Die Ars Electronica bespielt zum mittlerweile vierten Mal das VW Automobil Forum Unter den Linden in Berlin. Das Thema lautet „Wie eine zweite Natur“, es geht um Künstlichkeit und Wirklichkeit und um die Schnittstellen zwischen dem, was die Natur macht und der Mensch erschafft.
Type: Exhibition
Duration: June 6 – July 28, 2013
City, Country: Berlin, Germany
Venue: Automobil Forum Unter den Linden, Berlin
Es gibt keinen einzigen Bereich unseres Lebens mehr, in dem technische Gerätschaften oder Verfahren nicht eine dominante Rolle spielen. Bei so gut wie allem, was wir tun und lassen, nutzen wir moderne Technologie, sind von ihr umgeben und sogar durchdrungen – wie von einer zweiten, von und für uns selbst geschaffenen Natur. In immer kürzeren Abständen schafft diese technologische Entwicklung immer neue Tatsachen und ist längst zu einem bestimmenden Faktor unserer gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Realität geworden. Ständig schaffen wir neue Werkzeuge, neue Materialien und neue Medien. In den allermeisten Fällen nehmen wir uns die Natur dabei zum Vorbild, wollen sie verstehen, kontrollieren und dann verbessern. Und wenngleich bloß Mittel zum Zweck, eröffnet uns dieses Erforschen von Fauna und Flora ganz nebenbei immer neue Einblicke und Erkenntnisse über das Leben auf dem Blauen Planeten. Neben WissenschaftlerInnen spinnen auch KünstlerInnen den Faden dieser Entwicklung weiter, suchen und finden kognitive und emotionale Zugänge und Interpretationen. Sie stillen unsere Sehnsucht danach, den Kontakt zu unseren Ursprüngen nicht ganz zu verlieren.
Vierte Ausstellung von Volkswagen Automobil Forum Unter den Linden und Ars Electronica Linz
Im Rahmen des vierten gemeinsamen Ausstellungsprojekts von Volkswagen Automobil Forum Unter den Linden und Ars Electronica Linz dreht sich alles um die Frage, was historisch, gegenwärtig und zukünftig jene bestimmenden Faktoren waren, sind und sein werden, die Natürliches und Künstliches im alltäglichen Leben erkennbar, erlebbar und unterscheidbar machen. Künstlerische Arbeiten, Perspektiven und Positionen aus dem Medienkunstnetzwerk des Prix Ars Electronica, des weltweit renommiertesten und höchstdotierten Medienkunstpreises, unterstreichen dabei einerseits die Relevanz dieser Fragestellung und beleuchten andererseits deren alltäglichen Auswirkungen.
Unkonventionelle Beiträge und neue KünstlerInnentypen
Insgesamt fünfzehn künstlerische Arbeiten bieten unterschiedliche Zugänge und Assoziationen an. Die Schau zeigt, in welche Rollen KünstlerInnen schlüpfen, um welche Themen ihre Gedanken und Arbeiten kreisen und auf welch unkonventionelle Weise sie ihre Geschichten oftmals erzählen. Sichtbar wird dabei auch ein neuer Typ von KünstlerIn, der von sehr hoher inhaltlicher – genauer: künstlerischer, wissenschaftlicher, gesellschaftspolitischer – Kompetenz geprägt ist und der stets die Rolle der Kunst insgesamt im Auge hat. Dies gilt für Agnes Meyer-Brandis und ihre ironische Betrachtung von Wissenschaft und deren Selbstbild ebenso wie für Willem van Weeghel und sein Spiel mit Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Naturbeobachtungen dienten den Künstlern Yasuhiro Suzuki, Akira Nakayasu und Alistair McClymont als Inspirationsquelle für ihre ästhetisch anspruchsvollen, ausdrucksstarken Arbeiten rund um robotische Pflanzen, zwinkernde Blätter und künstlich erzeugte Tornados. Das brasilianische Künstlerduo Cantoni/Crescenti wiederum rückt in einem ausgefeilten Spiel mit Lichtmustern, Schatten und Reflexionen die BesucherInnen samt ihren Reaktionen und Beobachtungen ins Zentrum des eigenen Interesses.
