UdSSR 1964. Nikita Chruschtschows letzte Tage als Partei- und Regierungschef in Moskau sind gezählt. Währenddessen, in Kasan, einer 800 Kilometer weiter östlich liegenden Großstadt, konzipiert der damals 24-jährige Medienkünstler Bulat Galeev eine Lichtorgel der besonderen Art. Über 50 Jahre später wird „Crystall“ von Natalia Fuchs und ihrem Team wieder zum Leben erweckt. Im Zuge der Polytech.Science.Art Week, die im Dezember 2015 im Polytechnischen Museum in Moskau stattfand, wurde dieses audiovisuelle Musikinstrument erstmals präsentiert. Manuela Naveau von Ars Electronica Export hat mit der Kuratorin Natalia Fuchs über „Crystall“ und den Einfluss Bulat Galeevs gesprochen und dabei auch einen Einblick in die Polytech.Science.Art Week erhalten, die sich der interdisziplinären Zusammenarbeit von Kunst, Wissenschaft und Technologie mit Workshops, Diskussionen, Vorträgen, Performances und einer daran anschließenden Ausstellung zuwendet.
Credit: Polytech.Science.Art
Gemeinsam mit dem Prometheus-Institut, das von Bulat Galeev gegründet wurde, präsentierten Sie bei der Polytech.Science.Art Week erstmals die Lichtorgel…
Natalia Fuchs: Ja, die Maschine hat einen äußerst schönen Namen – Crystall. Sie wurde im Jahr 1964 von Bulat Galeev und einigen anderen russischen Ingenieuren der Prometheus-Gruppe in der Stadt Kasan gebaut und im Ausstellungszentrum WDNCh, der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft – dort, wo sich heute das Polytechnische Museum befindet -, im Jahr 1966 erstmals präsentiert. Zu dieser Zeit war Prometheus eines der führenden audiovisuellen Forschungszentren in Russland und Crystall war nicht die einzige Lichtorgel, die in Russland zu dieser Zeit kreiert wurde. Nachdem ich mich aber mit Anastasia Maksimova vom Prometheus-Institut Anfang 2015 getroffen hatte, wurde ich auf ihr Archiv aufmerksam.
„Weil ich archäologische Medienforschung liebe, kamen mir schnell die Gedanken, eine dieser Maschinen wieder zu rekonstruieren.“ Natalia Fuchs
Hatten Sie Dokumente oder Baupläne, an denen Sie sich richten konnten?
Natalia Fuchs: Der Crystall war fast verschwunden, wir hatten keine Schaltpläne dazu, nur einzelne Teile der alten Maschine und ein Originalbild. Aber nachdem ich mich darüber mit KünstlerInnen unterhalten hatte, beschloss ich, das einfach auszuprobieren. Ich lud ::vtol:: ein, einen russischen Medienkünstler, der auch eine Auszeichnung beim Prix Ars Electronica 2015 erhalten hatte, und Peter Kirn, ein audiovisueller Künstler und Komponist aus Berlin, Gründer von Create Digital Media, die die Rekonstruktion der Maschine vorantrieben. Es gab einen fünftägigen Workshop mit dem Namen „Synaesthetic Machines“ über Synästhesie, Medienarchäologie und Licht- und Sound-Technologie mit ihnen und gemeinsam mit meinem Kollegen Alexey Shcherbina. Nach dem Workshop dauerte es einige Monate, bis wir uns schließlich entscheiden konnten, wie wir die Rekonstruktion abschließen und es bei der Polytech.Science.Art Week präsentieren werden.
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Wie unterscheidet sich die Kopie vom Original?
Natalia Fuchs: Heute verwenden wir nicht mehr dasselbe Kontrollsystem wie es in den 1960ern zum Einsatz kam – wir greifen auf digitale Technologie zurück, aber die Maschine an sich ist und bleibt analog – sogar alle Lampen im Inneren sind händisch gefärbt, so wie damals im Jahr 1964. Zum Glück kannten wir Ingenieure der älteren Generation bei Prometheus, die wir um Rat bitten konnten. Beim Projekt selbst waren aber auch junge KünstlerInnen beteiligt. Für uns alle ist das Projekt „Crystall. Reconstruction“ jetzt aber noch nicht zu Ende – wir arbeiten daran, die Maschine transportierbar zu machen, und am 27. Jänner 2016 wird die erste Performance mit diesem mobilen Crystall in Kasan stattfinden – in der Stadt, in der die Maschine ursprünglich erschaffen wurde.
Warum haben Sie ein Werk von Bulat Galeev als zentrales Element bei der Polytech.Science.Art Week ausgewählt?
Natalia Fuchs: Bulat Galeev war ein Pionier der Unterhaltungsmusik in Russland, ein Künstler der Avantgarde und ein Visionär in den Bereichen Technologie und Wissenschaft. Galeevs Forschung in Lichtarchitektur, Lichtdesign, abstraktem Kino, Video, Laser- und Computerkunst und in elektronischer und räumlicher Musik, theatralischem Sound, von Lichtperformances und der Bühnenbildgestaltung sind äußerst wichtig für die russische Medienkunstszene.
Man kann gar von einem Schatz der sowjetischen Geschichte sprechen. Galeev als echter interdisziplinärer Künstler, Ingenieur und Forscher fasste alle traditionellen und experimentellen Formen der Kunst in ein innovatives „Periodensystem der Kunst“ zusammen, das im Verhältnis zur Technologie und zur Wissenschaft stand. Und das ist genau das, was für uns wichtig ist, wenn wir eine neue Ebene eines interdisziplinären Revivals in Russland erreichen möchten.
