Karen Schlimps Klavier ist kein Klavier wie alle anderen. Das eigentliche Tasteninstrument kann noch viel mehr – einmal tönt der Innenraum klangvoll, ein anderes Mal streicht die Musikerin mit dem Bogen über eine eigens gebaute Saite. Ihre Disziplin: „Extended Piano“, eine Musikform, die den Bereich des Möglichen in der Musik erweitern und das Klavier so kreativ wie möglich einsetzen will.
Wie genau sich das anhört, kann man am Freitag, 1. Dezember 2017, im Deep Space des Ars Electronica Centers erfahren. Dann spielt Schlimp nämlich gemeinsam mit dem Sprachkünstler Jaap Blonk und Klaus Hollinetz (Electronics) im Konzert „UNDER YOUR SKIN/Bodyterms“. Experimentelle Musik trifft hier auf menschliche Anatomie: Mikroskopische Aufnahmen der Haut dienen als Partituren, medizinische Begriffe werden zur Sprachkunst.
Im Interview erzählt uns die Musikerin Karen Schlimp, warum Medizin und Musik in ihrer Arbeit zusammenfinden, wie viel Raum die experimentelle Musik für Improvisation lässt und worauf man sich beim Konzert schon freuen kann.
Credit: Vanessa Graf
„UNDER YOUR SKIN“ ist ein Konzert experimenteller Musik. Was erwartet uns?
Karen Schlimp: Wir sind drei Musiker und Musikerinnen, die miteinander auf Basis von Bildern Musik machen. Die Bilder sind Mikroskop-Aufnahmen des Körpers, im Fachterminus nennt man sie histologische Schnitte. Es ist mikroskopische Anatomie. Als Thema wählte ich in diesem Fall Bilder von der Haut bis hin zu dem, was unter der Haut ist, aus – daher „UNDER YOUR SKIN“. Die Bilder beschreiben den Weg von außen nach innen: Wie schaut es in und unter unserer Haut aus? Es ist also ein Konzert mit Bildern. Dazu spielen wir experimentelle, zeitgenössische Musik. Unsere drei musikalischen Elemente sind das Klavier, auch der Klavierinnenraum, die Stimme mit allen möglichen Stimmlauten und die Elektronik.
Das erklärt schon ein bisschen, was mit „extended“ Voice oder „extended“ Piano gemeint ist. Was kann man sich darunter vorstellen?
Karen Schlimp: Extended bedeutet, dass man die Möglichkeiten von Musik erweitert. Bei Extended Piano spielt man nicht nur auf den Tasten, wie man es gewohnt ist, sondern auch im Innenraum des Klaviers. In meinem Fall habe ich ein Klavier, an das ich mir Dinge dazu bauen ließ. Ich habe zum Beispiel eine Saite am Klavier, auf der ich mit dem Bogen spielen oder Rhythmen machen kann. Es ist also ein Klavier, aber erweitert mit allen Klangmöglichkeiten –man kann zupfen, streichen, Percussion darauf spielen oder einfach Sounds erzeugen.
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Wie gestalten sich die Reaktionen auf diese Art von Musik innerhalb der Musikszene?
Karen Schlimp: Es gibt einerseits jene, die das Klavier konservativ als Klavier behalten wollen. In der zeitgenössischen Musik gibt es aber auch eine Riesenströmung, in der man nicht „Up To Date“ ist, wenn man keinen neuen Klang erfindet. Wenn man bei einer Performance keinen neuen Klang zeigt, ist man schon alt. In der Musikgeschichte wurden Instrumente immer weiterentwickelt, je nachdem, was der Bedarf in der Musik war. Inzwischen ist der Bedarf, viele Klänge zu haben. Die meisten Musiker und Musikerinnen erweitern mit Elektronik. Aber es gibt eben auch viele, wie beim Klavier, die sich neue Instrumente bauen. Oder die Stimme erweitern! Jaap Blonk ist wirklich der europäische Stimmkünstler. Er hat, so wie ich das Klavier für mich mit Klangmöglichkeiten erweitere, seine Stimme als Instrument ausgebaut. Er macht wirklich alles, was man mit der Stimme machen kann. Er nennt sich Sprachpoet, arbeitet mit Buchstaben, mit Lauten, und hat sogar eine eigene Notation entwickelt. Er hat die Stimme als Instrument entwickelt.
