Kollege der Ärzte, Helfer der Patienten: Der kognitive Computer

Fraunhofer5,

Am Fraunhofer-Institut für Medizinische Bildverarbeitung MEVIS werden Softwarelösungen für die computergestützte Medizin entwickelt und die Informationsintegration und Entscheidungsunterstützung für Kliniker verbessert. Ziel der Arbeit ist es, Krankheiten früher und zuverlässiger zu erkennen, Behandlungen für jeden PatientInnen anzupassen und den Therapieerfolg messbar zu machen.

PatientInnen mit Bronchial- oder Lungenerkrankungen werden seit mehr als 100 Jahren mit Hilfe von Röntgenaufnahmen untersucht. Durch technische Verbesserungen kommen heute vermehrt CT- und MR-Maschinen zum Einsatz, die serienweise Schichtaufnahmen des Körperinneren detailliert und dreidimensional abbilden. Die Geräte sind schneller geworden und erzeugen bessere Aufnahmen von vielen PatientInnen in kurzer Zeit. Gleichzeitig verbessern automatisierte Analysewerkzeuge die diagnostischen Möglichkeiten am Computer. Dabei entsteht seit Jahrzehnten ein digitaler Datenschatz mit Bildern und Wissen, der in den Archiven der Kliniken und Praxen weltweit verteilt ist.

Auf dieser Grundlage entwickelten ForscherInnen nun sogenannte Tiefe Neuronale Netze. Diese Netze lernen Schicht für Schicht Auffälligkeiten in medizinischen Bildern zu erkennen. Sie extrahieren zuerst das, was immer wieder vorkommt, lokale Merkmale, und integrieren sie in der folgenden Schicht in lokale Zusammenhänge. Durch die Hierarchie von Merkmalen unterscheiden sie lokale Information, wie einen Lungentumor, und beurteilen den Kontext, beispielsweise ob der Tumor in der Lunge oder Leber liegt.

In dem 3D-Film „Kollege der Ärzte, Helfer der Patienten: Der Kognitive Computer“ des Fraunhofer-Institut für Bildgestützte Medizin MEVIS werden diese Tiefen Neuronalen Netze einfach und verständlich erklärt. Ab Mai wird dieser Kurzfilm im Deep Space 8K gezeigt. Wir haben mit Markus Wenzel, Zuständig für Machine-Learning-Algorithmen für klinische Fragestellungen bei Fraunhofer MEVIS, gesprochen.

Fraunhofer1

Patient-Doctor-AI-Lung-Examination: Die aufgenommenen medizinischen Daten werden nicht mehr zuerst von der Radiologin angesehen. Statt dessen extrahieren die Neuronalen Netze die komplexen Zusammenhänge aus den Informationen und fassen sie zusammen. Die Ärztin nutzt das entstehende Wissen und kann es mit dem Patienten teilen.

Herr Wenzel, bevor Sie bei Fraunhofer MEVIS begonnen haben, haben Sie bereits in einer Klinik in Florida in den USA gearbeitet. Hat die enge Kooperation mit Medizinerinnen und Medizinern Ihre Herangehensweise als Informatiker beeinflusst?

Markus Wenzel: Ja, das war sehr einflussreich. Ich bin bewusst nicht in Universitätskliniken gegangen, sondern in Häuser, die wenig Spielraum für Forschung haben. Das war immer ein guter Filter für allzu praxisferne Ideen. Umso mehr freut es mich, dass die Radiologen und andere klinische Kollegen, mit denen ich in Hamburg täglich arbeite, einen so großen Enthusiasmus aufbringen für das Thema Tiefe Neuronale Netze und kognitive Computer. Ich habe auch reichlich Gelegenheit, sie zu ihrer Arbeit und Vorgehensweisen zu befragen und um so herauszufinden, mit welcher Unterstützung wir am besten helfen können.

Wie hat sich die Rolle der Radiologinnen und Radiologen durch den vermehrten Einsatz von neuen Bildgebungsverfahren, etwa bei der Untersuchung von Bronchial- oder Lungenerkrankungen, verändert?

Markus Wenzel: Mit der Digitalisierung der medizinischen Bilder können Radiologinnen und Radiologen Computer als Hilfsmittel einsetzen. Am Anfang ging es vor allem darum, die Bilder schneller anzuzeigen, dadurch wurden immer häufiger CT, MR, Röntgen und Ultraschall eingesetzt. Die Mediziner merkten, dass sie Strukturen im Körper sehen und unterscheiden konnten, die sie vorher nicht so detailliert erkannten, und die Gerätehersteller antworteten mit immer höheren Auflösungen und immer schnelleren Geräten, die immer mehr Schnittbilder pro Untersuchung lieferten.

