Über 50.000 geflüchtete Menschen fanden im alten Postverteilzentrum in Linz ein Stück Sicherheit auf ihrer langen Flucht – von 10. September 2015 bis zum 8. Mai 2016 wurde die POSTCITY als Transitlager für Geflüchtete benutzt. Das Rote Kreuz war eine der Hauptorganisationen, die für die Leitung des Lagers verantwortlich war.
Ars Electronica setzt 2016 ein Zeichen für diese Leistung, für die Organisation und für alle Menschen, die hier übernachten konnten. Die große Konferenzhalle wird mit über 50.000 Blumen begrünt, die von den Stadtgärten Linz schon seit Monaten gezüchtet werden – jede Pflanze erinnert an einen geflüchteten Menschen, der die POSCITY im letzten Jahr für eine Nacht bezog. Das Thema Flucht wird außerdem in vielen weiteren Projekten und Konferenzen aufgegriffen: So findet am 10. September 2016 die HelferInnenkonferenz für Freiwillige in der Flüchtlingsbetreuung statt, die von ZusammenHelfen in Oberösterreich nun schon zum zweiten Mal in Linz organisiert wird. Im Global Village, ein Teil der u19-Ausstellung, geht es um Projekte von und für geflüchtete Menschen, es gibt geführte Gratis-Touren auf Arabisch, Farsi und acht weiteren Sprachen für Minderheiten in Österreich, die Über den Tellerrand Community Linz kocht und bemalt „KulturSessel“, gemeinsam mit Geflüchteten und Beheimateten – die Projekte sind vielzählig.
Zusätzlich zu den vielen Projekten wird dem POSTCITY-Transitlager eine kleine Ausstellung gewidmet, in der alles über die Menschen und Geschehnisse des letzten Jahres erfahren werden kann. Paul Reinthaler, Bezirksgeschäftsleiter und Bezirksrettungskommandant beim Roten Kreuz, half beim Zusammenstellen der Daten, Fakten und Fotos – und erzählt hier auf dem Blog über seine Erfahrungen im Transitlager.
Paul Reinthaler, Bezirksgeschäftsleiter und Bezirksrettungskommandant beim Roten Kreuz. Credit: Vanessa Graf
Wir sind hier in der POSTCITY, dem alten Postverteilzentrum in Linz. Im letzten Jahr wurden hier über 50.000 Transitflüchtlinge beherbergt – wie kam es dazu?
Paul Reinthaler: Begonnen hat alles am 4. September 2015. Wir bekamen überraschend und sehr akut den Auftrag, innerhalb eines Tages in der Tabakfabrik in Linz ein Quartier für Flüchtlinge hochzuziehen. Das war uns völlig neu – wir hatten hier in Österreich zuvor keine ständigen Flüchtlingsquartiere für Transit-Reisende. In der Tabakfabrik haben sich mehr durch Zufall die entscheidenden Organisationen gefunden, darunter das Rote Kreuz, die Caritas und die Volkshilfe. Für den technischen Hintergrund war es auch sehr wichtig, dass die Feuerwehr dabei war, ein leitender Arzt und die Organisatoren der Tabakfabrik selbst. Vom ersten Tag an waren auch die LINZ AG sowie natürlich die Polizei als verantwortliche und leitende Organisation beteiligt. Am ersten Tag kamen dann auch wirklich Geflüchtete – in den Abendstunden standen plötzlich vier oder fünf Autobusse hier. Wir wussten aber, dass wir nicht auf Dauer in der Tabakfabrik bleiben konnten, weil dort ja Veranstaltungen stattfinden. Nach ein paar Tagen bekamen wir das Signal, dass wir in das Postverteilzentrum übersiedeln können. Damals, Anfang September 2015, veranstalte die Ars Electronica gerade ihr Festival in der POSTCITY. Auf einmal kamen also zwei neue Partner dazu: die POST AG mit ihrem hervorragenden Gebäudekoordinator Herr Dr. Franz und Ars Electronica. Wir halfen beim Abbau vom Festival und am 10. September 2015 begann in der POSTCITY die Flüchtlingshilfe.
