Von 3. – 7. September 2015 wird das ehemalige Post- und Paketverteilzentrum zum zentralen Schauplatz des diesjährigen Ars Electronica Festivals. Das Thema „POST CITY – Lebensräume für das 21. Jahrhundert“ wird aber bereits jetzt aufgegriffen, indem das Künstlerduo The Trinity Session, in Gestalt von Stephen Hobbs und Marcus Neustetter, die leerstehenden Hallen mitten am Linzer Bahnhofsgelände für ein partizipatives Projekt mit lokalen Communities nutzt. Marcus Neustetter thematisiert dabei, wem eigentlich der öffentliche Raum einer Stadt gehört, wer einer Straße oder einem Platz den Namen verleihen darf und welche gesellschaftlichen und kulturellen Werte sich auf diese Weise manifestieren. Im Rahmen von Workshops lädt Marcus Neustetter ab 1. August Communities dazu ein, den Straßen und Plätzen ihrer Stadt neue Namen zu verleihen, einzelne Straßenzüge und ganze Stadtteile neuen Zwecken zu widmen und dabei völlig neu zu denken. Hintergedanke ist der, dass sich die Namen von Straßen und Plätzen meist historisch entwickelt haben, doch sind deren Bezeichnungen noch zeitgemäß? Unsere Städte entwickeln sich ständig weiter, sollten sich dann nicht auch die Namen der Straßen und Plätze verändern?
Wir haben mit Marcus Neustetter gesprochen und erfahren, warum die Namensgebung von Straßen und Plätzen für die Identität einer Stadt und ihrer EinwohnerInnen von Bedeutung ist.
Ataya – West African Tea Ceremony (Credit: The Trinity Session)
Hallo Marcus, im Rahmen eures Projekts stellt ihr die Frage, nach welchen Persönlichkeiten die Straßen und Plätze einer Stadt benannt sind bzw. nach welchen eben nicht. Warum ist das wichtig?
Marcus Neustetter: Überall auf der ganzen Welt sind Städte Schauplatz von Globalisierungsprozessen. Und in all diesen Städten müssen die Menschen lernen, mit Menschen unterschiedlichster Kulturen auf engem Raum zusammenzuleben. Im öffentlichen Raum treffen sie dabei aufeinander. Dass sich möglichst jede und jeder mit diesen Räumen identifizieren kann, ist deshalb besonders wichtig. Die Bezeichnung eines Platzes mit einem historischen Namen hilft zwar dabei, ein Verständnis für die Geschichte dieses Platzes zu bekommen, gleichzeitig wäre es aber auch wichtig, dass sich der kulturelle Background der heutigen Bewohnerinnen und Bewohner in der Stadt widerspiegelt. Mit der von uns propagierten Umbenennung von Straßen und Plätzen sollen also die Geschichten und Erfahrungen der aktuellen Einwohnerinnen und Einwohner sichtbar werden.
Ataya – West African Tea Ceremony (Credit: The Trinity Session)
Wer hat in punkto Straßennamen eigentlich die Deutungshoheit inne? Und wer sollte sie haben? Oder anders gefragt: Wem gehört der öffentliche Raum? Und wer soll bestimmen dürfen, wie dieser gestaltet und benannt wird?
Marcus Neustetter: Die Gestaltung des öffentlichen Raums ist leider nicht so offen und demokratisch, wie es sich die meisten von uns wünschen würden. Die Politik, die Rechtsprechung und diverse Lobbys verhindern häufig die dynamische Entwicklung eines Platzes. Es gibt zwar Beispiele, wo das anders läuft, meistens sind es dann aber doch stereotypische Designs, die eben bestehende Machtverhältnisse widerspiegeln.
Ich bin in Johannesburg geboren und aufgewachsen und habe die Transformation der Stadt in den letzten 25 Jahren selbst miterlebt. Und obwohl ich hier zu Hause bin, vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht auch als Außenseiter fühle. Lokale Communities ändern sich hier ständig, lösen sich auf und bilden sich wieder neu. Als Künstler bin ich daher ständig am Recherchieren, welche Einwohnerinnen und Einwohner aus welchen Kulturen gerade in Johannesburg leben.
2004 war ich etwa mit Stephen Hobbs in Hillbrow, einem berüchtigten Stadtteil Johannesburgs, und habe Fotos für eines unserer Projekt gemacht. Eines Tages hat uns dann ein französisch sprechender West-Afrikaner angesprochen und gewarnt, dass das eine gefährliche Gegend sei und wir auf uns aufpassen sollten. Wir sind also in unserer eigenen Stadt von einem Immigranten wie Touristen behandelt worden.
