Eine Schachtel, die den eigenen Kopf vergrößert. Ein mechanischer Schweif, den man sich um den Körper binden kann. Pappfiguren aus Google Street View Aufnahmen und ein Computerspiel, in dem man als wirklich alles spielen kann – bei den wechselnden Ausstellungen und Diskussionsrunden im japanischen Stadtkomplex Tokyo Midtown treffen Kunst, Technologie und gesellschaftskritische Themen aufeinander. Was bedeutet es, Perspektiven zu wechseln? Wie gehen wir mit dem modernen Informationsüberfluss um? Und wie beeinflussen sich Technologie und Gesellschaft gegenseitig?
Seit 2017 findet das Ars Electronica Futurelab gemeinsam mit Tokyo Midtown in regelmäßigen Ausstellungen und Talk Sessions gemeinsam mit den Menschen in Tokio heraus, wie mögliche Antworten auf diese Fragen aussehen könnten. Kyoko Kunoh und Hideaki Ogawa, KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen am Ars Electronica Futurelab, erzählen im Interview, warum die School of the Future ins Leben gerufen wurde, welche Ausgaben bereits stattfanden und wieso Diskussionen rund um gesellschaftsrelevante Themen nicht in geschlossenen Räumen stattfinden sollten.
Lasst uns mit etwas Grundsätzlichem beginnen – was ist eigentlich die School of the Future?
Kyoko Kunoh: School of the Future ist ein Programm von Ars Electronica und Tokyo Midtown, das wir 2017 starteten. Es besteht aus Ausstellungen und Diskussionsrunden. Die Idee unserer School of the Future ist, dass Leute über neue Trends in der Gesellschaft lernen können, über die man in Schulen nicht spricht. Es ist für Leute aller Altersgruppen geschaffen, das hängt ganz von der Ausstellung ab. Das erste Mal, als wir School of the Future veranstalteten, im Sommer 2017, gestalteten wir eine Ausstellung mit dem Namen „What IF?“ für Kinder jünger als 10 Jahre. Die zweite Ausstellung, „Out of Control“, zielte mehr auf Erwachsene, professionelle Designer und Designerinnen oder einfach Menschen, die sich für Design, Kunst und Gesellschaft interessieren.
Wie wurde die Idee für School of the Future entwickelt?
Hideaki Ogawa: Tokyo Midtown ist eine Art urbaner Komplex, bestehend aus einem Einkaufszentrum, einem Hotel, Bürogebäuden, Wohnungen, einem Krankenhaus, Museen, Parks, und so weiter, alle in einer gemeinsamen Umgebung. Es ist wie eine kleine Stadt mitten in Tokyo! Es ist eines der berühmtesten Stadtentwicklungsprojekte, mit sehr schönen offenen und kulturellen Räumen. Letztes Jahr feierten sie ihren zehnten Geburtstag und wollten dazu die Bedeutung ihrer Stadtverwaltung hervorheben. Wir trafen uns also, Tokyo Midtown hatte schon von uns gehört und auch wir wussten von diesem sehr berühmten Projekt. Also sprachen wir gemeinsam darüber, was der nächste, nachhaltige Schritt in diesem Prozess, die kleine Stadt von Tokyo Midtown zu bauen, sein könnte. Wir wollten eine sehr kreative Plattform für verschiedene Leute schaffen, insbesondere mit dem Ziel der Innovation. So begann also dieses Projekt.
Basierend auf der Umgebung von Tokyo Midtown besprachen wir, wie man eine Art von Schule schaffen könnte, in der Menschen zukünftige Momente erleben und auch Diskussionen über die Zukunft führen können. Wir hatten regelmäßige Meetings mit Tokyo Midtown, um herauszufinden, welche Themen für die Menschen, die in Tokyo Midtown leben oder es oft besuchen, relevant sind. Das ist auch der Grund, warum wir das Thema und die Zielgruppe für jede einzelne Ausgabe ändern, weil die Stadt einfach voller unterschiedlicher Leute ist. Danach begannen wir den Prozess des Kuratierens, natürlich abhängig vom Zeitrahmen und Thema. Unser Ziel ist es, eine wirkliche School of the Future zu schaffen, aber auch ein Lehrbuch der Zukunft, ein Textbook of the Future.
