Die Digitale Revolution hat unser Leben stark geprägt – Grund genug, um laufend einen Blick auf diese Veränderung(en) zu werfen, sie zu analysieren und ihre Auswirkungen und Bedeutungen zu identifizieren. Genau diese Rolle ist es, die die Künstlerinnen und Künstler bei der Ars Electronica seit 40 Jahren immer wieder einnehmen und dies auch die nächsten Jahre tun werden. „Out of the Box – die Midlife-Crisis der Digitalen Revolution“ soll zeigen, dass man nicht automatisch die passive Opferrolle einnehmen braucht, sondern im Gegenteil, dass man sich kritisch mit der Entwicklung beschäftigen muss und aktiv an unserer Zukunft mitgestalten kann. Wir haben mit dem künstlerischen Leiter der Ars Electronica, Gerfried Stocker, über Thema des Ars Electronica Festival 2019, das von 5. bis 9. September 2019 unter anderem in der POSTCITY Linz stattfinden wird, gesprochen.
40 Jahre Ars, Electronica, Festival – 40 Jahre Kunst, Technologie, Gesellschaft. Wie aktuell ist dieses Zusammenspiel dieser drei Bereiche heute noch?
Gerfried Stocker: 40 Jahre Ars Electronica, das sind 40 Jahre „Art Thinking“. Das ist ein mittlerweile international etablierter Begriff, der beschreibt, die Welt durch die Augen der Kunst zu verstehen und das auf die technologische Entwicklung und die Zukunft der Gesellschaft zu übertragen. Kunst ist hier die „Second Opinion“ für kritische Menschen, sie ist die zweite Meinung zur Digitalen Revolution. Das ist etwas, das heute nach 40 Jahren so richtig klar wird, wie unheimlich toll und tragfähig die grundlegende Idee der Ars Electronica mittlerweile ist.
Wir leben in einer Welt, in der wir uns immer eine zweite Meinung holen. Und ausgerechnet bei dem, was unsere Welt am stärksten verändert, haben wir so lange gebraucht, um uns überhaupt eine Meinung zu bilden. Diese 40 Jahre Ars Electronica sind 40 Jahre Digitale Revolution – eine Epoche, in der die Computer und die digitalen Systeme aus den Industrien und Laboren in unseren Alltag hineingegangen sind. Wir stehen jetzt an einem Übergang. Bisher haben wir all das digitalisiert, was die industrielle Welt schon hatte, heute sind auch unsere sozialen Beziehungen digital geworden.
Wenn wir 1979 und 2019 vergleichen, wie hat uns die Digitale Revolution verändert?
Gerfried Stocker: Dazu gibt es viele Beispiele! Mit dem Smartphone hat 2019 jeder von uns einen Computer in der Tasche. Beinahe 4,5 Milliarden Menschen sind an das Internet angeschlossen. Man könnte jetzt meinen, wir haben es erreicht. Es gibt mehr Facebook-UserInnen als es ChristInnen auf der Welt gibt, die zweitgrößte Menschengemeinschaft. Während Religionen Jahrtausende gebraucht haben, um so groß zu werden, haben dies soziale Netzwerke in nur wenigen Jahren geschafft.
1979 brachte Sony seinen ersten Walkman auf den Markt – mittlerweile können wir die ganze Elektronik inklusiver unserer riesigen Music Library in einem kleinen Ohrstöpsel verpacken. Vom ersten Personal Computer bis hin zum Smartphone, von klobigen Laptops bis zu faltbaren Bildschirmen, von tragbaren Mobiltelefonen bis zur Smart Watch… Damals konnte man mit einem Optokoppler 300 Bit pro Sekunde übertragen, heute erlauben die schnellsten Datenleitungen über 1,6 Terabit pro Sekunde. 1979 war das Internet nur über wenige Knoten – vor allem in den USA – erreichbar, heute ist die Welt über alle Kontinente unglaublich stark vernetzt. Digitale Konzerne verdrängen immer mehr die klassischen Industrien an der Spitze der größten Unternehmen der Welt – unter ihnen auch immer mehr asiatische Konzerne.
Für Ars Electronica war es immer wichtig, sich nicht nur die Digitale Revolution anzusehen, sondern auch die massive und stärker wirkende gentechnologische Revolution: 1978 kam Louise Brown als erstes Retortenbaby auf die Welt, 40 Jahre später gibt es eine Meldung aus China, dass die weltweit ersten genmanipulierten Babys geboren wurden – mittels der CRISPR-Technologie wurde hier ein Genom verändert, um sie für den Rest ihres Lebens HIV-immun zu machen.
„Die Fragen, die wir uns als Gesellschaft in den nächsten 40 Jahren dazu stellen werden, wenn wir damit in die menschliche Keimbahn eingreifen, sind wahrscheinlich noch die größeren Herausforderungen als mit Künstlicher Intelligenz umzugehen.“
Das Ars Electronica Festival richtet seinen Blick auch nach vorne – inwiefern können wir von damals lernen?
Gerfried Stocker: Die vergangenen 40 Jahre sollten wir uns nicht zum Vorbild für die nächsten 40 Jahre nehmen. 1979 ist in Österreich das Gleichbehandlungsgesetz für die Privatwirtschaft erlassen worden, 40 Jahre später ist Österreich im Global Gender Gap Report, der ungefähr 170 Länder umfasst, an Platz 53! Das achtreichste Land der Welt ist nicht in der Lage, mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zustande zu bringen als Platz 53. 1979 beginnt eine riesige Demonstration der Frauen in Teheran gegen die Zwangsverschleierung , jetzt haben wir das Thema in ganz anderer Form in österreichischen Schulen, Kindergärten und auf den Straßen. Ein vergleichender Blick auf die Satellitenaufnahmen des höchsten Berges Österreichs, dem Großglockner, macht erschreckend klar, wie rapide die Gletscherschmelze voranschreitet. 1978 gab es in Österreich eine Volksabstimmung gegen die Errichtung des Atomkraftwerks Zwentendorf, jetzt reist die junge Greta Thunberg mit dem Zug nach Davos und löst etwas aus, was sich mittlerweile bis zu uns fortgesetzt hat, die Fridays-for-Future-Bewegung – eine junge Generation, die sich um die nächsten 40 Jahre Sorgen macht.
