Meine Kinder werden klüger und kreativer, meine Kinder ziehen sich in ihre virtuellen Welten zurück und werden zu gewaltbereiten Tätern. Zwei Ansichten über Computerspiele, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Doch beide scheinen nicht wirklich wahr zu sein. Der Medienpädagoge Dr. Konstantin Mitgutsch versucht im Interview mit vielen dieser Mythen aufzuräumen. Gemeinsam mit anderen ExpertInnen aus Wissenschaft und Publizistik spricht er bei den GameStage@FamilyDays am SA 16.11.2013 ab 14:00 im Ars Electronica Center über Games und ihre möglichen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft – auf uns persönlich und auf unsere Kinder. Am Tag zuvor, am FR 15.11.2013 ab 18:00, können sich Interessierte bei der GameStage@AEC selbst ein Bild über Computerspiele machen und Genres ausprobieren, die erst ab 18 Jahren freigegeben sind.
Einer aktuellen Studie der Zeitschrift Nature zufolge stellen Computerspiele hohe Anforderungen an komplexe kognitive und motorische Qualifikationen. Games können dabei als intensives Training verschiedenster Fähigkeiten gesehen werden. Werden wir spielend klüger – wie sehen Sie das?
Ich würde einmal sagen, nein. Wir werden weder klüger, noch werden wir dümmer. Es gibt jetzt natürlich gewisse komplexe kognitive und motorische Qualifikationen, die durch Spiele gefördert werden. Der zentrale Punkt für mich ist aber, dass viele dieser Fähigkeiten, die hier entwickelt werden, nicht das ausmacht, was wir heute als klug verstehen würden. Es sind eigentlich oft Spezialfähigkeiten, die für den normalen Bürger von relativ geringer Bedeutung sind. Und das eines der großen Missverständnisse, die auch bei Spielen im positiven Sinne auftreten. Es kommt zuerst einmal darauf an, mit welchem Spiel wir es zu tun haben. Es gibt Spiele, wo meine Aufmerksamkeitsfähigkeit stark weiterentwickelt wird, wo meine Motorik stark weiterentwickelt wird, oder mein strategisches Denken – aber ein ganz wichtiger Aspekt, der dabei oft zu kurz kommt, ist jener des Transfers. Denn die Kompetenz, die ich im Spiel lerne und entwickele, muss noch lange nicht eins zu eins auf den Alltag übertragen werden können. In den meisten Fällen kann dies der Spielende nämlich nicht. Es ist aber auch so, dass das Spiel nie darauf angelegt war.
Die gute Nachricht für diejenigen, die Angst haben, dass Spielende gewalttätig werden: Der Transfer findet nicht eins zu eins statt. Und umgekehrt aber auch die schlechte Nachricht für PädagogInnen, Eltern oder den öffentlichen Diskurs: Es ist nicht so, dass wir durch Spiele klüger werden. Es ist beides verkürzt. Der Punkt ist, es können gewisse Fähigkeiten ausgeprägt werden, die dann eventuell zum Beispiel bei Chirurgen zum Einsatz kommen können. Man wird nicht automatisch aggressiver, wenn man einen Shooter spielt. Was man aber schon sagen muss: Die meisten Shooter-Spielenden haben ein unglaublich hohes Fachwissen über Waffengattungen, das sie nebenbei im Spielen aufbauen. So wissen sie genau, mit welcher Waffe man aus welcher Distanz genau treffen kann oder nicht. Es ist ein Fachwissen, das die meisten Leute erst in einer Militärausbildung erhalten oder als Jäger. Also das ist ein Beispiel, wo es deutlich wird. Natürlich gibt es Leute, die Spiele genau dahingehend entwickeln, die so einen Transfer zulassen – z.B. man entwickelt ein „World of Warcraft“ mit Mathematik. Aber auch da wird aus meiner eigenen Forschung oft deutlich, dass eben immer wieder dieser Transfer nicht eins zu eins stattfindet wie angenommen.
Der norwegische Attentäter Anders Breivik, verantwortlich für den Tod von 77 Menschen auf der norwegischen Insel Utøya, gab an, sich auf seinen Anschlag mit einschlägigen Computerspielen auf seine Tat vorbereitet zu haben. In vielen Kriegsspielen schlüpfen Jugendliche in die Rolle von SoldatInnen und jagen das vermeintlich Böse mit schweren Waffen durch realistisch anmutende 3-D-Welten. Gewalt ist virtuell erlaubt und in Realität verboten, die Angst, dass die Grenze zwischen den zwei Welten verschwimmt, groß. Was würden Sie besorgten Eltern dazu sagen?