Artworks
Rejane Cantoni & Leonardo Crescenti (BR)
WALL (2012)
Diese Wand ist nicht starr, sie reagiert auf ihr Gegenüber. 30 vertikal angeordnete Aluminiumplatten, die sich in einer linearen Abfolge jeweils um 180 Grad drehen, verwandeln die „Wall“ in eine kinetische, interaktive Skulptur. Der Mechanismus startet mit dem Vorübergehen an einem der Endpunkte der Installation, die Bewegung setzt sich wie bei fallenden Dominosteinen fort. Ein Effekt bedingt den nächsten. Die PassantInnen erleben eine Reihe von optischen Phänomenen, die durch Reflexionen und Verzerrungen die Wahrnehmung der Realität verändern. Durch die Interaktion mit den Menschen erhält die Wand einen Hauch von Persönlichkeit. Rejane Cantoni und Leonardo Crescenti haben sich auf audio-visuelle und haptische Interfaces spezialisiert, die das Erkunden von virtuellen, entfernten und hybriden Umgebungen auf natürlichem Weg ermöglichen.
Willem van Weeghel (NL)
DYNAMIC STRUCTURE 29117 (2007 – 2012)
Das Bild ist an der Wand fixiert, das Motiv jedoch befindet sich ständig in Bewegung. Die „dynamic structure 29117“ des niederländischen Künstlers Willem van Weeghel besteht aus 32 schwarzen Linien, die unabhängig voneinander auf einer weißen Fläche rotieren können. An acht Drehpunkten sind jeweils vier Linien angebracht, die individuell angesteuert werden und sich wie Uhrzeiger immer wieder auch überdecken. Die Bewegung ist stufenlos in beide Richtungen möglich; eine versteckte Steuerung koordiniert die Positionen der Linien und bildet stets neue Formen. Die Strukturen wechseln zwischen Chaos und Ordnung, es gibt weder einen sich wiederholenden Zyklus noch ein störendes Ticken.
Yasuhiro Suzuki (JP)
BLINKING LEAVES (2003)
Wie ein riesiger Baumstamm schlägt die Skulptur im Raum ihre Wurzeln, doch erst mit den Hunderten kleinen Blättern aus Papier entfaltet sie ihre ganze Pracht. Im Inneren des Zylinders werden die weißen Blätter nach oben geblasen und zaubern für wenige Sekunden einen imaginären Laubbaum in die Luft. Die mit offenen und geschlossenen Augen bedruckten Blätter wechseln bei ihrem fallenden Tanz so schnell, als ob sie den Menschen zublinzeln und sie erneut einladen würden, den Baum wieder zu „befüllen“ – denn das Laub kann eingesammelt werden, um einen neuen Jahreszyklus im Schnelldurchlauf in Gang zu setzen. Dieses „Blinken“ und „Flattern“ greift der japanische Künstler Yasuhiro Suzuki in seinem Buch „Mabataki to Habataki“ (2011) wieder auf.
Akira Nakayasu (JP)
PLANT (2010)
Nach seiner ersten Arbeit, einem Roboter in Form einer Sonnenblume mit dem Titel „Himawari“ (2008), hat der Künstler und Gestalter Akira Nakayasu seine Forschungen im Bereich robotischer Pflanzen weitergeführt. Für die interaktive Installation „plant“ hat er sich von im Wind wehenden Gras inspirieren lassen. Die Roboterpflanze hat 169 künstliche Blätter, die sich durch spezielle Formgedächtnislegierungen steuern lassen. Jedes Blatt reagiert eigenständig auf Bewegungen wie die einer sich nähernden Hand, indem es sich sanft und in aller Ruhe im virtuellen Wind bewegt.
Takahiro Matsuo (JP)
PHANTASM (2007)
Mit einer leuchtenden Kugel in der Hand betreten die Menschen die Welt von „Phantasm“. Schmetterlinge reagieren auf das Licht, flattern heran und folgen der Illumination. Wird die Kugel mit den Händen abgedeckt, verschwinden die Schmetterlinge mitsamt ihrer magischen Umgebung, in der sie sich bewegen. Die mit LEDs bestückte Lichtkugel verwandelt sich damit zum Schlüssel zu einer virtuellen Fantasiewelt. Eine Sensorkamera misst von oben in Echtzeit die Handhabung der Kugel. Je nachdem welche Veränderungen auf die Kugel einwirken, passen sich die Aktivität der Schmetterlinge und die Soundkulisse im Hintergrund an. Die interaktive Projektion von Takahiro Matsuo lässt ungewöhnliche Orte zum Entspannen und Träumen entstehen.
