Die Wissenschaft künstlerisch erforschen

Credit: Arts at CERN

„Arts at CERN”, das Kunstprogramm des CERN in Genf, lädt seit 2012 Künstler*innen ein, gemeinsam mit Physiker*innen grundlegende wissenschaftliche Fragen zu erforschen.

S+T+ARTS (Science + Technology + Arts) ist eine Initiative der Europäischen Kommission, die die Zusammenarbeit zwischen Technologie und Kunst fördert, um Innovationen voranzutreiben und soziale, ökologische und wirtschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Die Initiative umfasst zwei mit jeweils 20.000 Euro dotierte Preise, mit denen innovative Projekte an der Schnittstelle von Wissenschaft, Technologie und Kunst ausgezeichnet werden, die einen signifikanten Einfluss auf wirtschaftliche und soziale Innovationen haben. Der diesjährige Hauptpreis – Innovative Collaboration – geht an „Arts at CERN“.

„Arts at CERN” ist das Kunstprogramm des Europäischen Laboratoriums für Teilchenphysik CERN in Genf. Seit 2012 lädt es Künstler*innen aus verschiedenen kreativen Disziplinen ein, gemeinsam mit Physiker*innen grundlegende wissenschaftliche Fragen zu erforschen. Ziel ist es, den Austausch zwischen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen zu fördern und die internationale Kulturszene mit Spitzenforschung zu verbinden. Das Programm bietet forschungsorientierte Künstler*innenaufenthalte, neue Kunstaufträge, Ausstellungen und Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, sowie im Bildungs- und Besuchszentrum CERN Science Gateway. Es konzentriert sich auf Künstler*innen, die sich für die Schnittstellen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie interessieren, und ermutigt sie, sich intensiv mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft des CERN auseinanderzusetzen. In unserem Interview erfahren wir mehr über die Hauptziele, das Auswahlverfahren für Residencies und die Zukunftspläne von „Arts at CERN“.

Photo: Marina Cavazza

Kannst du uns einen Überblick über die Kunst am „Arts at CERN“ und ihre Hauptziele geben?

Monica Bello: „Arts at CERN” fördert den Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft, indem es Künstler*innen einlädt, sich damit auseinanderzusetzen, wie die Physik grundlegende Fragen über unser Universum beantwortet. Unsere Mission ist es, einen fruchtbaren Austausch zwischen Künstler*innen und Physiker*innen zu ermöglichen und die internationale kreative Gemeinschaft durch Wissenschaft und Forschung zu verbinden.

Unsere Programme sind so konzipiert und organisiert, dass sie unsere Mission verkörpern und die verschiedenen Phasen des Dialogs und des Engagements berücksichtigen. Dazu gehören Residencies, die sich auf künstlerische Fragestellungen im Labor im Dialog mit der CERN-Gemeinschaft konzentrieren. Im Anschluss daran unterstützen wir die Entwicklung neuer Kunstwerke der Künstler*innen, die an den Residencies teilgenommen haben. Unser Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm wird am CERN organisiert, mit Ausstellungen im Science Gateway und dem jährlichen Art and Science Summit, sowie an anderen Orten in Zusammenarbeit mit kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen in der Schweiz und im Ausland, die daran interessiert sind, eine Brücke zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft zu schlagen.

Was bringt es, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen zusammenzubringen? Welche einzigartigen Perspektiven bringen Künstler*innen in die wissenschaftliche Forschung ein?

Monica Bello: Das Zusammenbringen von Künstler*innen und Wissenschaftler*innen steht im Mittelpunkt unserer Arbeit bei „Arts at CERN”. Diese Kooperationen sind von großer Bedeutung, da sie Kunst und Wissenschaft als kollektive Praktiken der Wissensproduktion hervorheben, die durch unseren einzigartigen Laborkontext und eine breite Palette künstlerischer Praktiken geprägt sind. Sie helfen uns, Wissenschaft als integralen Bestandteil der zeitgenössischen Kultur zu verstehen und ermöglichen gleichzeitig interdisziplinären Dialog und Zusammenarbeit.

Während ihres Aufenthalts am CERN geben die Künstler*innen durch ihre Beiträge wertvolle Einblicke in die wissenschaftliche Forschung. Häufig reflektieren sie die Auswirkungen von Wissenschaft und Technologie, indem sie den kulturellen und historischen Kontext der Wissenschaft, die Diskussionen über wissenschaftliche Forschung oder technische Entwicklungen berücksichtigen. Wir halten es für wichtig, diese Begegnungen zu ermöglichen, denn Künstler*innen können sich direkt an den Orten, an denen Grundlagenforschung entwickelt und vorangetrieben wird, mit dem sozialen Gefüge wissenschaftlicher Praxis auseinandersetzen.