Sie bringen die Angst der Menschen ziemlich auf den Punkt. Ich glaube, in der Frage liegt auch schon die Antwort. Wenn ich eine Tat begehe, wie damals in Norwegen, haben wir es mit jemandem zu tun, der psychische Probleme oder eine Krankheit hat. Die Frage ist, was kann ich in einem Spiel eigentlich trainieren, das mich in so einem Attentat unterstützt? Ja, natürlich kann ich lernen, welche Waffen geeignet sind. Ich kann auch einen Shooter aus dem militärischen Bereich spielen, mir ein gewisses Szenario vorstellen und diese Szene praktisch rekontextualisieren. Dann kann ich gewisse Sachen trainieren, die aber oft mit strategischem Handel zu tun haben und mit Fachwissen über Waffen, Distanzen, und so weiter. Was hier völlig fehlt, und das ist der entscheidende Punkt, ist jener der Aggression und der Motivation, so etwas überhaupt zu tun. Das liefert ein Spiel nicht, das bringt der Spielende mit.
Man geht im Allgemeinen davon aus, dass normale Spielende – die meisten Jugendlichen in Österreich – sehr gut differenzieren können zwischen dem virtuellen Spiel und der Realität, und dass Spielende auch gar nicht so spielen, als ob sie der Wirklichkeit entsprechen würden. Es gibt jetzt aber ganz wenige Menschen – darüber streitet sich natürlich auch die Forschung –, die als Risikospieler eingestuft werden. Das sind Menschen, die zum Beispiel aus einem gewalttätigen Umfeld kommen, die psychische Störungen haben, die an sich schon Schwierigkeiten haben, in der Realität gewisse Aspekte zu differenzieren. Diese Menschen können Spiele für sich verwenden, um sich auf solche Gewalttaten vorzubereiten. Hierbei handelt es sich aber um Menschen, die Spiele als Werkzeuge verwenden. Es sind nicht die Spiele, die diese Menschen dazu machen. Würde es die Spiele nicht geben, würden sie sich andere Medien suchen, um sich sowohl auf solche Taten vorzubereiten als auch ihre Aggressionsfantasien auszuleben.
Es ist ganz wichtig, sich klar zu machen, dass sich Eltern keine Sorgen diesbezüglich machen sollen. Also wenn man die Zimmertür öffnet und eine große Waffe sieht, die auf jemanden zielt und dabei Blut spritzt: Die meisten Shooter, die von außen sehr gewalttätig aussehen, sind Strategiespiele – sie sind Schachspiele, die eine neue Oberfläche bekommen. Ich lerne dort nicht sadistische Handlungen, ich lerne dort strategisches Verhalten in einer Extremsituation. Warum spielen Leute eigentlich so gerne Shooter? Es ist sozusagen das einfachste Medium, um Aufmerksamkeit zu binden. Es gibt kaum etwas, was spannender im Spiel ist, als um sein Leben zu kämpfen. Das ist auch in der Literatur und im Film so. Es gibt diverse Studien, die sich damit beschäftigen, ob Menschen aggressiv werden oder nicht. Und ich kann ihnen nach Durchsicht der meisten Studien sagen: Man weiß es nicht. Es ist sehr unklar. So gibt es Studien, die das eine sagen, Studien die das andere sagen. Ganz wichtig für mich ist aber, dass es keine einzige Studie gibt, die sagt, dass die Menschen nicht in der Lage wären, zwischen Realität und Virtualität zu differenzieren.
Was macht man eigentlich, wenn man einen Menschen hat, der zu so einem „Risikospieler“ gehören könnte, wo die Gesellschaft sagt, Achtung, der kann dies nicht differenzieren? Ich merke es selber, wenn ich mit Psychologen spreche, die solche Menschen in Behandlung haben: Die sagen selber, dass man aber auch gar nichts dagegen tun kann. Es ist klar, dass Menschen mit Interesse an Gewalt auch eher Interesse an Spielen haben, die Gewalt zum Thema haben. Kurz gesagt: Nein, Eltern brauchen keine Angst haben. Alle Jugendlichen außer jene mit psychischen Störungen können zwischen Virtualität und Realität unterscheiden. Die meisten Shooter-Spiele sind Strategiespiele.
Mit welchen großen Mythen haben Computerspiele im Jahr 2013 noch zu kämpfen? Und warum sollten wir uns davon verabschieden?
Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt zwei Felder: Jene der Angstmache und der negativen Mythologisierung des Computerspielens und jene der völligen Überschätzung. Witziger Weise gehen diese ziemlich Hand in Hand. Zuerst das Negative:
Der Mythos, dass alle Computerspieler jugendliche männliche 13-Jährige sind, die in schwarzen Gewändern gekleidet Shooter-Spiele spielen. Das ist ein Mythos, der verabschiedet gehört. Der durchschnittliche Computerspieler ist zwischen 30 und 40 Jahre alt, ist noch immer zu 60% männlich, aber es hat sich verteilt. Und wir spielen heute schon fast alle, weil zum Computerspielen auch das Solitärspielen am Handy zählt. Dazu gehört auch, wenn wir kurz irgendwo ein bisschen Tetris spielen. Es ist auch ein Strategiespiel, wenn ich Punkten hinterherlaufe, die ich auf meiner Billa-Karte bekomme, oder wenn ich mit Nike-Schuhen laufe und die Zeiten im Internet mit anderen vergleiche. Computerspiele haben einen sehr starken Einzug in unsere Lebenskultur genommen und müssen auch so verstanden werden.
Ein weiterer Mythos ist, dass Shooter gewalttätig machen. Nein, das stimmt nicht – das ist zu vereinfacht, wenn man das so sehen würde.
Noch zu einem Mythos zählt, dass Spiele süchtig machen. Es gibt Spiele, die tatsächlich Zeitaufwand belohnen und es gibt Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmalen, die Interesse daran haben, sich abzulenken. Wenn diese auf Spiele mit Zeitstruktur treffen, kann es zu einem exzessiven Spielverhalten kommen. Wichtig ist, dass der Grund dafür immer von außen kommt, von der Lebenswelt. Das Spiel wird zu einem Mittel zum Zweck, um vor etwas zu flüchten. Das ursprüngliche Problem ist aber der Grund zur Flucht und nicht das Mittel zur Flucht. Das ist ganz wichtig, das auch ganz klar zu machen.
Weiters schwirrt noch der Gedanke herum, dass Computerspiele nur Shooter und Sportspiele sind. Das stimmt nicht, wie vorher gerade erwähnt, kommen Computerspiele heute schon in allen Arten und Weisen vor. Sie sind mittlerweile auf unseren Smartphones angelangt, es sind kleine Solitärspiele, und so weiter. Computerspiele kommen in so unterschiedlicher Art und Weise vor… Diese Aussage viel zu vereinfacht.
Aber das führt uns auch zu einem positiven Mythos: Spiele machen nicht klüger, sondern sie sind noch immer eine Form des Freizeitvergnügens und der Transfer in die Realität ist nicht so simpel wie er vielleicht scheint.
Ein weiterer Mythos ist die Idee, Spiele werden unsere Schulen verändern und unser Schulsystem umkrempeln. Das ist auch nicht der Fall. Ich merke zum Beispiel, dass Spiele großes Lernpotential hätten, das dann aber in so einem Schulsystem kaum aufgeht, weil die Strukturen so unterschiedlich sind. Kaum ein Spiel funktioniert im 45-Minuten-Takt. Dieser Aspekt darf nicht übersehen werden.
Aus meiner Perspektive ist der Mythos des Spiels noch interessant: Wie ich vorher bei den negativen Punkten gesagt habe, es wird oft von „dem Spiel“ und „dem Spieler“ gesprochen. Es ist ganz wichtig, sich klar zu machen, dass es sehr unterschiedliche Spiele und sehr unterschiedliche Spielende gibt. Computerspiele können Teil unserer Erfahrungen sein, die wir im Leben machen, aber sie sind niemals das alleinige Ausmaß. Ich glaube, dieser Aspekt wird hin und wieder übersehen, dass es eben nicht so ist, dass das Spiel jetzt entweder der negative oder der positive Einfluss ist.
Ein Mythos, mit dem ich auch noch aufräumen möchte, ist, dass die Computerspielindustrie ein sprühender kreativer Ort ist, wo Menschen sich großartig verwirklichen können. Ich muss sagen, die Spielindustrie ist so wie alle anderen Industrien von Geld getrieben. Sie ist weit nicht so innovativ wie sie sein könnte. Es werden sehr viele Titel wiederholt, es werden stets gewisse Stereotypen und auch erschreckend noch immer viele Frauenbilder in Spielen wiederholt. Oder aber auch der Aspekt der Hassrede, die momentan ein großes Problem ist, wenn Spieler miteinander sehr prall umgehen. Viel was in der Spielindustrie passiert, hat eben sehr wenig mit Innovation, Offenheit und Kreativität zu tun. Es geht vor allem um strategisches Kalkül. Natürlich gibt es auch eine Indie-Industrie, also kleine Entwickler, die sehr kreative Produkte machen oder sehr spannende Kunstprojekte kreieren – das sollten wir trotzdem nicht übersehen.
Wie sollten sich Kinder – und vor allem auch Eltern – verhalten, damit Computerspielen nicht zur Sucht wird? Haben Sie ein paar Tipps für uns?