Radiologinnen und Radiologen können mit den Bildern heute viel mehr klinische Fragen beantworten als je zuvor, doch die Anforderungen an ihr Wissen und ihre Arbeitsmenge waren auch nie so groß wie heute. Nehmen Sie zum Beispiel die Verlaufskontrolle bei Verdacht auf Lungenkrebs. In zwei Aufnahmen, die ein halbes Jahr auseinander liegen, und die je etwa 500-1000 Einzelbilder groß sind, müssen jeweils alle auffälligen Knoten in der Lunge gefunden und einander zugeordnet werden. Für jedes Paar von zusammengehörigen Auffälligkeiten in der vormaligen und aktuellen Aufnahme muss die Veränderung beurteilt werden, und das liefert die therapieentscheidende Information: Gutartiger Verlauf oder behandlungsbedürftig? Die Ärztinnen und Ärzte müssen suchen, vergleichen, messen und bewerten, und das in riesigen Datenmengen. Teile davon sind elementare kognitive Aufgaben, gleichbleibend und ermüdend. Da ist es vielleicht naheliegend, dass WissenschaftlerInnen auf den Gedanken kamen, das Instrument, das den Menschen in die Lage versetzt, kognitive Aufgaben zu lösen, nachzubauen: das Gehirn. Das Gehirn besteht aus Neuronen, die alle miteinander in einem gigantischen Netzwerk verbunden sind. Das Netzwerk ist flexibel, es passt sich also in gewissen Grenzen den Aufgaben an. Das passiert auch, wenn Menschen eine neue Fähigkeit lernen.

Fraunhofer2

Patient-Doctor-AI-Interaction: Zukünftig vergleichen Ärzte medizinische Bilder und Behandlungsinformationen ihres Patienten mit denen anderer Patienten für eine präzisere, maßgeschneiderte Therapie.

Was sind Neuronale Netzwerke?

Markus Wenzel: Neuronale Netze sind ein Modell des Gehirns – gebaut aus Additionen und Multiplikationen, die nachbilden, was in einem Neuron im Gehirn passiert. Das bekommt über die Synapsen Impulse von anderen Neuronen, wertet sie auf oder unterdrückt sie, und zählt alles zusammen. Sind die eingehenden Impulse ausreichend stark, gibt es seinerseits einen Impuls an alle nachfolgenden Neuronen. Auf dieser Basis entstehen alle unsere Fähigkeiten, alles, was wir mit der Kraft unseres Gehirns bewerkstelligen. Darunter sind die kognitiven Fähigkeiten: zum Beispiel Sehen und einordnen, was wir sehen, hören und verstehen, was gesprochen wird. Dass die kognitiven Apparate von Menschen – und natürlich auch von vielen Tieren – so effizient sind, liegt vermutlich auch an ihrem Aufbau in Schichten. Beispiel Auge: die Netzhaut sorgt schon dafür, dass bestimmte Bewegungen und Richtungen gefiltert werden, und so geht es weiter bis zu den Hirnarealen, die komplexere Wahrnehmungsaufgaben abbilden.

Und was ist ein kognitiver Computer?

Markus Wenzel: Kognitive Computer bilden kognitive Funktionen des Gehirns nach wie das Sehen oder Hören. Der verbreitetste Ansatz dazu sind sogenannte Tiefe Neuronale Netze. Die sind genau wie diejenigen Gehirnareale, die kognitive Funktionen abbilden, in Schichten organisiert, und zwar in recht vielen, zum Beispiel 50 oder auch mehr. Anders als beim Menschen sind die Schichten aber zunächst funktionslos. Damit das neuronale Netz eine Funktion ausführen kann, muss es trainiert werden, in dem ihm Beispiele gezeigt werden. Die Beispiele bestehen aus dem Bild und dem, was das Neuronale Netz in ihm finden soll – einer Art Erklärung. Bei unserem Beispiel Lungenkrebs wird dem Netzwerk zu jedem klinischen Bild der Lunge gezeigt, wo genau die Auffälligkeiten sind, die es später selbst entdecken und beurteilen soll. Aus genug solchen Beispielen kann das Netzwerk lernen, welche Eigenschaften der Bilder es in jeder Schicht analysieren muss, um seine Aufgabe zu erfüllen. Wenn es das gelernt hat, sprechen wir gerne von einer kognitiven Maschine. Im strengen Sinne des Wortes ist das nur ein notwendiger Teil von Kognition, aber wir arbeiten auch an den weiteren Komponenten: der Erklärung, warum eine Entscheidung so und nicht anders ausfällt, der Fähigkeit, aus Rückmeldungen zu lernen und sogar selbst eine Rückmeldung gezielt einholen, wenn die Unsicherheit der eigenen Einschätzung zu groß ist.

