Mit dem Do-It-Yourself Ernteset für Zuhause, „Future Flora: Celebrating Female Biophilia“, ermöglicht die Designerin und Biohackerin Giulia Tomasello es Frauen, Bakterien für die eigene Vaginalflora selbst zu züchten und einzusetzen. Dafür gewann sie dieses Jahr den STARTS Prize in der Kategorie „Artistic Exploration“, eine Auszeichnung der Europäischen Kommission für herausragende Kunstwerke, die Nutzung, Entwicklung und Wahrnehmung von Technologie maßgeblich verändern. Genau für diese Schnittstelle steht auch das Akronym STARTS – Science, Technology and the Arts.
Am Ars Electronica Festival 2018 wird „Future Flora” in der STARTS-Ausstellung zu sehen sein, außerdem spricht Giulia Tomasello in der Themenkonferenz am Freitag, 7. September 2018, über ihre Arbeit. Im Interview hat die Designerin mit uns darüber gesprochen, warum sie mit Bakterien der Vaginalflora arbeitet, weshalb Biohacking und Citizen Science wichtig sind und was ihre Arbeit für die Selbstermächtigung von Frauen bedeutet.
Giulia, wie bist du auf die Idee gekommen, Future Flora zu entwickeln? Was war der Auslöser?
Giulia Tomasello: Wie viele Liebhaber und Amateurinnen der Biotechnologie und Innovation, begann ich in die Biologie und das Biohacken einzutauchen, während ich in meinem Zimmer lebendige Organismen züchtete. Dann entwickelte sich meine Besessenheit, eine zweite Haut zu tragen und das weibliche Verhalten zu verstehen, mit einem Projekt, das eng mit beiden Themen verbunden ist. Futura Flora richtet sich an Frauen, die die Kontrolle über ihren eigenen Körper als neue wertvolle und intime Praxis der Selbstpflege übernehmen. Als Designerin ist es mein Ziel, das Bewusstsein für weibliche gesellschaftliche Tabus zu schärfen und eine Alternative zu unserer Intimbehandlung zu bieten, indem ich die lebenden Organismen pflege, die das Körpergleichgewicht unserer Vaginalflora ausgleichen. Viele Frauen überschreiten bereits die Grenze zwischen Biologie und Selbstmedikation, angetrieben durch den starken Wunsch, mehr Verantwortung für ihre eigene Gesundheit zu übernehmen. Die Ausübung von Dingen wie Vaginalaussaat oder der Einsatz von Joghurt-Tampons zeigen, wie weit das Verständnis für die Rolle des Mikrobioms in der Gesundheitsversorgung und im Wohlbefinden fortgeschritten ist und wie viel noch zu entdecken ist.
Credit: Giulia Tomasello
Kannst du uns erklären, wie Frauen dieses Ernteset benutzen können? Was sind die verschiedenen Schritte?
Giulia Tomasello: Future Flora ist ein Ernteset zur Behandlung und Vorbeugung von Vaginalinfektionen. Das Projekt befasst sich mit der Erfahrung, lebende Organismen zu Hause zu züchten und zu pflegen, damit die Frau an der Kultur und dem Wissen der Wissenschaft teilhaben kann. Das Set besteht aus einer Impföse, einem Spreizer, einer Pipette mit gefriergetrockneter Bakterienverbindung und der Nährstoff-Agar-Agar-Rezeptur sowie einem Beipackzettel mit den notwendigen Schritten für den Anbau und die Ernte zu Hause. Die mitgelieferten Werkzeuge gelten heute als Laborgrundausstattung. Das Bakterienkissen züchtet die notwendigen Stränge von Lactobacillus-Bakterien, um eine feindliche Umgebung für die weitere Entwicklung von Candida Albicans zu schaffen, die als lebende Kultur der Probiotika dient. Durch den Kontakt des Pads mit den weiblichen Genitalien wachsen die gesunden Bakterien auf der Oberfläche des infizierten Bereichs und rekonstruieren die im Vaginaepithel fehlende Mikroflora. Angesichts der Tatsache, dass 75% der Frauen mindestens einmal im Leben an Candida Vulvovaginitis (CVV) leiden, untersucht Future Flora den Ansatz der Frauen im Kontext der persönlichen Selbstpflege und des Körperbewusstseins, indem sie eine intime und delikate Interaktion zwischen der Handlung des Pflegens von Bakterien, während sie wachsen, und dem Tragen genau dieser Bakterien als eine zweite Schicht des Höschens.