Credit: Tokyo Midtown
Es gab bereits zwei Ausgaben von School of the Future. Worum ging es bei der ersten?
Kyoko Kunoh: Die erste Ausstellung hatte den Namen „What IF?“. Es ging darum, die Perspektive der Besucher und Besucherinnen zu verändern. Wir luden drei Künstler ein, mitzumachen. Der erste war David O’Reilly, der letztes Jahr die Goldene Nica beim Prix Ars Electronica in der Kategorie Computer Animation gewann. Seine Arbeit heißt „Everything“. Es ist ein Videospiel, das den Spielern und Spielerinnen erlaubt, mit allem, was sie sehen, zu spielen – also ihren Blickwinkel ständig zu ändern. Man spielt also mit Blumen, Lebewesen, großen Dingen wie ganzen Planeten oder sehr kleinen Dingen wie Atomen oder Insekten. Der zweite Künstler, den wir vorstellen, war Ryota Kuwakubo, der seine Arbeiten bereits mehrmals am Ars Electronica Festival und auch im Ars Electronica Center zeigte. Der Titel der Arbeit, die wir in Tokyo Midtown präsentierten, lautet „SiliFulin“. Es ist ein beweglicher Schweif, den man an den eigenen Körper binden kann. Indem man den eigenen Körper verändert, kann man sich wie ein Tier fühlen. Es ist ein Projekt, bei dem das Publikum am eigenen Leib erleben kann, wie unsere Schweife unser Verhalten und unsere Kommunikation verändern. Das letzte Projekt war „Big Face“ von Daily Portal Z und Techno-Shugei Club. Es ist eine große Box, in die man seinen Kopf stecken kann. Vorne in der Box ist eine Linse. Es ist sehr einfach, aber wenn Menschen ihre Köpfe in die Box stecken, sehen die Köpfe ganz groß aus. Es ist eine andere Art zu zeigen, auf sehr simple Weise, wie man seine Perspektive verändern kann.
Credit: Tokyo Midtown
Hideaki Ogawa: Wir zeigten auch eine eigene Entwicklung des Ars Electronica Futurelab, „SWITCH“. Es ist eine Zusammenarbeit mit ELEKIT. Wir brachten einen SWITCH Workshop zum Publikum. Die Idee ist, dass Menschen den SWITCH benützen können, um ihr eigenes, individuelles „What IF?“ zu bilden. Die Besucher und Besucherinnen können Projekte wie „SWITCH“, „Everything“, „SiliFulin“, „Big Face“ und künstlerische Inspiration in dieser Umgebung dazu verwenden, Kindern bei der Findung ihres eigenen „What IF“-Moments zu helfen.
Kyoko Kunoh: Der SWITCH-Workshop fand jeden Tag für die Kinder statt. Insgesamt hatten wir für diese Ausgabe von School of the Future über 2000 Besucher und Besucherinnen an drei Tagen. Wir benutzten einen sehr offenen Bereich, zwischen einer U-Bahn-Station und dem Herzen von Tokyo Midtown. Es ist halb-öffentlich, viele Menschen kommen und gehen, also blieben auch viele bei der Ausstellung stehen.
Die zweite Ausgabe fand unter dem Titel „Out of Control“ statt…
Kyoko Kunoh: Wir benutzten diesen Titel bereits als Festivalthema 1991, außerdem gibt es eine dauerhafte Ausstellung zu diesem Thema im Ars Electronica Center. Für die Ausstellung in Tokyo Midtown konzentrierten wir uns auf Projekte, die sich mit der Informationsgesellschaft befassen. Der erste Künstler, den wir vorstellten, war Paolo Cirio, der schon mehrere Auszeichnungen beim Prix Ars Electronica gewonnen hat. Wir zeigten seine Arbeit „Street Ghosts“. Er benützt Google Street View und die Menschen, die mit verschwommenen Gesichtern damit aufgezeichnet wurden. Er druckt lebensgroße Abzüge dieser Personen und stellt sie an genau denselben Ort auf der Straße, wo ihre Bilder aufgenommen wurden. Für Tokyo Midtown benützten wir Google Street View Bilder von den Innenräumen des Gebäudes. Der Künstler platzierte die Pappfiguren von ungefähr acht Menschen in einen offenen Bereich in Tokyo Midtown. Als die Figuren dort standen, passierte etwas sehr interessantes – zwei der Leute, die von Google Street View aufgenommen wurden, kamen zur Ausstellung und sahen sich selbst! Eine Person machte sogar ein Foto von sich selbst und ihrer Pappfigur.
