Covid-19 macht wirklich überall alles anders, so viel steht fest. Für die sieben Jury-Mitglieder des STARTS Prize der Europäischen Kommission bedeutet dies, im Extremfall zum Morgenkaffee oder im Fast-schon-Schlaf-Modus online zusammenzukommen und aus hunderten Einreichungen die Gewinnerprojekte zu wählen. An einem Wochenende.
Am schwersten trifft es Japan und Kalifornien – Nobu Ide hat den Tag hinter sich, Clara Blume zwingt sich an den Arbeitsplatz. Auch wenn es zunächst unmöglich scheint, die Gespräche kommen rasch in Gang – mit jedem neuen Tag, weiteren Eingrenzungen bei den Projekten, detaillierteren Diskussionsmotiven findet die Jury schneller zusammen. Mit jedem weiteren Tag setzt aber auch ein bisschen mehr Wehmut ein, der Möglichkeit eines persönlichen Kennenlernens beraubt zu sein.
In einem dreitägigen Prozess wählte die Jury des STARTS Prize 2020 Gewinnerprojekte in den beiden Kategorien Innovative Collaboration und Artistic Exploration, die Mitte Juni bekanntgegeben werden. Wir haben uns mit den drei Jury-Mitgliedern Mara Balestrini, Clara Blume und Domhnaill Hernon (online) getroffen und über den Einfluss von Covid-19, den Unterschied zwischen Design und Kunst, Kreislaufwirtschaft und die Nützlichkeit von Excel-Listen gesprochen.
Wie war das Jury-Wochenende für euch? Und wie seid ihr mit der Situation umgegangen, dass alles ausschließlich online stattfind?
Clara Blume: Ich persönlich empfand den Ablauf als wirklich reibungslos. Alle JurorInnen waren sehr professionell, sehr engagiert, sehr ernsthaft. Niemand hetzte durch die Projekte, Unklarheiten wurden erklärt, der Hintergrund einzelner Künstlerinnen und Künstler studiert. Zudem gingen alle sehr respektvoll miteinander um – was natürlich daran liegt, dass wir diese kleinen Kacheln auf einem Bildschirm waren und niemand jemanden unterbrechen will. Aber das ist natürlich auch etwas, das ich bei all den virtuellen Treffen beobachte, die ich im Moment habe – das Fehlen visueller Hinweise, der nonverbalen physischen Interaktion. Das nimmt der Konversation das Tempo und gibt einem das Gefühl, dass es eher eine interaktive Diskussion gewesen wäre, wenn wir uns physisch in einem Raum befunden hätten.
Der Grad an Zurückhaltung war in meinem Fall auch höher, weil es sechs Uhr morgens war. Ich hatte also meinen ersten Morgenkaffee, während es in Tokio bereits 22 Uhr war. Die einen näherten sich also dem Ende des Tages und der geistigen Leistungsfähigkeit, während die anderen erwachten. Solch unterschiedliche physische und psychische Zustände machen einen Unterschied. Und mal ehrlich, in Kaffeepausen werden viele Dinge diskutiert. Man konnte merken, dass wir keine Gelegenheit hatten, Dinge inoffiziell zu besprechen.
Mara Balestrini: Dies war mein erstes Mal als Jurymitglied des STARTS Prize, daher habe ich mich sehr darauf gefreut, nach Linz zu kommen und alle kennenzulernen. Was nun nicht ging, aber ich hoffe sehr, das nachholen zu können…
Ich habe die Gespräche mit den anderen Jurymitgliedern sehr genossen. Ich habe versucht, bei meinen Bewertungen sehr fair vorzugehen, und brauchte dabei auch die Meinung meiner Kolleginnen und Kollegen. Die Möglichkeit, Ideen zurückzuspielen und zur Klärung bestimmter Punkte, bestimmter Aspekte der verschiedenen Projekte beizutragen, war sehr wertvoll. Und dieser gesamte Prozess war etwas, das mir großen Spaß gemacht hat.