Mit dem Future Flora Projekt rufst du Frauen dazu auf, sich um ihre eigene Gesundheit zuhause zu kümmern – warum ist Citizen Science so wichtig für dich?
Giulia Tomasello: Future Flora schlägt Alternativen vor, um biologische Heilmittel in unserem Haus zu nutzen und die Werte und Überzeugungen, die unsere Gesellschaft in der materiellen Kultur verkörpert, in Frage zu stellen. Die Absicht hinter Future Flora ist es, ein Instrument zu entwickeln, das es Frauen ermöglicht, eine aktivere Rolle in ihrer Gesundheitsfürsorge zu übernehmen und sie dazu veranlasst, bei Bedarf ärztlichen Rat einzuholen und schließlich einige der Tabus zu brechen, die mit der Urogynäkologie verbunden sind. In diesem Projekt untersuche ich die Möglichkeit, wissenschaftliche Werkzeuge als Teil unseres Alltagslebens zu nutzen, bis sie so alltäglich wie etwa ein Make-up-Kit werden. Diese Aufgeschlossenheit gegenüber der Wissenschaft ist ein Trend, der sich durch das Wachstum von Bio-Hackerspaces, Bürger- und Bürgerinnenwissenschaften und DIY-Biologie manifestiert. Dennoch will Future Flora nicht die Natur manipulieren, sondern mit den vorhandenen Ressourcen gestalten. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Bürger und Bürgerinnen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen am Rande der Biohacking-Revolution zu befähigen, wo die Frau Teil der Kultur und des Wissens der Wissenschaft wird. Das Wertschätzen einer weiblichen Biophilie eröffnet die Möglichkeit, in Zukunft Mikroorganismen zu tragen und sie als Teil unseres natürlichen Wohlbefindens anzunehmen. Die Frau, die sich um ihre eigene Gesundheit kümmert, wird zur Bürgerwissenschaftlerin, zur Citizen Scientist, und stellt eine erste Beziehung zu ihrem Körper und dem, was Teil ihrer Lebensumgebung ist, her. Kleidung und Accessoires werden zum Ökosystem, das die gesamte Mikroflora der Haut ausgleicht.
Credit: Giulia Tomasello
Welche Reaktionen hast du darauf von Frauen erhalten? Es ist schließlich ein Thema, das noch nicht ganz offen diskutiert wird…
Giulia Tomasello: Heute hat die Gesellschaft eine Erwartung an das Aussehen, die Arbeitsposition, einen Druck wie zu keiner anderen Zeit in der Geschichte, eine Ästhetik, die perfekt sein muss. Ein Gespräch mit dem Körper zu führen und die stille Sprache zu verstehen, ist eine Herausforderung. Wir sind eine Gesellschaft, die Symptome verbirgt, anstatt Lösungen zu finden. Wir leben in einer Kultur des Schweigens, die das gesamte Thema der weiblichen Sexualmedizin umgibt. Je mehr die Gesellschaft über weibliche Tabus spricht, desto mehr wird das Thema leicht verständlich, und in letzter Zeit haben sich Frauen dem Internet zugewandt, um Antworten zu erhalten. Das Bedürfnis, über den eigenen Körper und die intime Gesundheit zu sprechen, wurde dringlich, ebenso wie die Einbeziehung von mehr Frauen, um über solch sensible Themen zu sprechen. Im Allgemeinen neigen Frauen dazu, diese Probleme in sich zu behalten. Mit Future Flora wird die Benutzerin an den unbekannten Ort eines Labors geführt, mit dem Ziel, ihre Neugierde zu erkennen, eine Teilnehmerin an der Citizen Science zu werden. Es führt dazu, dass sich die Frau mit dem Prozess des Verstehens des Wertes ihres Körpers und des Feedbacks, das der Körper ihr ständig sendet, auseinandersetzt.