Credit: Tokyo Midtown
Welche anderen Projekte wurden in der Ausstellung gezeigt?
Kyoko Kunoh: Takahiro Yamaguchi und So Kanno, zwei Künstler aus Japan, zeigten ihre Arbeit „Asemic Languages“. Sie stellten die Arbeit bereits am Ars Electronica Festival 2017 in der POSTCITY Linz aus.
Hideaki Ogawa: Es ist ein Projekt, das nicht-lesbaren Text, der von einem Machine-Learning-System erstellt wird, präsentiert. Was ist die Bedeutung von Sprache in unserem Zeitalter von Social Media? Jeden Tag kommt eine Menge Information auf uns zu, wir bekommen ständig neuen Input, aber die eigentliche Bedeutung verliert sich. Die Bedeutung von Sprache oder einem Satz verschiebt sich. Im Zeitalter von Social Media haben wir viele Situation, die „Out of Control“, außer Kontrolle sind. Es gibt Regierungen, ohne Namen zu nennen, die behaupten, dass etwas fake sei, während andere Menschen behaupten, dass es eigentlich die Regierung ist, die fake sei. Wir wissen nicht mehr, was die Fälschung ist! Nicht nur Behörden, sondern auch gewöhnliche Menschen müssen das verdauen. Das ist der Grund, warum wir diese Arbeit ausgewählt haben – um die Frage nach der Bedeutung von Sprache und unsere Verantwortung, so viel Text oder Information in unseren Leben aufzunehmen, als individuelle Person, nicht nur als Schwarm, zu stellen. Ich glaube in diesem Sinne fragt das Projekt von Paolo Cirio nach Privatsphäre und Besitz im Zeitalter der Informationsgesellschaft. Das Projekt von Takahiro Yamaguchi und So Kanno stellt die Frage nach Bildung – wie kann man gebildet genug sein, um die vielen Texte zu verstehen, die in unseren täglichen Leben herumschwirren? Ars Electronica ermöglichte eine Diskussion mit Menschen, die Tokyo Midtown besuchen, an der auch die Künstler und der Manager von Tokyo Midtown teilnahmen. Es war wie eine Bürger- oder Bürgerinnenversammlung!
Credit: Tokyo Midtown
Wie fielen die Reaktionen der BesucherInnen auf die beiden Ausstellungen aus?
Kyoko Kunoh: Ich denke, es gab jede Menge Reaktionen zu beiden Ausstellungen. Ich war ein bisschen überrascht, vor allem bei der zweiten Ausgabe. Natürlich gibt es viele japanische Menschen in der Gegend, die sich für Kunst interessieren, aber normalerweise kommen nicht so viele Fragen vom Publikum. In Tokyo Midtown aber kamen viele Leute nicht nur zur Ausstellung, aber sie hatten auch viele Fragen für die Künstler und Ausstellungsmanager und –Managerinnen! Ich denke, es war wirklich sehr attraktiv für das Publikum.
Credit: Tokyo Midtown
Warum ist es nötig, diese Themen außerhalb einer konventionellen Schule zu diskutieren?
Kyoko Kunoh: Ich bin mir über die Schulen in Europa nicht sicher, aber in Japan ist es normal für die Lehrer und Lehrerinnen, sehr einseitig mit den Schülern und Schülerinnen zu sprechen. Es gibt nicht viele Diskussionen zwischen den Lehrenden und den Schülern und Schülerinnen. Das ändert sich gerade ein bisschen, aber nur sehr langsam – das Prinzip bleibt trotzdem bestehen. Die Lehrperson unterrichtet die Schüler und Schülerinnen. Mit dieser Art von Veranstaltungen oder Programmen schaffen wir jetzt Platz für eine Diskussion für wirklich alle. Menschen können die Themen miteinander diskutieren, das ist sehr wichtig. Wir können eine solche Plattform mit den Künstlern, Künstlerinnen und Menschen in Tokyo Midtown schaffen.