Ganz wichtig ist, dass man es so sieht, dass Spielen niemals der Auslöser ist. Es geht immer darum, dass Menschen ihre Emotionen und Bedürfnisse ins Spiel mithinein nehmen. Oft wird übersehen, dass, wenn ich zum Beispiel jemandem ein Spiel wegnehme, das die Person exzessiv spielt, ich dann auch gleichzeitig die Erfüllung eines Bedürfnisses wegnehme. Und es geht eher darum, mehr zu erkennen, was eigentlich los ist. Ganz wichtig wäre, dass die Spielenden ganz klar ein Gefühl dafür entwickeln, was sie eigentlich gerne spielen, warum sie das gerne spielen und welches Bedürfnis damit gedeckt wird. Dann stehen diverse Genres zur Verfügung und ich glaube es ist ganz wichtig, dass Eltern auch ein Gespräch darüber führen. Sie müssen nicht jedes Spiel verstehen, aber sie müssen wissen, was spielt mein Kind eigentlich und was bedeutet das eigentlich für das Kind.
Gerade bei Teenagern ist es klar, dass sie sich aus unterschiedlichen Gründen aus dem Alltag zurückziehen und ihren eigenen Bereich aufbauen – und da bieten sich Computerspiele heutzutage sehr an. Es ist wichtig, dass Eltern anerkennen, dass Jugendliche dieses Spiel für sich nutzen, genauso wie die Eltern vielleicht früher Rock’n’Roll oder andere Medien benutzt hätten. Und dass man sehr behutsam damit umgeht. Problematisch ist es, dass Eltern oft überhaupt keinen Zugang zu dieser Welt haben und dann auch sehr viele Missverständnisse entstehen. Das heißt zum Beispiel: Wenn ihr Sohn oder ihre Tochter stundenlang „World of Warcraft“ spielt, ist sie nicht sozial isoliert. Sie spielt mit sehr sehr vielen Menschen weltweit und hat oft sehr persönliche Begegnungen mit diesen Menschen. Natürlich sind es keine Face-to-Face-Kontakte – da geht einiges verloren. Aber wenn man nun so tut, als ob die Person sozial isoliert ist, anerkennt man auch nicht diese Beziehungen. Es ist ganz wichtig, ein offenes Gespräch darüber zu führen und dann eben auch die Jugendlichen trotzdem aufzufordern, einen Schritt weiter zu gehen. Wenn ganz stark deutlich wird, dass sich ein Kind sozial isoliert und andere soziale Kontakte vernachlässigt, soll darüber auch gesprochen werden.
Es gibt auch eine Zeit nach diesem Spiel. Ich denke mir, es ist ganz wichtig zu bedenken, dass die Spiele, die gerade exzessiv gespielt werden, dann auch ihre Halbwertszeit haben. Die laufen auch wieder einmal aus. Und dann kann es sein, dass die Community, die damals beim Spielen gegründet wurde, nicht mehr spielt. Deswegen ist es auch wichtig, sich nach alternativen Communities umzuschauen und gerade auch Kontakte zu knüpfen, die im Alltag stattfinden.
Ein großes Problem sehe ich jedoch darin, dass, wenn es um Konflikte geht, dafür kaum Platz in diesen virtuellen Räumen vorhanden ist. Im Alltag haben wir soziale Konflikte miteinander, virtuell kann ich dem relativ schnell entgehen. Also ich kann, wenn ich mit jemandem ein Problem habe, ihn einfach wegklicken und die Community wechseln. Und genau diese Form des Konflikts geht oft dabei verloren. Oft bleibt dann ein einziger Konflikt übrig – jener mit den Eltern. Hier sollte man sehr behutsam umgehen, und sollte es wirklich dazu kommen, dass die Person selber aufhören will und nicht mehr kann, sollte man sich externe Hilfe holen. Ich bin trotzdem der Meinung, dass es manchmal besser sein kann, mit dem Computerspiel ein Suchtverhalten zu entwickeln als mit Alkohol oder Drogen. Die Schäden für den Körper sind bei Computerspielen langfristig viel geringer, sozial können aber natürlich Schäden entstehen. Man muss es einfach ernst nehmen. Bis dahin ist es langer Weg und dann ist es nicht ein Spiel, das das ausgelöst hat sondern die Struktur des Spielenden.
Erfahren Sie mehr über den Schauplatz Computerspiele persönlich von Dr. Konstantin Mitgutsch am SA 16.11.2013, 15:00, bei seinem Vortrag im Rahmen der GameStage@FamilyDays im Ars Electronica Center Linz. Dr. Mitgutsch hat bereits mehrere Bücher zu diesem Thema veröffentlicht.