Die Notfallbetten in der POSTCITY – beim Festival eine Konferenzhalle. Credit: Karl Schmiedinger.
Wer waren die Menschen, die hier ankamen?
Paul Reinthaler: Das Besondere war, dass es Transit-Flüchtlinge waren, die immer nur eine Nacht bei uns waren. Wir hatten den Auftrag, durchreisende Flüchtlinge zu versorgen, ihnen ein Bett zu geben, eine gewisse sichere Zone, Waschen, Essen und Trinken. Die anschließende Weiterreise wurde über die Polizei in Zusammenarbeit mit der ÖBB organisiert, ein durchgehend stabiler und bestens organisierter Partner. Die Transit-Flüchtlinge kamen meistens am Spätnachmittag von den Grenzstationen an, also von Wien, Nickelsdorf, später dann auch von Spielfeld. Sie wurden in Oberösterreich in die Transit-Quartiere verteilt, wovon wir das größte waren, wurden versorgt, konnten schlafen und reisten am nächsten Tag weiter.
Das Rote Kreuz bezieht die Betten. Credit: Rotes Kreuz
Woher kamen die geflüchteten Menschen hauptsächlich?
Paul Reinthaler: Das ist sehr schwierig festzustellen, da es verschiedene Phasen gab. Wenn man die Zahlen einfach kumuliert und Durchschnittswerte nimmt, kommt man natürlich auf eine genaue Zahl, man muss jedoch anmerken, dass es in den ersten Monaten völlig anders war als zum Beispiel zu Weihnachten, dann noch einmal völlig anders im April. Am Anfang waren es sehr viele Menschen aus Syrien und sehr viele Kinder, das waren die klassischen Kriegsflüchtlinge. Danach ging es immer mehr Richtung Iran und Irak. Eine sehr starke Gruppe war auch Afghanistan – dieses Land war am Anfang unter den Geflüchteten nicht sehr stark vertreten, in etwa mit 10%, ab Weihnachten waren es aber fast ausschließlich Afghanen. Deshalb sind von allen Menschen, die sich dafür entschieden haben, hier in Österreich Asyl zu beantragen, auch 40% aus Afghanistan.
Credit: Rotes Kreuz
Wie wurde der Transport der Geflüchteten organisiert?
Paul Reinthaler: Die meisten Geflüchteten kamen mit Zügen an. In Oberösterreich gab es im Landespolizeikommando einen Führungsstab, der rund um die Uhr über Monate hinweg besetzt war. Dort wurde der Transport koordiniert. Dort war auch ein Vertreter des Roten Kreuzes, das heißt, wir konnten ständig Informationen austauschen. Auch die ÖBB war in diesem Führungsstab vertreten – deshalb bekamen wir jeden Tag eine Liste der Züge mit Ankunftszeit und –Ort. Es war auch angeführt, welche Belegungskapazität sie hatten. Das war hervorragend organisiert – als die Züge in Wien wegfuhren, konnten wir uns hier schon vorbereiten. Dasselbe galt für die Abreise –wir wussten am Vortag, welche Züge mit welchen Kapazitäten abfahren würden. So konnten wir wissen: Wann müssen die Leute aufstehen, wann müssen sie frühstücken, wann begleiten wir sie zum Bahnhof?
Credit: Rotes Kreuz
Was geschah normalerweise, als die geflüchteten Menschen dann in der POSTCITY ankamen?