Als wir einige Jahre darauf eingeladen wurden, ein Projekt in Dakar im Senegal zu machen, haben wir uns an dieses Erlebnis erinnert. Wir waren bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in Dakar und haben auch sonst keine Verbindung dorthin gehabt. Für unser Projekt in Dakar haben wir daher in Hillbrow in Johannesburg nach senegalesischen Immigrantinnen und Immigranten gesucht, die wegen der hier oft vorherrschenden Xenophobie alle sehr zurückgezogen leben. Wir haben sie gebeten, Straßenkarten von Dakar für uns zu zeichnen. Als Stephen und ich dann schließlich nach Dakar kamen, haben wir versucht, uns nur anhand dieser selbstgezeichneten Karten zu orientieren. Ohne Googlemaps oder offiziellen Straßenkarten sind wir dann zehn Tage lang in Dakar umhergeirrt. Der wichtigste Teil des Projekts begann aber erst, als wir wieder in Hillbrow zurück waren. Wir haben den Immigrantinnen und Immigranten dort die Fotos gezeigt, die wir während unserer Tour durch Dakar gemacht haben. Dadurch entstand eine enge Verbindung zu den Immigrantinnen und Immigranten, die bis heute besteht und auch einige unserer Projekte im öffentlichen Raum beeinflusst hat.
Bessengue B‘ Etoukoa (Credit: The Trinity Session)
Südafrika und seine jüngere Geschichte sind also sehr wichtig für eure künstlerischen Projekte?
Marcus Neustetter: Ja, Stephen und ich beschäftigen uns in unseren Projekten sehr viel mit den Problematiken von Südafrika und Johannesburg. Auch in Projekten, die eigentlich einen ganz anderen Kontext haben, versuchen wir eine Verbindung zwischen der Geschichte Südafrikas und dem Projekt herzustellen. So ein Perspektivenwechsel hilft uns, Lösungen für die Problematiken zu Hause zu entwickeln. So gesehen, ist die jüngere Geschichte Südafrikas für uns wirklich sehr wichtig. Wir leben ja alle hier in urbanen Zentren, die von den Weißen geplant und gebaut wurden, heute aber von den Menschen bewohnt werden, die damals unterdrückt wurden. Klar, dass diese Straßen und Plätze schlechte Erinnerungen wecken und es viel Zeit und Veränderungen braucht, bis ihre heutigen Bewohnerinnen und Bewohner diese negativen Erinnerungen überwinden. Die Umbenennung des öffentlichen Raumes ist dabei natürlich nur ein Schritt unter vielen anderen. Die architektonische Neugestaltung ist ebenfalls sehr wichtig. Auch partizipative Prozesse sind neue Methoden ein lokales kulturelles Verständnis zu schaffen.
Bessengue B‘ Etoukoa (Credit: The Trinity Session)
Die jüngsten Flüchtlingstragödien im Mittelmeer haben uns ja wieder ins Bewusstsein gerückt, dass Europa mit einem immer größeren Flüchtlingsstrom aus Nordafrika und der Levante konfrontiert ist – mit Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Hunger fliehen und ihr Leben riskieren, um ins sichere Europa zu gelangen. Haben sie dies geschafft und einen positiven Asylbescheid bekommen, sehen sie sich sehr häufig Vorurteilen, Ablehnung und Xenophobie ausgesetzt. Inwiefern spiegelt sich diese Haltung in den Namen unsere Straßen und Plätze wider?
Marcus Neustetter: Mir kommt es vor, als ob die Welt immer kleiner wird. Die kolonialen Mächte, die durch ihre Eroberungen und die Unterdrückung anderer reich geworden sind, haben gleichzeitig Abhängigkeiten geschaffen, die sich erst jetzt langsam auflösen. Dabei geht es nicht nur um die konkrete Durchführung der Namensänderung von Straßen, sondern eher um den Anstoß darüber nachzudenken und zu überlegen, wie die öffentlichen Plätze heißen und aussehen könnten, um den heutigen und künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern gerecht zu werden. Es geht um die grundsätzliche Akzeptanz des „Anderen“. Wir erwarten nicht, dass die Straßen wirklich einen neuen Namen bekommen, wenngleich wir die Hoffnung natürlich nicht aufgeben. Aber auch wenn das nicht passiert, ist es wichtig, sich für einen Moment vorzustellen, was so eine Änderung für sich selbst und den „Anderen“ bedeuten könnte. Unsere Aktion, unser Experiment soll ein erster Schritt in diese Richtung sein. Es soll sowohl eine Provokation in Richtung der jeweiligen Stadtverwaltung sein, als auch die Bewohnerinnen und Bewohnern dazu anregen, sich mit ihrer Stadt auseinanderzusetzen.
Entracte (Credit: The Trinity Session)
Sieht man sich das Straßenverzeichnis so mancher österreichischer Stadt an, stolpert man da schnell über Namen von Personen, die unter HistorikerInnen als zumindest umstritten, um nicht zu sagen problematisch, gelten. Was sagt das über Vergangenheitsbewältigung, die Machtverhältnisse und letztlich die Identität unserer Gesellschaft aus?