Fraunhofer3

Deep-Neuronal-Net: Es entsteht eine Hierarchie von Merkmalen, das Netzwerk kann am Ende beispielsweise einen Lungentumor von einem Blutgefäß unterscheiden und den Kontext beurteilen, beispielsweise wo ein Tumor liegt.

Wie weit verbreitet ist der Ansatz des kognitiven Computing in der Medizin bereits heute?

Markus Wenzel: Es gibt eine ganz beträchtliche Zahl sehr vielversprechender Forschungsarbeiten in diesem Feld, und es werden täglich mehr. Unsere klinischen Partner sind sehr interessiert und mit viel Einsatz dabei. Auch eine weitere Hürde der letzten Jahre ist gefallen: die Zulassung kognitiver Computer als Medizinprodukte mit diagnostischem Zweck ist zumindest in Amerika bereits möglich geworden und wir haben wenig Zweifel, dass das auch in Europa passieren wird. Aber zumindest aus meiner Sicht gibt es noch die beiden grundsätzlichen Fragen nach der Sicherheit und Erklärbarkeit, die in der aktuellen Forschung behandelt werden. Sicherheit bedeutet, dass das System nicht einfach angegriffen werden kann. Und ich finde es wichtig, dass im Medizinbereich kognitive Computer nicht als geschlossene Systeme implementiert werden, sondern dass ihre Ergebnisse, Entscheidungen und Empfehlungen nachvollziehbar sind. Das nennen wir Erklärbarkeit.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Datenschutz?

Markus Wenzel: Grundsätzlich ist es für das Trainieren vieler kognitiver Algorithmen egal, ob die Daten einem Menschen zugeordnet werden können oder nicht. Daher können wir die Daten anonymisieren und in so kleine Teile zerlegen, dass sie praktisch nicht mehr zu rekonstruieren sind. Vor allem ist es nicht notwendig, die Daten über den Zeitraum hinaus, den das Training dauert, zu speichern. Das sind wenige Wochen. Es ist also möglich, die Daten für eine sehr kurze Zeit und einen sehr eng umgrenzten Zweck zu verwenden und dennoch einen großen Nutzen zu erzielen. Bestimmte Bedenken können damit ausgeräumt werden, wie zum Beispiel, dass Daten für immer gespeichert werden, dass ein Mensch unwiederbringlich eine digitale Spur seiner Gesundheit hinterlässt oder dass seine Daten vielfältig und beliebig mit anderen kombiniert werden.

Aber es gibt subtilere Auswirkungen, die ethischer und kommerzieller Natur sind: die Daten werden wertvoll! Und derzeit profitieren davon nicht unbedingt die Dateneigentümer, nämlich die Patientinnen und Patienten. Im Gegenteil: wollen sie an dem Nutzen teilhaben, müssen sie für die erweiterten Analysen womöglich zahlen. Andererseits ist es natürlich aufwändig den Mehrwert zu erzeugen. Die Möglichkeit, mit Daten Algorithmen zu trainieren, die die Diagnostik verbessern können, verändert das Verhältnis von PatientInnen und VersorgerInnen, also den ÄrztInnen, aber auch Versicherungen und Krankenhäusern. Der Wert der Daten stärkt die Rolle der PatientInnen. Vieles spricht in meinen Augen dafür, dass diese neu zu verhandelnde Balance zu gravierenden Veränderungen im Gesundheitswesen führen wird.

Fraunhofer4

Deep-Neuronal-Net-2: Aus genügend Trainingsbeispielen kann das Netzwerk lernen, welche Eigenschaften der medizinischen Bilder es in jeder Schicht analysieren muss, um seine Aufgabe zu erfüllen.

Portrait Wenzel_small

Markus Wenzel arbeitet seit 2005 bei Fraunhofer MEVIS an Machine-Learning-Algorithmen für klinische Fragestellungen. In dieser Zeit hat er zahlreiche Studentenarbeiten betreut und seine Dissertation zu intelligenten Methoden in der Brustkrebsdiagnostik verfasst. Er war und ist Initiator und Projektleiter mehrerer großer internationaler Forschungsprojekte. Heute ist er besonders an der Konzeption von Projektideen beteiligt, die Cognitive-Computing- und AI-Methoden einsetzen, und erarbeitet und leitet Schulungen für die berufsbegleitende und akademische Machine-Learning-Ausbildung.

Fragen Sie doch vor Ihrem nächsten Besuch eines Best of Deep Space 8K, ob dieser Film gezeigt werden kann!

Um mehr über Ars Electronica zu erfahren, folgen Sie uns auf FacebookTwitterInstagram und Co., abonnieren Sie unseren Newsletter und informieren Sie sich auf https://ars.electronica.art/.

, , , , , ,