Paul Reinthaler: Die Geflüchteten kamen über die Auffahrtsrampe hinauf, hunderte Menschen im Pulk mit Leinentaschen, manche mit Rucksack, manche barfuß. Wir legten Wert darauf, dass sie sehr freundlich empfangen wurden. Die Leute hatten panische Angst, auseinander gerissen zu werden, das merkte man schon an den Gesichtern. Es waren Großfamilien dabei, ganze Ortschaften, die zusammen gehörten. Die Eltern hatten ihre Kinder immer ganz nah bei sich. Wir empfingen alle sehr freundlich und registrierten sie zuerst einmal in einer Eingangszählung nach Köpfen. Sie wurden auch mit einem Band markiert – das war für uns sehr wichtig, um zu wissen, wer im Lager zu dieser Gruppe der flüchtenden Menschen gehört und wer nicht.
Nach dem Empfang und der Registrierung wurde den Menschen sofort der Schlafplatz zugewiesen. Am Anfang hatten wir ein Bettenlager für 900 Menschen, ab 16. November 2015 reduzierten wir aus brandschutztechnischen Gründen auf 700 Betten. Wir teilten die Betten später noch in Sektionen, sodass kleinere Einheiten entstanden. Man kann so Volksgruppen zusammenhalten, aber auch Volksgruppen, die sich nicht verstehen, voneinander trennen. Es gab jeden Abend ein warmes Essen, das aufbereitet wurde, während die Leute ankamen. Interessant war es, dass das Essen gar nicht ihr erstes Ziel war, sondern die Körperpflege. Vorm Essen haben sich die Leute also gewaschen, auch das ermöglichten wir. Nach dem Essen konnten die Menschen, eingeteilt in Männer, Frauen und Kinder, sich an den Kleidungsstücken bedienen, die wir gespendet bekommen haben.
Credit: Rotes Kreuz
Jeden Abend gab es auch zwei oder drei Stunden Freizeit. Das war für mich sehr bewegend, weil die Menschen sahen, in diesem Raum, in dieser POSTCITY, sind sie sicher. Man hat das sofort gemerkt – es wurde viel miteinander geredet, die Leute lachten wieder, die Kinder flitzten in der Halle auf und ab, spielten mit Bällen. Die Kinder genossen die Freiheit, lebten ihren Bewegungsdrang aus, und die Eltern mussten keine Angst davor haben, dass ihr Kind verschwindet. Ich habe noch eine Dame in Erinnerung, sie war sehr alt, und als sie ankam sagte sie: „Inshallah, We are Safe“. Das hat man wirklich gespürt und gesehen und gemerkt.
Wir betrieben im Camp außerdem eine medizinische Ambulanz, die täglich von 18 bis 22 Uhr geöffnet war. Meistens waren zwei Mediziner und Medizinerinnen da, außerdem Pflegepersonal. Die Menschen konnten die Ambulanz freiwillig nutzen und taten das auch gerne, weil sie ja über viele Tage hinweg keine medizinische Versorgung hatten. Die geflüchteten Menschen waren verkühlt, hatten Atemwegsprobleme und Blasen an den Füßen, es gab auch viele Kriegsverletzungen. Ganz selten hatten wir Notfälle, von den mehr als 50.000 Menschen wurden nur 211 ins Spital eingeliefert. Die medizinische Ambulanz war für das ganze System Gold wert, wir hätten nicht alle Menschen ins Spital bringen können. Was ich sehr schön fand: Das Personal arbeitete in den ersten Wochen kostenfrei, so lange, bis das BMI endlich einen Vertrag aufsetzte, der die Abrechnung der Leistungen beinhaltete. Ab dem Zeitpunkt, es war im November 2015, war es möglich, den Ärzten und Ärztinnen ein Honorar auszuzahlen.
Team Österreich und das Rote Kreuz helfen zusammen. Credit: Rotes Kreuz
Wie sah die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen aus?