Ein Beispiel dafür ist Julius von Bisrmacks Auftrag für das CERN Science Gateway. Seine kinetische Skulptur mit dem Titel „Round About Four Dimensions“ hat die Form eines sich selbst umhüllenden Tesserakts, einer 3D-Darstellung eines 4D-Würfels, der häufig in mathematischen Theorien verwendet wird, um Konzepte zu veranschaulichen, die über drei räumliche Dimensionen hinausgehen. Julius von Bismarck kommentierte seine Arbeit folgendermaßen: „Wir nehmen natürlich drei räumliche Dimensionen wahr, aber uns mehr vorzustellen, stellt eine Herausforderung an unser Vorstellungsvermögen dar. So wie dreidimensionale Objekte zweidimensionale Schatten werfen, manifestieren sich vierdimensionale Gebilde als dreidimensionale Formen. Wenn sich ein vierdimensionaler Körper dreht, scheint sich sein dreidimensionaler Schatten umzudrehen. Diese Skulptur verwandelt diese abstrakte Idee in eine sichtbare Realität.

Auch die Wissenschaftler*innen des CERN unterstrichen den Wert des Austauschs mit Künstler*innen im Rahmen unserer Programme. Die theoretische Physikerin Alessandra Gnecchi, die mit der Künstlerin Suzanne Treister an mehreren Projekten gearbeitet hat, betonte, dass „Künstler*innen uns mit Perspektiven schockieren können, die unsere logischen Sichtweisen in Frage stellen, aber unserem Geist die Möglichkeit geben, den Regeln der Physik zu entkommen und kreative Wege zu finden, unsere Forschung anzugehen“.

Auch Tamara Vázquez Schröder, Experimentalphysikerin am ATLAS-Experiment und regelmäßige Teilnehmerin an unseren Initiativen, bemerkt: „Die Fähigkeit, einen Schritt zurückzutreten und die eigene Forschung zu würdigen, hilft dabei, neue Wege zu finden, die Ergebnisse zu interpretieren. Das ist genau das, was die Zusammenarbeit mit Künstler*innen bewirkt: Sie erinnert uns an die Tragweite der Forschung, die wir betreiben, und lässt uns darüber nachdenken, was wir letztlich zu erklären versuchen.

Diese Überlegungen verdeutlichen die Bedeutung unserer Arbeit. Indem wir innerhalb des Labors Räume für den künstlerischen Dialog schaffen, wollen wir eine offene Kultur fördern, die in der Lage ist, die sich ständig verändernden Phänomene unserer Welt zu erfassen.

Photo: Maximilien Brice

Kannst du das Auswahlverfahren für Residencies am CERN beschreiben? Welche Eigenschaften oder Interessen sucht ihr bei den Künstler*innen?

Monica Bello: Die Residencies sind das Herzstück unserer Initiativen. Die Künstler*innen werden im Rahmen eines offenen Auswahlverfahrens und einer gründlichen Evaluierung ausgewählt. Jedes Jahr erhalten wir mehr als 900 Bewerbungen aus über 90 Ländern. Die ausgewählten Kunstschaffenden nehmen an einem vollständig finanzierten Aufenthalt teil, der zwischen zwei Wochen und zwei Monaten dauert.

Die Residenzen richten sich an Künstler*innen, die sich für die Schnittstellen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie interessieren, die mit der vielfältigen Wissenschaftsgemeinschaft in Kontakt treten und in ein Umfeld eintauchen möchten, in dem Grundlagenforschung betrieben wird.

Collide lädt Künstler*innen aus der ganzen Welt ein, sich zu bewerben. Der Aufenthalt wird in Zusammenarbeit mit einer europäischen Stadt organisiert, die alle drei Jahre wechselt, und lädt Künstler*innen ein, einen Monat am CERN zu verbringen, gefolgt von einem zweiten Monat in der Partnerstadt. Seit dem Start 2012 in Zusammenarbeit mit Ars Electronica hat Collide mit Liverpool in Großbritannien, Barcelona in Spanien und aktuell Kopenhagen in Dänemark zusammengearbeitet.

2021 wurde in Zusammenarbeit mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia das Programm Connect ins Leben gerufen. Ausgewählte Kunstschaffende nehmen an Doppelaufenthalten teil, bei denen sie ihre Zeit zwischen dem CERN und wissenschaftlichen Einrichtungen mit komplementären Forschungsgebieten aufteilen. Zu diesen Partnerschaften gehören SARAO und SAAO in Südafrika, das International Centre for Theoretical Sciences in Bengaluru, Indien, sowie die ESO und das ALMA Observatorium in Chile.

Unsere Programme haben sich im Laufe von mehr als zehn Jahren Erfahrung entwickelt, wobei wir einen strukturierten Rahmen beibehalten haben, der den einzigartigen Kontext des CERN widerspiegelt und langfristige Auswirkungen auf Kunst und Wissenschaft weltweit fördert.

