Das „Bildnis Trude Engel“ wirft Rätsel auf: Warum malte der berühmte Künstler Egon Schiele eine Zahnarzttochter? Woher stammen die Messerstiche im Gemälde? Und warum scheint unter dem Kopf von Trude Engel ein Totenschädel aufzuscheinen?
Das Gemälde aus dem Jahr 1912 zählt zu den Meisterwerken der Sammlung des LENTOS Kunstmuseum. Anlässlich des hundertsten Jahrestags des Todes von Egon Schiele (sowie von Gustav Klimt und Koloman Moser) werden die Werke der drei Meister, inklusive dem „Bildnis Trude Engel“ im Original, in der Ausstellung „1918 – Klimt – Moser – Schiele“ gezeigt. Beim Deep Space LIVE am 15.03.2018 erklärt Restaurator Andreas Strohhammer die Einzigartigkeit und die Geschichte des Gemäldes zuerst anhand von Gigapixelaufnahmen, bei deren Betrachtung spannende Details zum Vorschein kommen. Anschließend kann das Bild in der aktuellen Ausstellung mit einer Kuratorenführung im LENTOS vor Ort besichtigt werden.
Wir waren schon vorab bei Andreas Strohhammer im LENTOS zu Gast und haben herausgefunden, was eigentlich alles hinter dem berühmten Gemälde steckt.
Dieses Jahr jährt sich Egon Schieles Todestag zum hundertsten Mal. Was ist seine Bedeutung in der Kunstgeschichte?
Andreas Strohhammer: Egon Schiele zählt sicherlich zu einem der interessantesten und auch spektakulärsten Künstler, die um die Jahrhundertwende in Wien tätig waren. Er war in diesem Sog und diesem Umfeld der Aufbrüche der Sezession rund um Gustav Klimt und Oskar Kokoschka zuhause. Schiele fand eine eigene Bildsprache, die sehr exzentrisch und auch sehr ich-bezogen war. Er verarbeitete immer wieder Themen wie Geburt oder Tod, das alles in der Zeit des ersten Weltkrieges. 1918 war nicht nur das Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie, sondern auch eine Zäsur in der Kunst allgemeine, weil die drei bedeutenden Künstler Schiele, Klimt und Moser starben.
Sei markanter Zeichenstil, der Figuren in einer vorher nie gekannten oder gezeigten Verzerrung zeigt, ist einzigartig. Das begründet sich vielleicht daraus, dass er auch Zeichner war. Seine Sicht auf den Körper, ob das jetzt der weibliche oder der männliche Körper ist, oft in seiner Nacktheit, diese Erotik, diese Sexualität, die hinter seiner Kunst steckt – es gab sicherlich damals auch Aufbruchsstimmung, die vorher so nicht gesehen war. Vielleicht sogar eine Art sexuelle Befreiung! Man muss hier auch den Zusammenhang mit der Literatur sehen, Arthur Schnitzlers „Reigen“ entstand zum Beispiel um diese Zeit. Letztendlich kann man aber in so einen Menschen nicht hineinschauen. Was wir interpretieren oder auch psychoanalytisch meinen, zu deuten, bleibt immer eine Interpretation.
Was hat es mit dem Bildnis von Trude Engel auf sich?
Andreas Strohhammer: Zuerst einmal muss man festhalten: Es ist ein Porträt. Trude Engel war die Tochter des Zahnarztes von Egon Schiele. Hermann Engel wurde dem Künstler empfohlen, weil es bekannt war, dass er als Gegenleistung für die zahnärztliche Behandlung Bilder entgegennahm. So entstand auch das Bildnis der Trude Engel. Es war eine Gegenleistung. Es gibt Zeichnungen von Trude Engel, die schon ein bisschen früher entstanden. Das Porträt selbst zeigt ein heranwachsendes Mädchen im Alter von 13 oder 14 Jahren mit langen, dunklen, wallenden Haaren in einer Frontalansicht. Das Spektakuläre ist eigentlich, dass wir festgestellt haben, dass noch etwas anderes unter diesem Bild liegt. Dazu haben wir Röntgenaufnahmen gemacht und konnten feststellen, dass sich unter dem Kopf des Bildnisses noch ein zweiter Kopf befindet, der wie ein Totenkopf oder Schädel aussieht.
Welche Theorien gibt es dazu, warum dieser Totenkopf sich hier befindet?
Andreas Strohhammer: Wahrscheinlich hat Schiele für dieses Porträt eine Leinwand verwendet, auf die schon einmal gemalt wurde. Das haben Künstler öfter gemacht, dass sie Kompositionen oder Bilder, die sie schon angelegt hatten, verwarfen und dann etwas anderes darauf malten. Gerade bei Schiele kennt man so etwas durchaus. Es gibt ein Beispiel aus Graz, von einem Bild einer Krumauer Landschaft, unter der sich ein Porträt befindet, und auch im Kunsthaus Zürich wurde ein Fall gefunden, in dem sich eine Landschaft unter einem anderen Stadtbild befindet. Immer nur rudimentär, wie auch bei diesem Bild. Beim „Bildnis Trude Engel“ war eine andere Komposition angelegt, möglicherweise eine Art Madonnenbild, und es gibt Aquarelle und Skizzen, die mögliche Entwürfe sind.
Gigapixel im Deep Space 8K. Credit: Ars Electronica / Robert Bauernhansl
Was ist aus der Sicht eines Restaurators spannend an diesem Porträt?
