu erkennen, insbesondere solche, die bisher nicht bewertet oder möglicherweise falsch bewertet wurden. Derzeit liegt unser Fokus auf KI-Anwendungen zur Überprüfung der morphologischen Echtheit von Saatgut, um Verwechslungen zu vermeiden und die Daten vor der Analyse zu bereinigen.

Welche Maßnahmen werden ergriffen, um die Privatsphäre und die Sicherheit der von den Teilnehmer*innen bereitgestellten Daten zu schützen?

Kerstin Neumann & Roberto Papa: Wir haben umfassende organisatorische und technische Maßnahmen zum Schutz personenbezogener Daten eingeführt. Dabei verbessern wir kontinuierlich die Datenschutzkontrollen unserer CSA-App durch erweiterte Zugriffs-, Verschlüsselungs- und Protokollierungsfunktionen. Die Verschlüsselung der Daten erfolgt sowohl während der Übertragung als auch im Ruhezustand mithilfe von Schlüsseln, die von Amazon Web Services (AWS) verwaltet werden.

Unsere DatenschutzmaĂźnahmen basieren auf den AWS-Diensten sowie den Sicherheitsrichtlinien von iOS und Android. Beide App-Versionen durchlaufen eine PrĂĽfung und Genehmigung durch die jeweiligen Stores. Diese Plattformen besitzen zahlreiche international anerkannte Zertifizierungen, darunter ISO 27017 fĂĽr Cloud-Sicherheit, ISO 27701 fĂĽr Datenschutz-Informationsmanagement und ISO 27018 fĂĽr Cloud-Datenschutz. Zudem erfĂĽllen wir die Anforderungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und der britischen Datenschutz-Grundverordnung (UK GDPR), indem wir die Rechtsgrundlagen fĂĽr die Verarbeitung personenbezogener Daten klar darlegen.

Die Verarbeitung von Userdaten erfolgt nur mit ausdrĂĽcklicher Zustimmung der Nutzer*innen, die jederzeit widerrufen werden kann. Wir erhalten keine Daten von Dritten, verwenden keine Daten fĂĽr Marketing- oder Werbezwecke und verarbeiten keine sensiblen personenbezogenen Daten.

Wie stellt das Projekt die Gleichstellung der Geschlechter und die soziale Eingliederung sicher?

Kerstin Neumann & Roberto Papa: Unser Projekt setzt sich stark für die Gleichstellung der Geschlechter und die soziale Eingliederung ein. Wir fördern Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen auf allen Ebenen und schaffen ein integratives Umfeld, das Respekt und gegenseitige Unterstützung fördert. Dies gilt insbesondere für die Personalstruktur, wo wir ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis sicherstellen, auch in Führungs- und Managementpositionen.

Das Citizen Science Experiment zieht Teilnehmerinnen aus unterschiedlichen Hintergründen, Altersgruppen und Geschlechtern an, wie unsere freiwilligen Fragebögen zeigen. Die soziale und geschlechtsspezifische Inklusion ist ein Grundpfeiler der Citizen Science. Es gibt keine spezifischen Auswahlkriterien für die Teilnahme, und die einfache Handhabung des Projekts macht es für alle zugänglich, wodurch wir ein breites Spektrum von Bürger*innen erreichen können.

Alle Aktivitäten werden in der Muttersprache der Teilnehmer*innen angeboten, einschließlich der App, Fragebögen, Videos und Tutorials. Obwohl die Nutzung der App ältere Menschen ausschließen könnte, haben wir viele Fälle erlebt, in denen Großeltern Unterstützung von ihren digital versierten Enkeln erhalten haben.

Wie wird sich deiner Meinung nach die Rolle von Citizen Science in Zukunft verändern, um die biologische Vielfalt zu erhalten und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern?

Kerstin Neumann & Roberto Papa: Das INCREASE-Projekt zielt darauf ab, das Modell der Erhaltung genetischer Ressourcen und die Rolle der Teilnehmer*innen zu überdenken. Es ist ein konkreter Versuch, das landwirtschaftliche Erbe zu bewahren und das Bewusstsein für pflanzengenetische Ressourcen und Biodiversität zu stärken.