Paul Reinthaler: Unsere wichtigsten Partner waren die Volkshilfe und die Caritas. Zum ersten Mal arbeiteten wir in dieser Form miteinander – das braucht eine gute Koordination. Unsere Stärken im Roten Kreuz sind Organisation und Logistik. Caritas und Volkshilfe hingegen brachten ein viel dynamischeres Konzept ihrer Arbeit mit ein und haben großes Know-How in der Kleider- und Spendenlogistik. Wir als Rotes Kreuz können gar nicht so gezielt zum Spenden aufrufen – die Volkshilfe und die Caritas geben das einfach sehr direkt über ihre Verbindungen raus, verbreiteten die Aufrufe sogar über Whatsapp. Wir setzten uns jeden Tag zusammen und besprachen, was wir brauchten, und die beiden Organisationen sendeten die Information sofort am Abend noch aus. Caritas hatte zum Beispiel auch sehr viel Erfahrung bei der Tagesbetreuung von Flüchtlingen, das heißt Abarbeiten der Asylanträge, Deutschkurse oder auch Beschäftigung für untertags. So wurde das verschiedene Know-How der Organisationen miteinander genutzt.
Credit: Rotes Kreuz
Woher kamen die vielen zusätzlichen Helfer und Helferinnen, die in der Flüchtlingsbetreuung aktiv waren?
Paul Reinthaler: Eine unserer wichtigsten Partnerorganisationen war Team Österreich, eine Kooperation des Roten Kreuzes mit Ö3. Ãœber diese Plattform hatten wir über viele Wochen wirklich Massen von Menschen bei uns, unterschiedlichster Altersgruppen, unterschiedlicher sozialer Herkunft, mit unterschiedlichem Know-How – das brachte eine unglaubliche Lebendigkeit in dieses Lager. Diese Hilfe durch Team Österreich war phänomenal, wir hatten nicht geglaubt, wie viele Menschen es in Österreich gibt, die sich da Tage, Wochen, manche sogar Monate zur Verfügung stellen. Auch die Berufsfeuerwehr Linz war ständig anwesend, es gab Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegepersonal, organisiert über die Notarztbörse. Das österreichische Bundesheer half uns sehr, ab November waren täglich sechs Rekruten hier. Der Verein Migrare war auch sehr wichtig für uns – er hat uns das sehr heikle und schwierige Thema Dolmetscher organisiert. Vom Malteser Hilfsdienst kamen auch Einzelpersonen, die dem freiwilligen Hilfeaufruf gefolgt waren. Wir bekamen auch Interesse bei Schulen und Pfadfindergruppen – sie kamen ins Lager, wurden persönlich betreut, bekamen ein Briefing und waren einen ganzen oder halben Tag bei uns.
Die vielen Freiwilligen waren für uns über mehrere Wochen wirklich gute Ressourcen, viel Manpower, viel Womanpower. Es kann aber nicht jeder und jede ständig hier sein, so verdünnt sich der Personalpolster. Im November war es uns möglich, durch einen Vertrag mit dem Bund mit einer ganz kleinen Gruppe von Angestellten zu arbeiten.
Credit: Rotes Kreuz
Wie haben Sie persönlich die Flüchtlingsbetreuung im alten Postverteilzentrum erlebt?
Paul Reinthaler: Es war für uns sehr spannend, aber auch überfordernd am Anfang. Wir hatten wirklich zu kämpfen, weil wir kein Know-How hatten, oder nur zum Teil. Wir wissen, wie ein Camp in Syrien oder der Türkei aussieht, aber nicht hier in Österreich. Das war die große Herausforderung. Wir haben wahnsinnig viel gelernt in dieser Zeit – würde dieselbe Herausforderung wieder auf uns zukommen, ich fürchte mich nicht davor.
Die Ausstellung zum Transitlager in der POSTCITY kann während des Ars Electronica Festival von 8. Bis 12. September 2016 jeden Tag von 10:00 bis 19:30 Uhr besucht werden. Am Samstag findet außerdem die 2. HelferInnenkonferenz statt, für freiwillige und hauptamtliche Helfer und Helferinnen. Für weitere Programmpunkte rund um das Thema Flucht besuchen Sie bitte unsere Festival-Website https://ars.electronica.art/radicalatoms/de/