Marcus Neustetter: In Südafrika habe ich es schon oft erlebt, dass die Leute keine Ahnung haben, wer die Person überhaupt ist, nach der die Straße benannt ist, in der sie leben. Wir nehmen diese Namen einfach als selbstverständlich und gegeben hin und denken oft erst dann über seine Bedeutung nach, wenn eine Umbenennung vorgeschlagen wird oder der öffentliche Raum für etwas anderes gebraucht wird. In Südafrika werden jetzt, 20 Jahre nach dem politischen Umschwung, alte Denkmäler beschädigt und sogar Straßennamen wie „Market Street“ umbenannt.
Stephen Hobbs und Marcus Neustetter (Credit: The Trinity Session)
In Linz leben heute Menschen aus über 140 Nationen. Eine gesellschaftliche Realität, die sich in den Namen der hier befindlichen Straßen und Plätze so gut wie überhaupt nicht wiederspiegelt. Warum tun sich auch aufgeklärte, moderne Gesellschaften so unheimlich schwer damit, offensichtliche Tatsachen und unumkehrbare Entwicklungen zu akzeptieren? Es wäre doch wesentlich sinnvoller, die damit verbundenen Chancen zu eruieren und zu nutzen versuchen, als einen aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen zu führen?
Marcus Neustetter: Territorialität scheint ein Teil unserer Natur zu sein. Gleichzeitig sind wir Menschen aber immer schon umhergewandert, haben wegen Hungersnöten und Kriegen unsere Heimat verlassen und versucht, wo anders ein neues Leben anzufangen. Man kann mit Fug und Rcht behaupten, dass die Menschheitsgeschichte eine Geschichte der Migration ist. Ich glaube daher, dass wir gar keine andere Wahl haben, als dies zu akzeptieren. Klar ist aber auch, dass diejenigen, die über ein bestimmtes Gebiet herrschen, ihre Herrschaft nur ungern teilen oder gar aufgeben wollen.
Ich stelle mir sehr oft die Frage, ob sich die neuen Einwohnerinnen und Einwohner einer Stadt zuhause fühlen. Eine Frau, die vor 15 Jahren aus Mali nach Paris gezogen ist und seitdem mit ihrer Familie dort lebt, hat mir vor ein paar Jahren erzählt, dass sie sich nur dann zu Hause fühlt, wenn sie etwas feiern kann – die Geburt eines Kindes, eine Hochzeit. Nur bei solchen Anlässen kann sie gemeinsam mit ihrer Familie und ihren Freunden ihre ganz persönlichen kulturellen Sitten und Rituale frei ausüben und fühlt sich „zuhause“.
Die Frage lautet nun: Wie soll man den zunehmend multikulturellen Bevölkerungen unserer Städte ein Gefühl von Heimat vermitteln, wenn der öffentliche Raum keinen kulturellen Austausch ermöglicht? Gar nicht. Und genau deshalb müssen wir genau hier anfangen: mit der Umgestaltung und dem Neudenken des öffentlichen Raumes.
Welche Rolle kann bzw. soll die Kunst im Rahmen eines solchen gesellschaftlichen Transformationsprozesses spielen?
Marcus Neustetter: Künstlerinnen und Künstler stehen den Immigrantinnen und Immigranten einer Stadt sehr nahe, da sie selber am Rande der Gesellschaft stehen und sie sich deshalb auf einer Ebene begegnen. Künstlerinnen und Künstler sind diejenigen, die durch ihre Werke und Aktionen Fragen stellen und Aufmerksamkeit erwecken. An gesellschaftliche Transformationsprozesse angelehnt, können sie die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Lebenssituationen von Menschen enthüllen und das Bewusstsein für notwendige Veränderungen schaffen. Partizipative und prozessorientierte Kunst, die oft gar nicht als Kunst wahrgenommen wird, kann schnell zu alternativ anwendbaren Designlösungen und disziplinübergreifenden Kooperationen führen, die einer diversifizierten Gesellschaft besser entsprechen.
The Trinity Session
Seit 2000 kuratiert und vermittelt das südafrikanische Künstlerduo (Stephen Hobbs und Marcus Neustetter) als „The Trinity Session“ bereits über 300 permanente Kunstwerke im öffentlichen Raum (Johannesburg, Pretoria, Port Elizabeth, Soweto), entwickelte Förderungsprogramme für Künstler und förderte Kunst und Design Projekte in Südafrik. Auch international produzierten sie Ausstellungen und Interventionen.
Finden Sie hier nähere Informationen zu diesem Projekt und auch noch zum anderen Vorprogramm des Ars Electronica Festival 2015 im ehemalige Post- und Paketverteilzentrum: https://ars.electronica.art/postcity/preevents/