Als ich das Polytech.Science.Art-Programm für das Polytechnische Museum zusammenstellte, vertiefte ich mich in die Geschichte der Digital- und Medienkunstszene Russlands, stellte internationale Verbindungen her und nahm an Experimenten teil, um die „weißen Flecken“ zu finden. Bei der Präsentation von „Crystall. Reconstruction“ bei der Polytech.Science.Art Week war es äußerst wichtig für mich, diese Art von interdisziplinärem Ansatz für Kunst, Technologie und Wissenschaft vorzustellen – als vielschichtigen Ansatz, der viele Ebenen der Kommunikation unterschiedlicher Generationen und Kulturen beeinflusste und uns auch in der Zukunft noch begegnen wird.
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Was waren ihre persönlichen Highlights der Polytech.Science.Art Week 2015?
Natalia Fuchs: Zu den spannendsten Events in dieser Woche zählte auf jeden Fall eine Reihe an Dialogen, die sich den moralischen Problemen in der modernen Wissenschaft und der Technologie widmeten. Joanna Zylinska, Künstlerin, Autorin, Kuratorin und Professorin am Institut für Neue Medien und Kommunikation an der Goldsmiths-Universität London nahm ebenso daran teil wie mein Kollege Dmitry Bulatov – er ist einer der führenden Forscher im Bereich Kunst und Wissenschaft in Russland. Ich habe mehrere ForscherInnen und KünstlerInnen eingeladen, um weiterhin im Dialog zu bleiben und es war ein echter Erfolg. Wir werden dieses Projekt als internationale Konferenz rund um die ethischen Probleme in der modernen Wissenschaft und der technologischen Entwicklung im Jahr 2016 fortführen.
Ein weiteres Highlight war die Premiere von „Self-organization„, eine Performance über Öl – das Projekt begann im Sommer 2015 als eine Initiative des Künstlers Olga Kiseleva, der auch Professor und Leiter der Abteilung Kunst und Wissenschaft an der Universität Sorbonne ist. Während der Polytech.Science.Art Week fand jede Nacht eine audiovisuelle Performance statt – dabei arbeitete ich sowohl mit DebütantInnen, jungen KünstlerInnen und berühmten elektronischen MusikerInnen zusammen. Die Visualisierung der Sound-Performances wurde direkt im Lauf der Polytech.Science.Art Week von den russischen Videokünstlerinnen Alexandra Gavrilova (Stain) und Ekaterina Dmitrieva gestaltet. Sie hatten sogar die Chance, gemeinsam mit Julien Vulliet, einem der Programmierer der vvvv-Plattform, zusammenzuarbeiten.
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“Artists as Catalysts” (“Künstler als Katalysatoren”) ist der Arbeitstitel unseres Ausstellungsprojekts, das das Polytechnische Museum gemeinsam mit Ars Electronica im Jahr 2016 entwickeln wird. Können Sie uns mehr darüber erzählen, warum dieser katalytische Ansatz im Allgemeinen für das Polytechnische Museum von Bedeutung ist?
Natalia Fuchs: Im Russland der 1960er/1970er Jahre hatten wissenschaftliche Labore, abgesehen vom “Eisernen Vorhang”, meist den kompletten Zugang zu allen Informationen und Spitzentechnologien. Deshalb kam es, dass künstlerische Gemeinschaften in Russland historisch betrachtet sehr starke Verbindungen zu den WissenschaftlerInnen und den EntwicklerInnen unterschiedlicher Technologien hatten. Das Polytechnische Museum in Moskau war so ein Ort für interdisziplinäre Kommunikation seit 1872. Es war immer schon der Hotspot für die Popularisierung der Wissenschaft und Technologie mit einem sehr starken humanistischem Hintergrund und der Nähe zu den Geisteswissenschaften.
KünstlerInnen wurden vom Polytechnischen Museum in Russland schon immer als KatalysatorInnen wahrgenommen. So war das Museum für die russische Futuristenbewegung enorm wichtig – der erste Vortrag von Marientti über Futurismus wurde hier in Moskau am 27. Jänner 1914 abgehalten, so wie viele andere Treffen und Veranstaltungen dazu. Das ist der Grund, warum dieser katalytische Ansatz schon sehr lange von dem Museum wahrgenommen wird, aber nun, nachdem es von 1990 bis in die 2000er Jahre etwas ruhig geworden ist, setzen wir erneut diesen Modernisierungskurs eines der ältesten und größten Wissenschafts- und Technikmuseen der Welt fort.
Natalia Fuchs ist Expertin in Kunst- und Kulturmanagement und internationaler Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist Absolventin der Manchester-Universität (Kulturmanagement 2008) und Leonardo-Stipendiatin des Medienkunstgeschichte-Programms der Donau-Universität in Österreich. 2013 wurde sie vom Polytechnischen Museum in Moskau eingeladen, das interdisziplinäre Programm Polytech.Science.Art auf die Beine zu stellen und zu kuratieren und gleichzeitig Ausstellungen und das „Elektronische Wohnzimmer“, einen experimentellen multifunktionalen Raum am Polytechnischen Museum, zu betreuen. Als Forscherin und Fachfrau arbeitet sie an einer Reihe an Themen und nimmt an verschiedenen internationalen Projekten teil, die sich auf zeitgenössische Kultur, Medienkunst, Kino und Sound fokussieren.