Credit: Vanessa Graf
Wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen Ihnen?
Karen Schlimp: Wir machen freie Komposition, in der Fachsprache sagt man auch Konzeptimprovisation. Das Material, mit dem gespielt wird, wird vorgegeben. Die Bilder, die ich ausgewählt habe, dienen als grafische Partituren. Es gibt manche Elemente, bei denen ich möchte, dass sie Eins zu Eins umgesetzt werden – zum Beispiel sieht man eine Zelle, die in der Musik mit einem Stakkato-Klang oder durch einen perkussiven Klang repräsentiert wird. Ich nenne die Bilder daher auch histologische Partituren, weil ich das, was ich sehe, in musikalische Motive übertrage. Bei Knorpelzellen, also isogenen Zellgruppen, funktioniert das sehr schön. In Konzerten habe ich sie durch Akkorde repräsentiert. Oder ich übersetze bestimmte Zellanordnungen in bestimmte Tonanordnungen. Ich habe für mich auch Notationen: Im Bild sind es Zellgruppen, in der Notation sind es Akkorde auf bestimmten Tonhöhen.
Credit: Vanessa Graf
Warum befassen Sie sich als Musikerin so stark mit der Medizin?
Karen Schlimp: Das ist eine persönliche Geschichte. Ich habe zwar immer Musik gemacht, aber in meiner Jugend beschlossen, Ärztin zu werden. Neben Medizin studierte ich parallel auch Musik und irgendwann zog es mich dann doch ganz in die Musik. Ich fand im Medizinstudium die Mikroskop-Aufnahmen immer sehr faszinierend, das hat mich seitdem immer wieder begleitet. Ich wollte gerne Musik daraus machen und die Bilder vertonen. Für mich sind das die schönsten Bilder, auch tolle Färbungen. Die Strukturen im Körper, das ist für mich Kunst. Ich komponiere schon seit einiger Zeit und improvisiere schon lange. Deshalb hatte ich die Vision, Musik zu Histologie-Bildern zu machen. Jetzt hatte ich das Glück, vor einem Jahr auf das Boltzmann Institut zu stoßen, die mir Bilder zur Verfügung stellen. Es ist nicht leicht, gute Bilder zu haben und sie auch zur Verfügung gestellt zu bekommen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Boltzmann Instituts haben mir in wochenlanger Arbeit Bilder zusammengestellt. Vor allem Sylvia Nürnberger von der Medizinischen Universität Wien war sehr hilfreich. Sie hat immer gefragt: Wie genau ist der künstlerische Blick auf diese medizinische Struktur?
Hat der medizinische Blick Ihren künstlerischen Blick in der Zusammenarbeit verändert?
Karen Schlimp: Den künstlerischen Blick nicht. Aber wenn mir die Medizinerin sagt, das ist der Übergang vom Knorpel zum Knochen, fließt das natürlich in die Musik ein. Ich verwende auch medizinische Termini, mit denen der Sprachkünstler Jaap Blonk improvisieren kann. Ich suche jene Termini aus, die zum Thema passen. Gleichzeitig – wenn etwas perkussiv ist, verwende ich andere Wörter, als wenn es ein Klang sein soll. Mit dem Wort Chondron, also Knorpelzelle, kann man perkussiv arbeiten, wenn man zum Beispiel sagt „Chon-Chon-Chon“. Man kann aber auch das „O“ im Wort verwenden, es langziehen, damit das, was das Bild repräsentiert, in irgendeiner Form auch gezeigt wird. Ich würde bei einer Darmzelle musikalisch nicht dieselben Dinge machen wie bei einer Hautzelle.
Credit: Vanessa Graf
Erschließt sich die Verbindung zwischen Bild und Musik dem Publikum?