Die Ergebnisse des Projekts zeigen, dass partizipative Ansätze eine nachhaltige Diversifizierung der Landwirtschaft fördern können. Diese Ansätze sind entscheidend, um angesichts der Biodiversitäts- und Klimakrise nachhaltige Ernährungsweisen zu entwickeln.

Das Projekt demonstriert, dass die dezentrale Erhaltung genetischer Ressourcen durch partizipative Methoden möglich ist. Dies unterstützt nicht nur eine neue Perspektive auf die Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen, sondern zeigt auch, dass Dezentralisierung die nachhaltige Nutzung dieser Ressourcen und die Diversifizierung der Landwirtschaft fördern kann. Darüber hinaus fördert es die soziale und urbane Landwirtschaft und sensibilisiert für die Bedeutung pflanzengenetischer Ressourcen, selbst in städtischen Gebieten. Dadurch trägt INCREASE zum Wohl der lokalen Gemeinschaften und zum Klimaschutz bei.

Der experimentelle Aspekt des Projekts hebt das Potenzial von Citizen Science hervor. Es zeigt, dass die aktive Beteiligung der Bürger*innen nicht nur zur Wissenschaft beiträgt, sondern auch das Bewusstsein für Nachhaltigkeit schärft und eine verantwortungsvollere Umweltkultur fördert.

INCREASE möchte das Bewusstsein für Ernährung und ökologische Nachhaltigkeit stärken, insbesondere die Bedeutung von Hülsenfrüchten in unserer Ernährung. Durch Veranstaltungen mit Expert*innen aus den Bereichen Ernährung und Agrarwissenschaft wird dieses Bewusstsein gefördert und gesunde Ernährungsgewohnheiten werden unterstützt. Die Förderung eines nachhaltigeren Lebensstils und von Selbstversorgungsmethoden, auch in städtischen Gebieten, ist ein weiterer wichtiger Aspekt des Projekts. Eine bessere Kontrolle der Pflanzenproduktion bedeutet mehr Ernährungssicherheit und verringert die Abhängigkeit von industriell hergestellten Lebensmitteln.

Weitere Informationen zum European Union Prize for Citizen Science findest du hier.

Kerstin Neumann

Die Biologin Dr. Kerstin Neumann leitet seit Anfang 2021 die Gruppe „Automatisierte Pflanzenphänotypisierung” am IPK. Sie ist spezialisiert auf die Entwicklung von Hochdurchsatz-Phänotypisierungssystemen (HTP), mit denen Getreidesorten wie Weizen und Gerste auf ihre Trocken- und Hitzetoleranz untersucht werden können. Ihre Forschung zielt darauf ab, die Leistungsfähigkeit von Nutzpflanzen unter dem Stress des Klimawandels zu verbessern. Darüber hinaus arbeitet sie an pflanzengenetischen Ressourcen und baut samenfeste Genbank-Akzessionen für Getreide und Leguminosen auf. Dr. Neumann leitet das Arbeitspaket 6 im EU-Projekt INCREASE und koordiniert zusammen mit Prof. Roberto Papa das Citizen Science Experiment.

Roberto Papa

Prof. Roberto Papa ist Professor und Leiter des Labors für landwirtschaftliche Genetik an der Università Politecnica delle Marche. Er koordiniert das EU-PGR-Projekt „INCREASE“. Seine Forschung, die sich auf Genomik und molekulare Phänotypisierung stützt, hat zu einem besseren Verständnis der Evolutionsgeschichte und der genetischen Vielfalt von Hülsenfrüchten (insbesondere Phaseolus-Arten) und Getreide (Weizen, Gerste und Mais) geführt. Er hat Gene und Genomregionen identifiziert, die wichtige agronomische Merkmale steuern und die Pflanzenzüchtung und das Management genetischer Ressourcen unterstützen.

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