Andreas Strohhammer: Das Interessante ist die kunsttechnologische Untersuchung. Als Restaurator interessiert man sich für das „Making Of“, also wie das Bild entstanden ist, welche Materialien verwendet wurden, was sich im Laufe der Zeit verändert hat, wie das Bild altert, welche Schäden es genommen hat und was man daraus schließen kann. Das ist bei diesem Bild sehr interessant. In den 90er-Jahren wir haben einen Brief von Fritz Engel erhalten, dem Bruder von Trude Engel. Er lebte damals in London, war schon über 90 Jahre alt und hatte das Bild im Original nie gesehen. Er wusste aber, dass Trude Engel über dieses Bild sehr erzürnt war und darauf mit einem Messer einstach. Er schrieb, dass sie einen langen Schnitt quer durch die Leinwand vollführte – das konnte man jedoch nicht feststellen. Mithilfe der Röntgenaufnahme konnten wir aber sehen, dass zahlreiche Messereinstiche an dem Bild festzustellen sind, die später repariert oder restauriert wurden. Eigentlich ist das für die damalige Zeit sogar sehr geschickt gemacht, man hat Pappstreifen aufgeklebt, vorne etwas zugekittet und ganz fein retuschiert. Auf der Vorderseite sind diese Verletzungen beinahe unsichtbar. Auf der Rückseite zeichnen sie sich ab.
Warum war Trude Engel so erzürnt über dieses Bild?
Andreas Strohhammer: Das ist schwer zu sagen. Es gibt verschiedene Hypothesen. Es könnte sein, dass sie sich über Schiele sehr geärgert hat. Möglicherweise gab es sexuelle Beziehungen zwischen den beiden, die aber nicht nachweisbar sind und die man auch nicht glauben kann. Dennoch steht diese Theorie im Raum, dass er von ihr sehr angetan war. Möglicherweise wollte er sie auch als Nacktmodell zeichnen. Sie war damals noch ein Mädchen, so etwas geht natürlich gar nicht. Es muss aber auf alle Fälle irgendeinen Disput gegeben haben zwischen Schiele und Trude Engel. Schiele hat anscheinend das Haus der Engels längere Zeit nicht betreten, war auch sehr verärgert. Es könnte auch sein, dass diese Verletzungen ein bisschen später entstanden, als das Porträt möglicherweise schon vollendet war. Vielleicht hat sie in einer Art pubertären Wutanfall darauf eingestochen. Die Quellenlage ist ein sehr vage und auch in dem Brief des Bruders steht nicht alles. Wenn sich ein 90-jähriger Mann an eine Zeit erinnert, die so lange zurückliegt, kann man nicht alles glauben, was da steht. Diese Art der Quellenlage ist immer mit Vorsicht zu genießen.
Was wird man beim Vortrag im Deep Space sehen können?
Andreas Strohhammer: Zusätzlich zum Porträt werden wir im Deep Space auch die Röntgenaufnahmen zeigen. Das wird sicherlich sehr spannend! Es ist fast so etwas wie eine kriminologische Untersuchung, wo man fast forensisch an Spuren herangeht.
Andreas Strohhammer. Credit: Vanessa Graf
Neue Technologien sind also auch für alte Kunstwerke relevant…
Andreas Strohhammer: Eigentlich schon ab dem Zeitpunkt, seitdem es die Röntgenstrahlung gibt, hat man damit Versuche in der Kunst gemacht. Die jetzige Technik, die digitale Röntgentechnik, ist natürlich wesentlich fortgeschrittener und wesentlich genauer. Sie hat viel mehr Grauabstufungen als das noch bei klassischen Röntgenaufnahmen der Fall war, bei denen man einen Film entwickeln musste. Jetzt ist die Intensität oder auch die Zeichnung der Details wesentlich genauer. Man sieht jeden Leinwandknoten! An den Stellen, an denen das Material dichter ist, zeichnet sich das heller ab. Wo es durchlässig ist, wird der Film sozusagen geschwärzt. Bei Kunstwerken passiert das dann, wenn man vorwiegend mit metallhaltigen Pigmenten malt, also mit Bleiweiß oder Zinkweiß zum Beispiel. Eine Röntgenaufnahme muss man auch interpretieren können. Es entsteht nicht nur ein tolles, wissenschaftliches Bild, das spektakulär aussieht, sondern man muss genau wissen, welche Fragestellung dahintersteckt und was man daraus lernen kann. Dasselbe gilt für Untersuchungstechniken wie Infrarotreflektografie, bei der das Bild im Infrarotlichtbereich abgefilmt, fotografiert oder aufgenommen wird. Es ist keine komplette Durchleuchtung, aber man kann dadurch Unterzeichnungen oder Kompositionsänderungen ablesen.
Gibt es auch Details im Bildnis Trude Engel, die man mit bloßem Auge eigentlich gar nicht sehen kann, im Deep Space aber schon?
Andreas Strohhammer: Schiele hat zum Beispiel eine Technik angewandt, bei der er teilweise in die feuchte Farbe hineingekratzt hat. Die weißen Pupillenflecken, die Reflexe auf den Augen, sind zum Beispiel nicht mit weißer Farbe aufgemalt, sondern herausgekratzt. Genauso auch die weiße Partie zwischen den Lippen, beim Mund, wo ein bisschen die Zähne rausschauen, das ist auch herausgekratzt und nicht aufgemalt. So etwas sieht man eigentlich nur, wenn man es unter dem Mikroskop anschaut oder eben entsprechend hineinzoomt.
Der Deep Space LIVE „Egon Schiele – A Closer Look at Trude Engel“ findet am 15.03.2018 um 19:00 Uhr im Ars Electronica Center statt. Danach, um 20:00 Uhr, schließt eine Kuratorenführung durch die Ausstellung „1918 – Klimt – Moser – Schiele“ im LENTOS Kunstmuseum den Abend. Der Museumseintritt beträgt 6€, die Führung ist gratis. Um Anmeldung uner 0732 7070 oder info@mag.linz.at wird gebeten. Mehr Informationen finden Sie auf unserer Webseite.
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