Karen Schlimp: Es wird Stücke geben, wo das offensichtlich ist, und es wird Stücke geben, wo das anders ist. Ich bin kein großer Fan von dieser Eins-zu-Eins-Übersetzung. Es kommt natürlich die eine oder andere Stelle vor, an der man eine Struktur sieht und dann hört, es wird aber eben nicht immer so sein. Es gibt Bilder vom Körper, die für mich aussehen wie eine innere Landschaft. Das thematisiere ich musikalisch auf einer ganz anderen Ebene. Klaus Hollinetz arbeitet hier zum Beispiel mit Field Recordings. Das, was im Körper für mich als Landschaft erscheint, wird dadurch in der Musik auf anderer Ebene gezeigt wird und nicht eins zu eins grafisch übersetzt. Insgesamt sind es drei Arten von Umsetzung – die grafische Umsetzung, die Assoziationen dazu, und die poetische Umsetzung. Was heißt es, zu fühlen? Ein Stück heißt „Skin Poems“, dort wird angesprochen, was Wahrnehmung und Fühlen, das Sensitive, eigentlich sind.
Wie viel Raum für Improvisation gibt es bei so einer Performance?
Karen Schlimp: Das Konzert ist improvisiert, aber mit Vorgaben. Es liegt im Bereich der freien Komposition oder Konzeptimprovisation. Es gibt Vorgaben, mit welchem Material bei welchem Bild gespielt wird, oder Vorgaben zeitlicher Art. Auch die Besetzung. wer wann spielt, ist festgelegt.
Credit: Vanessa Graf
Es ist also für Sie auch jedes Mal aufregend – nie zu wissen, was genau dabei herauskommt.
Karen Schlimp: Das ist ein bisschen der Reiz der Improvisation. Ich bin eine Improvisationskünstlerin und das reizt mich auch sehr. Es ist wie Seiltanzen: Man weiß, man kann das, aber trotzdem kann man abstürzen. Das Schöne ist, dass man alles, was rundherum passiert, einbeziehen kann. Bei einer Improvisation kann ich auf den Musiker oder die Musikerin reagieren. Ich kann mit ihm oder ihr zusammen ein neues Stück kreieren, ich kann die Energie, wie es dem Publikum geht, miteinbeziehen, ich kann mit dem Publikum spielen. Auf dieses Konzert bin ich sehr gespannt, da ich noch nie im Ars Electronica Center auf dieser Riesenleinwand im Deep Space gespielt habe. Ich bin gespannt, wie die Wirkung der Bühne im Vergleich zur Musik ist.
Der Deep Space ist wirklich eine andere Dimension …
Karen Schlimp: Was ich schön finde! Im Deep Space hat man das Gefühl, als würde man in den Körper einsteigen können. Man geht, glaube ich, viel mehr in das Bild hinein, als wenn man es irgendwo projiziert sieht. Es ist eine wunderschöne Möglichkeit: Man sitzt im Bild und hört die Musik, die es in irgendeiner Form repräsentiert.
Karen Schlimp wurde 1968 in Kärnten geboren. Sie besuchte das Musikgymnasium Viktring und lernte Klavier, Querflöte, Gesang und Violine am Kärntner Landeskonservatorium. Anschließend studierte sie Klavierpädagogik an der Musikuniversität Wien und absolvierte ein Performancediplom der Guilhallschool of Music and Drama in London. Außerdem machte sie eine Postgraduate-Improvisationsausbildung an der Hochschule für Musik in Leipzig. Seit 1995 ist sie Lehrkraft für Klavier als Pflichtfach, Lehrpraxis und Improvisation an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz. Seit 1996 unterrichtet sie außerdem an der Musikuniversität Wien. 2009 habilitierte sie im Fach Improvisation an der Bruckneruniversität Linz.
Das Konzert „UNDER YOUR SKIN/Bodyterms“ findet am 1. Dezember 2017 um 19:00 Uhr im Deep Space im Ars Electronica Center statt. Der Eintritt ist frei. Alle Informationen finden Sie hier.
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