Domhnaill Hernon: Ich fand die Zusammensetzung der Jury sehr interessant und vielfältig, was von entscheidender Bedeutung ist, denn wenn wir alle dasselbe denken, hat das nicht viel Wert. Die Jurymitglieder hatten unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen, und jeder brachte seine Gedanken und Bedenken auf professionelle und transparente Weise zur Sprache.
Es ist einfacher, die Perspektive einer anderen Person zu verstehen, wenn man sie persönlich kennenlernt. Ich etwa habe eine recht direkte Art, was leicht aggressiv wirken kann. Kennt man mich, weiß man aber, dass das eigentlich gar nicht meine Absicht ist, sondern nur die Art, wie ich kommuniziere. Das ist die Herausforderung der Kommunikation auf Distanz. Und natürlich hätte ich die anderen Jurymitglieder gerne besser kennengelernt.
Aber wie wir als Jury die Projekte behandelt haben, hat gut funktioniert. Das Team der Ars Electronica hat viel Spielraum und Flexibilität gelassen und dafür gesorgt, dass sich die Gespräche organisch entwickeln konnten. Am Ende wurden die richtigen Projekte ausgewählt.
Seid ihr zufrieden damit, wie die Situation gehandhabt wurde, welche Instrumente eingesetzt wurden und wie sich die Kommunikation entwickelt hat?
Mara Balestrini: Etwas, das unmöglich schien, wurde möglich und handhabbar. Als ich die Nachricht mit den Informationen erhielt, wie viele Projekte wir zu beurteilen hatten, und dann die Tatsache, dass wir bis Sonntag zwei GewinnerInnen zu wählen hatten, dachte ich nur, das sei unmöglich. Aber die Art und Weise, wie der Prozess strukturiert war, half uns, einen Konsens zu erreichen.
Domhnaill Hernon: Ich fand auch, dass es gut funktioniert hat. Ich hatte diese bestimmten Tools noch nie zuvor benutzt und fand sie wirklich hilfreich. Am geteilten Bildschirm konnte ich die Bewegung des Moderators verfolgen, während ich in meiner eigenen Ansicht eine andere Darstellung wählen konnte. Ich konnte auch den Gesichtsausdruck meiner Jury-Kollegen während der Diskussion sehen, was den Kontext bereicherte.
Mara Balestrini: Ich stimme zu. Ich habe die Whiteboard-App geliebt. Ich bin so ein visueller Mensch. Auf dem Whiteboard waren die eingereichten Projekte gruppiert und nach Kategorien geordnet, was den Prozess der Entscheidungsfindung sehr erleichtert hat.
Clara Blume: …sonst wären manche Projekte einfach durch das Raster gefallen. Denn es ist eine immense Menge an Projekten, über die man den Überblick behalten muss. Und so war es uns möglich, zurück zu kreisen und einige vergessene Projekte wiederzubeleben, die anfangs nicht zu den Favoriten gehörten.
Wie seid ihr an die vielen Projekte herangegangen, die eingereicht wurden? Habt ihr für euch selbst Kriterien zur Bewertung festgelegt?
Domhnaill Hernon: Ich habe meine eigene Excel-Tabelle verwendet, in die ich alle Projekte aus der Datenbank kopiert und Spalten hinzugefügt habe mit den wichtigsten Kriterien: menschlich-industrielles Bedürfnis, Originalität, Kollaboration, Vielfalt, Fusion von Wissenschaft, Technologie und Kunst. Dann sah ich jedes Projekt an und vergab für jedes Kriterium zwischen einem und fünf Punkten. So ging das sehr schnell und darüber hinaus konnte ich jedes Projekt konsistent bewerten. Das ist wichtig, denn wenn man sich mehr als 100 Projekte ansieht, könnte man je nach Tageszeit und Stimmung die Projekte unterschiedlich bewerten, wenn man keine konsistenten Kriterien hat.