Alistair McClymont (UK)
THE LIMITATIONS OF LOGIC AND THE ABSENCE OF ABSOLUTE CERTAINTY (2008)
Die Naturerscheinungen auf unserer Erde ziehen viele Menschen in ihren Bann. Der Brite Alistair McClymont hat eine davon nachgebaut, um sie noch besser verstehen zu können. So hat er einen Wirbelsturm regelrecht aus seiner natürlichen Umgebung herausgerissen, das Phänomen damit auf seine wesentlichsten Grundformen reduziert und mit technologischen Hilfsmitteln wieder zum Leben erweckt. Doch sowohl im Original als auch in der Kopie steckt ein gewisses Etwas, das für uns von Natur aus unverständlich bleibt und auf das wir Menschen keinen Einfluss nehmen können.
Masato Sekine (JP)
ENE-GEOMETRIX (2007)
Mit „Ene-geometrix“ lassen sich faszinierende Muster erzeugen, indem der Temperaturunterschied zwischen einer Flüssigkeit und ihrer Umgebung gesteuert wird. Die auf einem Raster angeordneten Peltier-Module erwärmen oder kühlen die Flüssigkeit. Sobald ein Wärmegleichgewicht vorhanden ist, entsteht ein stabiles Linienmuster. Weichen die Temperaturen der Flüssigkeit und der Umgebung voneinander ab, wird das Muster durch Strömungen gelöscht. Mit dieser Installation führt uns Masato Sekine die Beziehung zwischen Natur und Mensch vor Augen, wenn sich durch die Kombination von zwei Gesetzmäßigkeiten – die künstlich gesteuerte Wärmeenergie auf der einen Seite und die Selbstorganisation der Natur auf der anderen – an einem gemeinsamen Ort dynamische Muster ergeben.
Ivan Henriques (BR)
PROTOTYPE FOR A NEW BIOMACHINE (2012)
Nicht nur Menschen sollen auf Technologien zugreifen können, sondern auch Pflanzen. Der brasilianische Künstler Ivan Henriques erforscht mit seiner interaktiven „Biomaschine“ (PNBM) neue Wege der Kommunikation zwischen Menschen, lebenden Organismen und Maschinen, und verwandelt eine tropische Pflanze in einen Sensor. Wenn die Blätter der „Homalomena“ aus der Familie der Aronstabgewächse berührt werden, nimmt die gesamte Pflanze diesen Reiz wahr und überträgt ein elektrisches Signal an eine angeschlossene Maschine, die sich daraufhin in Bewegung setzt. Dem Prototyp sollen weitere Forschungen folgen, um autonome symbiotische Biomaschinen zu entwickeln, bei der Pflanzen und Maschinen ineinander verschmelzen.
Matthew Gardiner (AU)
ORIBOTICS (2010)
Die „Oribotics“ sind das Ergebnis einer künstlerisch motivierten Synthese von uralter japanischer Falttradition und modernster Robotik. Über einen Sensor nimmt die künstliche Pflanze ihre Umgebung wahr, öffnet ihre Blüte, wenn sich ein Objekt nähert, und setzt damit 1.050 Falten in Bewegung. Wird eine Blüte aktiviert, folgen die anderen miteinander vernetzten Oribots in einer Kettenreaktion nach und erzeugen ein beeindruckendes Bild eines surrealen Blütenfelds. Matthew Gardiner wendet sich mit seinem Werk dem Forschungsbereich der Oribotik zu, die sich mit ästhetischen, biomechanischen und morphologischen Verbindungen zwischen Natur, Origami und Robotik beschäftigt. Die Gestaltung der Faltmuster, insbesondere die genaue Anordnung von Berg- und Talfalten, ist bestimmend für das mechanische Design, sodass sich die Forschung vor allem auf die Entdeckung von Mustern konzentriert.
Keiko Takahashi (JP)
METER CRAWLER (2008 – 2013)
Äußerlich unterscheidet sich das Rollmaßband in dieser Arbeit des japanischen Künstlers Keiko Takahashi kaum von jedem anderen. Doch mit einfachen technischen Mitteln wird dem physischen Objekt Leben eingehaucht – mit der optischen Ähnlichkeit und der nachgeahmten Bewegung stellen wir schnell einen direkten Vergleich mit einem landläufig bekannten Lebewesen her. Wie eine Schnecke kriecht das Rollmaßband über die Oberfläche: Der „Meter Crawler“ streckt das Messelement etwa fünf Zentimeter aus seinem Gehäuse, krallt sich mit seinem Metallwinkel in den Boden und zieht den restlichen Körper nach. Das Beispiel zeigt ganz klar, wie wir Menschen mit einem geringen Maß an Vorstellungskraft Ähnlichkeiten zwischen Natur und Technik finden.