Hideaki Ogawa: Ich glaube außerdem, dass sich Technologie heutzutage extrem schnell entwickelt und dass das nicht mehr in geschlossenen Räumen wie Laboren passiert. Diese Veränderungen passieren überall rund um uns. Das Setting in Tokyo Midtown ist perfekt, weil eine Stadt immer auch eine Gesellschaft bedeutet. Indem wir die Veranstaltung als ein Pop-Up mitten in dieser Stadt durchführen, findet die Diskussion nicht in einer weißen Box oder einer limitierenden Umgebung wie einem Museum, einer Schule oder einer Schachtel statt, sondern mitten unter den Leuten. Wir benutzen Tokyo Midtown als eine Modellstadt, um die Umgebung als einen Raum für das Lernen zu öffnen und um über diese neuen Realitäten und sozialen Probleme zu sprechen, damit Menschen ihren eigenen Standpunkt beziehen können.
Credit: Tokyo Midtown
Woran arbeitet ihr für die zukünftigen Ausgaben von School of the Future?
Kyoko Kunoh: Dieses Jahr, 2018, planen wir eine kleine Ausstellung mit einer Diskussionsrunde rund um das Thema Arbeit. Es gibt so viele Büros in Tokyo Midtown, zusätzlich werden im April 2018 auch noch Coworking Spaces geöffnet. Wir planen, diese Räume zu nützen. Das japanische öffentliche Jahr startet auch im April, viele neue Arbeiter und Arbeiterinnen starten ihre Jobs rund um diese Zeit, es ist also ein wirklich guter Zeitpunkt, um über dieses Thema zu sprechen. Was ist zukünftige Arbeit? Future Work? Welche Rolle spielen Künstliche Intelligenz und andere Technologien in Bezug auf Arbeit und auch auf menschliche Arbeit ab jetzt? Wir wollen diese Art von Diskussionen auslösen.
Kyoko Kunoh ist Künstlerin und Wissenschaftlerin am Ars Electronica Futurelab. Sie beschäftigt sich extensiv mit Kunstwerken im Bereich der interaktiven Kunst und war in einer breiten Auswahl von Feldern aktiv, wie zum Beispiel als Leiterin im öffentlichen und kommerziellen Raum, Designerin von Ausstellungsprodukten, und in gemeinsamer Arbeit und Projekten mit Firmen und Universitäten. Ihre Projekte wurden an verschiedenen nationalen und internationalen Orten ausgestellt, unter anderem bei Ars Electronica (Österreich), SIGGRAPH (USA), Centre Pompidou (Frankreich) und dem Japan Media Arts Festival (Japan).
Hideaki Ogawa, kreativer Katalysator, Künstler, Kurator und Wissenschaftler im Ars Electronica Futurelab. Er realisierte viele Projekte für Innovation mit Industriepartnern wie Honda R&D, Toshiba, Toyota, Hakuhodo und mehr. Sein Fokus liegt besonders auf dem Bereich Art Thinking, um Innovation zu katalysieren. Sein Hauptprojekt, Future Catalysts, ist eine kreative und innovative Plattform, die gemeinsam von Hakuhodo und Ars Electronica entwickelt wurde. Durch eine Synergie mit distinkten, weltweiten InnovatorInnen in den Bereichen der Kunst, Wissenschaft und Technologie produziert das Projekt neue Konzepte, Ideen und Strategie, die als Antworten zu verschiedenen „kreativen Fragen“ dienen. Zusätzlich zu seiner Forschung an künstlerischer Innovation setzte Hideaki Ogawa internationale Projekte für Festivals, Exportprogramme wie Ars Electronica im Knowledge Capital und das Ars Electronica Center um. Seine Spezialthemen sind „Creative Catalyst“ und „Robotinity – What Is The Nature of Being a Robot“. Hideaki Ogawa ist außerdem ein Repräsentant und Künstlerischer Leiter der Medienkunstgruppe “h.o.”. Er sucht nach witzigen neuen Ideen, abhängig von aktuellen sozialen Kontexten, und realisiert künstlerischen Ausdruck mit der Geschwindigkeit von technologischem Fortschritt.
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