Clara Blume: Ich hatte zu Beginn einen etwas anderen Ansatz. Ich schaute mir jedes Projekt dreimal an, weil ich mir selbst beim ersten Mal nicht traute. Also bewertete ich sie neu und noch einmal – und war überrascht zu sehen, wie unterschiedlich meine Beurteilungen teilweise waren. Domhnailll schlug einige Bewertungskriterien vor, die mir halfen, Projekte zu priorisieren, die für mich anfangs keine Priorität hatten. Außerdem gruppierte ich die Projekte nach Disziplinen und Ansätzen und erkannte so Trends.
Jedes Jurymitglied hat ein wenig anders evaluiert, je nach beruflichem Hintergrund. Diese unterschiedlichen Ansätze haben sich am Ende enorm vorteilhaft herausgestellt, weil sie alle in die abschließende Diskussion einflossen und die Entscheidung so breit aufgestellt war.
Mara Balestrini: Ich hab mir zuerst alle Projekte angesehen, einfach um mir ein Bild davon zu machen, was alles da ist. Dann habe ich meine Zeit strukturiert. Ich hatte fünf Tage Zeit, jeden Tag nahm ich die gleiche Anzahl von Stunden und dann, nachdem ich alle gesehen hatte, begann ich damit, sie nach meinen und den STARTS-Kriterien zu bewerten. Hatte ich irgendwo Zweifel oder war unsicher, habe ich das Projekt mit einen Sternchen versehen und bin am nächsten Tag noch mal darauf zurückgekommen. In einigen Fällen bin ich froh, dass ich es getan habe, weil ich meine Meinung geändert habe.
Was waren die zentralen Fragen, die während des Juryprozesses auftauchten? Erzählt uns von euren wichtigsten Diskussionen.
Mara Balestrini: Was bringt das Künstlerische mit sich, wann ist etwas Kunst, unterschiedliche Auffassungen generell, auch über die politische Botschaft. Wo stehen wir und was bedeutet das? Wie positionieren wir uns?
Eine besondere Bemerkung, an die ich mich erinnere, war, dass wir gerade jetzt in dieser Covid19-Krise leben, wieviel Raum sie in unseren Leben einnimmt und was sie für die Menschheit als Ganzes bedeutet. Wie ist unsere Position als Jury, die wir im Angesicht dessen einnehmen? Was ist die Aussage der Projektwahl, die wir treffen? Selbst wenn wir diese Aussage nicht so artikulieren, wird sie als Botschaft gelesen werden. Und das galt es stets mitzudenken…
Clara Blume: Eine immer wiederkehrende Frage war die von Kunst versus Design. Auch, wie man Projekte konsistent bewerten soll, wenn eines unendlich viele Ressourcen hat und institutionell breit aufgestellt ist, das andere aber ein kleiner Prozess ist, das von einem Künstler/einer Künstlerin in einem Atelier oder in seinem Wohnzimmer verwirklicht wird. Können wir diese beiden Projekte wirklich konsequent und mit dem gleichen Verständnis beurteilen? Ich empfand das fast wie beim Boxen – ich hätte sie in verschiedene Gewichtsklassen eingeteilt.
Das waren zwei der großen Themen – und natürlich, worauf Mara bereits hingewiesen hat, dass nichts wirklich mit der Situation zu vergleichen ist, in der wir jetzt leben. Wir standen vor einer Erklärung über eine beispiellose Krise und waren mit Projekten konfrontiert, die nicht als Reaktion auf diese Krise gemacht oder eingereicht wurden.
Domhnaill Hernon: Für mich war es auch die Debatte um die Unterschiede zwischen Design und Kunst. Viele der Projekte, die ich evaluiert habe, waren Designprojekte. Einige einfach nur Design, andere Design plus ein bisschen Kunst und dann einige, die ich als wirklich künstlerisch bezeichnen würde. Glücklicherweise kamen wir im Juryprozess sehr schnell zu dem Punkt, an dem wir über die wirklich, wirklich starken Projekte sprachen.