David Bowen (US)
TELE-PRESENT WIND (2010)
Lässt sich die Empfindung einer Windböe oder eines Windhauchs im Freien in einen Raum ohne Fenster übertragen, oder gar von einem Ort der Welt zu einem anderen? Die Installation des US-amerikanischen Künstlers David Bowen macht es möglich: Ein Beschleunigungsmesser ist an einer Pflanze im Freien angebracht und nimmt die Bewegungen des im Wind schwankenden Stiels auf. Jeder kleinste Windstoß produziert Daten, die an die 42 kippbaren mechanischen Elemente im Inneren übertragen werden, an denen jeweils eine getrocknete Pflanze angebracht ist. In Echtzeit und im Gleichklang mit den äußeren Windverhältnissen setzt sich schließlich eine Gruppe von Pflanzen wieder in Bewegung.
Agnes Meyer-Brandis (DE)
EARTH-CORE-LABORATORY AND ELF-SCAN (2003–2004)
Wunderschöne unterirdische Korallenriffe gibt es der Künstlerin Agnes Meyer-Brandis zufolge nicht nur am tiefen Meeresgrund oder in besonderen Höhlen – sie können ständig wandern und überall sein, wo eine große Menge an Wasser vorhanden ist. Mit behutsamen Suchgeräten werden unsere Sinnesorgane erweitert, um empfindliche Welten beobachten zu können, ohne in sie eindringen zu müssen. Geborgene Bohrkerne können mit dem eigens dafür entwickelten „Parabit-Scanner“ auf unterirdische biogene Riffe und andere, mit bloßem Auge unsichtbare Bodenlebewesen und Minibiotope erkundet werden. Der Scanner arbeitet, wie auch der Detektor, berührungslos und ist zudem sehr klein gehalten, um die winzigen Bodenlebewesen oder die in den unterirdischen Riffen lebenden Elfen nicht zu erschrecken.
Daniel Warnke (DE)
WINDOW FARMS (2012)
Der eigene Garten ist für viele StadtbewohnerInnen ein Traum. Zumindest ansatzweise lässt sich dieser mit „Window Farms“ erfüllen – mit einer vertikalen Hydrokultur an den bestehenden Wohnungsfenstern und Geschäftsauslagen, und das kostengünstig und mit einfachen Hilfsmitteln wie leeren Plastikflaschen für das optimale Feuchtigkeitsklima oder kleinen Schläuchen zur Wasserversorgung der Pflanzen. Daniel Warnke hat sich bei „deople network e. V.“ mit einem interdisziplinären Team zusammengeschlossen, um im Sinne von „Design Thinking“ gegenwärtige und zukünftige Probleme zu lösen, und schließlich seine erste „Window Farm“ gebaut. Die aus New York City stammende Idee beruht vor allem auf der gegenseitigen Unterstützung und dem offenen Austausch zwischen den Menschen, die diese Farmen betreiben. Sie bringen ihre Erfahrung und ihr Wissen ein, um künftig Gemüse und Früchte von der eigenen Fensterscheibe ernten zu können.
Iori Tomita (JP)
TRANSPARENT SPECIMEN (2012)
Der japanische Künstler Iori Tomita macht aus Meeresbewohnern „fantastisch-fremdartige“ Präparate. Als Student lernte er die Techniken der Herstellung von Präparaten für wissenschaftliche Analyseprozesse kennen. Das Muskelgewebe der Tiere wird durchscheinend gemacht, indem natürliche Eiweißstoffe aufgelöst werden. Die präzisen Formen der Natur werden erst mit menschlicher Präparationstechnik freigelegt und dann eingefärbt, die festeren und die weicheren Gewebeteile dabei unterschiedlich behandelt. Es dauert bis zu sechs Monate, ein Präparat herzustellen – je nachdem wie groß das Lebewesen ist. Mit einer eigentlich wissenschaftlichen Analysemethode schafft Iori Tomita bizarre Skulpturen, die sowohl Teil von Kunst als auch von Wissenschaft sein können.