Als Designerin ist es mein Ziel, das Bewusstsein für weibliche gesellschaftliche Tabus zu schärfen und eine Alternative zu unserer Intimbehandlung zu bieten, indem ich die lebenden Organismen pflege, die das Körpergleichgewicht unserer Vaginalflora ausgleichen. Simone De Beauvoir betrachtet Frauen als gleichzeitig unterdrückt und frei von der Gesellschaft und argumentiert, dass eine Frau nicht durch ihre Hormone oder mysteriöse Instinkte bestimmt wird, sondern durch die Art und Weise, in der ihr Körper und ihr Verhältnis zur Welt durch das Handeln anderer als ihrer selbst verändert werden.
Du sprichst davon, dass Kleidung und Accessoires das Ökosystem werden, das unsere Hautmikroflora ausgleicht – was passiert als nächstes mit dem Projekt?
Giulia Tomasello: Ich halte mich für eine Designerin, die für Frauen entwirft, indem sie weibliche Tabus bricht, um Gespräche zu provozieren. Mein Ziel ist es, futuristische und soziale Visionen im Bereich Biodesign herauszufordern, indem ich das Wissen von Wissenschaft und Design zusammenführe, um ein kritisches Bewusstsein zu schaffen. Ich möchte neue Vorschläge für die Gesellschaft und für die Zukunft der Frauengesundheit durch die Einführung eines weiblichen Biophilie-Ansatzes entwickelnd. Zurzeit arbeite ich an verschiedenen Projekten, die auf Frauengesundheit und Wohlbefinden basieren. Dort entwickle ich weiterhin innovative Werkzeuge im Schnittpunkt von Medizin und Sozialwissenschaften, indem ich mit Materialität die Grenzen zwischen Technik und unserem Körper hinterfrage und kommuniziere.
Giulia Tomasello (IT), geboren 1990, ist Interaktions-Designerin und Forscherin mit den Schwerpunkten Wearables, Biotechnologie und Materialveredelung. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Interaktive Wearables an der Nottingham Trent University. In den letzten zwei Jahren hat sie das Potenzial von Biotechnologie und lebenden Materialien untersucht und eine biologische und nachhaltige Alternative für elektronische Textilien vorgeschlagen. Sie versteht sich als Makerin und Forscherin, die mit Materialität die Grenzen zwischen Technik und unserem Körper hinterfragt und kommuniziert. Indem sie alternative Szenarien entwirft und als kreative Denkerin agiert, hinterfragt Giulia unsere Vorstellungen von Wohlbefinden, um innovative Werkzeuge an der Schnittstelle von Medizin und Sozialwissenschaften zu entwickeln. Diese Schnittstellen werden durch ihre multidisziplinäre Zusammenarbeit und die Symbiose zwischen ihrer kreativen und wissenschaftlichen Arbeit ermöglicht, die den Wissensaustausch und die soziale Integration im Gesundheitswesen ermöglicht.
Interview geführt von Martin Hieslmair, Ars Electronica.
Mit ihrem Projekt Future Flora gewann Giulia Tomasello dieses Jahr den STARTS Prize in der Kategorie Artistic Exploration. Die Arbeit wird am Ars Electronica Festival 2018 von 6. Bis 10. September in der STARTS Ausstellung in der POSTCITY Linz zu sehen sein. Außerdem spricht Tomasello bei der Themenkonferenz am Freitag, 7. September 2018, ab 12:20 Uhr über ihr Projekt; sowie bei den Future Sessions: Trust in Invisible Agents am Donnerstag, 6. Septmeber 2018, von 13:30 bis 16:30 Uhr.
This project has received funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under grant agreement No 732019. This publication (communication) reflects the views only of the author, and the European Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.
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