Was hat all das mit „Out of the Box“ zu tun?
Gerfried Stocker: „Out of the Box“ kann vieles heißen: Es geht um fertige Produkte, die man nur aufmachen muss und unmittelbar verwenden kann. Aber so sollte die Digitale Revolution nicht sein – wir benötigen Technologien, mit denen wir gestalten können und die wir nicht nur dazu nutzen, um etwas online zu bestellen. Für uns als Gesellschaft muss „Out of the Box“ folgendes heißen: Wir müssen heraus aus der Deckung gehen, heraus aus der Komfortzone! Und wir dürfen uns nicht länger dem Irrglauben hingeben, dass wir die Verantwortung für das, was wir gerade starten, nicht übernehmen müssen.
Was wir gerade starten ist diese enorme Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. In den nächsten 40 Jahren, wenn es wahr ist, kommt es zur sogenannten Singularität – es geht dann nicht mehr nur um intelligentere und schnellere Programme, sondern um etwas wie eine Bewusstseinsbildung der digitalen Systeme. In den nächsten 40 Jahren könnten Prototypen eines Quantencomputers tatsächlich zur Realität gehören.
Was uns in den nächsten 40 Jahren ziemlich sicher beschäftigen wird, ist, dass wir es in Zukunft nicht mehr nur mit Flüchtlingen vor Krieg und Gewalt zu tun haben sondern auch mit jenen Menschen, die vor den Auswirkungen des Klimawandels flüchten, der unsere Erde immer mehr zerstört.
Vor 50 Jahren sind die Menschen zum Mond geflogen. Hier ist auch das wunderbare Bild des Blauen Planeten von außen entstanden, das uns dazu gebracht hat, über die Umwelt ganz neu zu denken. Jetzt gibt es Satellitenbilder unseres Planeten, die beispielsweise die Wassertemperaturen zeigt und man hier eindeutig erkennt, wie weit in den Ozean hinaus die Wassererwärmung schon greift.
„Und natürlich wird uns die nächsten 40 Jahre das beschäftigen, was Ars Electronica schon immer beschäftigt hat: Wie schaut diese Schnittstelle, dieses Miteinander von Menschen und Maschine, aus?“
Wer wird besser sein – Mensch oder Maschine?
Gerfried Stocker: Dazu gibt es zwei gute Beispiele, die derzeit viral als Videos in den sozialen Medien zirkulieren. Da ist zum einen die nächste Entwicklung von Boston Dynamics, ein humanoider Roboter, der über Hindernisse springen kann, und zum anderen die beeindruckende Performance der Bodenturnerin Katelyn Ohashi. Im Vergleich zum Menschen wirkt hier die Technologie noch sehr unbeholfen.
Aber geht es nicht darum, ob die Maschine oder der Mensch besser ist. Das, wo wir im Denken hinkommen müssen, das ist ausschließlich eine kulturelle Leistung, dafür braucht es Events wie die Ars Electronica und die Tausenden von KünstlerInnen, die mit uns arbeiten: Es ist geht nicht mehr um Mensch gegen Maschine – beides sind Höchstleistungen! Jede Kleinigkeit dieses Roboters ist zurückzuführen auf die Leistungen des Menschen, genauso wie die harte Trainingsarbeit der Turnerin. Mit so einem Verständnis können wir sehr gut in die nächsten 40 Jahre hineingehen. Mit „Out of the Box“ wollen wir heuer die Grundlage für die nächsten 40 Jahre Ars Electronica etablieren, sich kritisch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen und die Realität durch die Augen der Kunst zu betrachten.
Gerfried Stocker ist Medienkünstler und Ingenieur der Nachrichtentechnik. 1991 gründete er xspace, ein Team zur Realisierung interdisziplinärer Projekte, das zahlreiche Installationen und Performance-Projekte im Bereich Interaktion, Robotik und Telekommunikation realisiert hat. Seit 1995 ist Gerfried Stocker künstlerischer Geschäftsführer von Ars Electronica. 1995/96 entwickelte er mit einem kleinen Team von KünstlerInnen und TechnikerInnen die richtungsweisenden neuen Ausstellungsstrategien des Ars Electronica Center und betrieb den Aufbau einer eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilung, des Ars Electronica Futurelab. Unter seiner Führung wurden ab 2004 das Programm für internationale Ars Electronica Ausstellungen aufgebaut und ab 2005 die Planung und inhaltliche Neupositionierung für das neue und erweiterte Ars Electronica Center aufgenommen und umgesetzt. Im Jänner 2009 wurde das ausgebaute Ars Electronica Center in Betrieb genommen.
Von 5. bis 9. September 2019 lädt das Ars Electronica Festival in Linz, Österreich, unter dem Motto „Out of the Box – die Midlife-Crisis der Digitalen Revolution“ gemeinsam mit KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen, IngenieurInnen, DesignerInnen, TechnologInnen, Entrepreneurs und Social Activists aus der ganzen Welt zu Konferenzen, Podiumsdiskussionen, Workshops, Ausstellungen, Performances, Interventionen und Konzerten. Mehr dazu finden Sie auf ars.electronica.art/outofthebox!