Welche Rolle spielt das neu eröffnete CERN Science Gateway bei der Förderung der Verbindung zwischen Kunst, Wissenschaft und Öffentlichkeit?

Monica Bello: Das Science Gateway markierte einen Wendepunkt in der Beziehung des CERN zur Gesellschaft und etablierte das Zentrum als Drehscheibe für Wissenschaft, Bildung und Kultur.

Die erste Kunstausstellung „Exploring the Unknown“ veranschaulicht die Synergie zwischen Kunst und Wissenschaft und zeigt neue Auftragsarbeiten von Julius von Bismarck, Yunchul Kim, Chloé Delarue und Ryoji Ikeda.

Die Besucher*innen sind eingeladen, die vielfältigen Möglichkeiten zu entdecken, mit denen die ehemaligen Artists-in-Residence-Künstler*innen abstrakte wissenschaftliche Konzepte wie Raum und Zeit, Quantenvakuum und dunkle Materie interpretieren, um kulturelle Artefakte zu schaffen, die die Vorstellungskraft anregen und zum Nachdenken über die Geheimnisse unseres Universums anregen.

Die Ausstellung wird es uns ermöglichen, neue künstlerische Projekte zu unterstützen. Wir beginnen jetzt mit der Arbeit an der nächsten Ausstellung, die 2026 eröffnet wird. Die Künstlerin und Filmemacherin Rosa Barba wird dabei sein und arbeitet bereits mit unseren Kuratoren an der Entwicklung einer neuen Arbeit. Weitere Künstler*innen werden im Laufe des nächsten Jahres bekannt gegeben.

Credit: Arts at CERN

Welche Anstrengungen werden unternommen, um sicherzustellen, dass die vom CERN geförderten künstlerischen Dialoge integrativ sind und einer breiteren internationalen Kulturgemeinschaft zugänglich gemacht werden?

Monica Bello: Die Einbeziehung der Öffentlichkeit steht im Mittelpunkt der Kunststrategie des CERN. In diesem Jahr haben wir den ersten Art and Science Summit veranstaltet, bei dem mehr als 400 Teilnehmer*innen im CERN Science Gateway zusammenkamen, um unter der Leitung von 20 Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Kurator*innen zu diskutieren. Diese Veranstaltung, die von nun an jährlich stattfinden wird, soll wichtige Diskussionen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft fördern und ist weltweit per Live-Streaming zugänglich.

Die Zusammenarbeit mit internationalen Kulturinstitutionen ermöglicht es uns, die Reichweite und Wirkung unserer Initiativen weltweit zu vergrößern. Unsere jüngsten Ausstellungen in Zusammenarbeit mit der Science Gallery Melbourne, dem Museum Tinguely Basel und dem Galician Institute of High Energy Physics sowie die kommenden Ausstellungen mit Copenhagen Contemporary und Tabakalera Donostia sind so konzipiert, dass sie für ein geografisch breit gestreutes Publikum zugänglich und verständlich sind.

Darüber hinaus informieren wir unsere Community regelmäßig online über unsere Aktivitäten, Ausstellungen und Veranstaltungen, um Transparenz und Partizipation zu fördern. Als kleines Team streben wir nach kontinuierlicher Verbesserung, um sicherzustellen, dass unsere Aktivitäten für ein breites und geografisch vielfältiges internationales Publikum zugänglich und bereichernd sind.

Welche zukünftigen oder bevorstehenden Initiativen gibt es bei „Arts at CERN“?

Monica Bello: Wir können bereits verkünden, dass der Art and Science Summit am 5. Februar 2025 im CERN Science Gateway stattfinden wird.

Weitere Informationen zu S+T+ARTS findest du hier.

Monica Bello

Mónica Bello ist spanische Kunsthistorikerin und Kuratorin. Seit 2015 ist sie Leiterin der Kunstabteilung am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf. In dieser Schlüsselrolle ist sie für die strategische Leitung und Überwachung der Kunstinitiativen des Labors verantwortlich und leitet die Konzeption und Umsetzung der Kunstprogramme, einschließlich Künstlerresidenzen, Kunstaufträgen und Ausstellungen. Zu ihren jüngsten kuratorischen Projekten gehören die Eröffnungsausstellung „Exploring the Unknown” am CERN Science Gateway, der isländische Pavillon an der 59. Biennale von Venedig, vertreten durch den Künstler Sigurður Guðjónsson, „Dark Matters” in der Science Gallery Melbourne, „Quantum/Broken Symmetries”, eine Wanderausstellung in sechs verschiedenen Kunstzentren in Europa und Asien, sowie die „Audemars Piguet Art Commission” für die Art Basel. Bevor er nach Genf kam, war Bello künstlerischer Leiter von VIDA, dem Art and Artificial Life Award der Fundación Telefónica in Madri

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