Design und Kunst werden ständig verwechselt, obwohl sie nicht dasselbe sind. Es gibt Elemente der Kunst im Design. Designer können künstlerisch sein. Aber die Disziplinen und die Herangehensweise, die Ausbildung und die Art und Weise, wie man die Dinge in Kunst und Design angeht, sind völlig verschieden. Das war ein wirklich großer Punkt der Debatte, auch ein sehr spannender.
Welche Themen wurden am häufigsten angesprochen? Konntet ihr irgendwelche Trends für 2020 identifizieren? Gibt es Themen, die ihr vermisst habt?
Domhnaill Hernon: Der auffälligste Trend oder vielleicht der Trend, der die stärksten Einreichungen hatte, war rund um Kreislaufwirtschaft, Nachhaltigkeit, Recycling. Bei den Designprojekten gab es viele rund um Wearables und Transhumanismus.
Was ich vermisst habe? Ich hätte gerne etwas gesehen, was noch nie da war. Alle Projekte, auch die stärksten, waren eine neue Sichtweise oder eine neue Art, etwas zu tun, was es schon gibt. Meine Begeisterung an der Verschmelzung von Wissenschaft, Technologie und Kunst kommt von der Tatsache, dass die Künste oft eine völlig andere Perspektive auf das bringen können, was Wissenschaft und Technologie ist. Und ich glaube, dass diese Art von tief philosophischer, erschütternder Erkenntnis einen dazu bringt, über etwas nachzudenken, worüber man noch nie zuvor nachgedacht hat. Und das habe ich unter den Einreichungen des diesjährigen STARTS Prize nicht gesehen – aber das ist eine extrem seltene Erfahrung!
Mara Balestrini: Für mich war das größte Thema Nachhaltigkeit und Zirkularität, materielles Leben, materielle Zusammensetzung – es gab eine Vielzahl von Projekten zu diesen Themen. Eine weitere Sache ist die Beziehung zwischen Menschen und Pflanzen, die in den letzten Jahren immer wieder auftaucht und über Nachhaltigkeit hinausgeht. Ich würde es in einen Zusammenhang mit aktuellen Technologien und der Verbundenheit aller Lebensformen stellen. Das ist ein Diskurs, der sich über die letzten Jahre stark entwickelt hat und konkrete Formen hervorbringt – wie eine Lampe, die eigentlich eine Pflanze ist, also ein sehr konkretes, greifbares Produkt.
Was mich überrascht hat, war das Fehlen von Projekten zu Künstlicher Intelligenz. Was ich völlig vermisst habe, war die Beteiligung oder das Engagement der Öffentlichkeit. Ich hatte erwartet, viel mehr partizipatorische Projekte zu sehen.
Clara Blume: Ich stimme zu, das dominanteste Thema war die Kreislaufwirtschaft, was unsere Entscheidung als Jury geprägt hat. In einem breiteren gesellschaftlichen Kontext fand ich faszinierend zu sehen, wie die Politik die gesellschaftliche Wahrnehmung und die gesellschaftliche Reaktion beeinflusst. Und damit auch den künstlerischen Output prägt. 3D-Druck ist auf dem Vormarsch, natürlich weiterhin das Experimentieren mit neuen Textilien und tragbaren Technologien. Und VR. Virtuelle Realität ist ein Instrument für gesellschaftliches Einfühlungsvermögen, Situationen zu vermitteln, in denen Menschen leben. Quasi eine Empathie-Maschine.
Was Künstliche Intelligenz angeht, war ich auch sehr überrascht, so wenige Einreichungen dazu zu sehen. Es ist ein Thema, das ständig in den Medien diskutiert wird, fast allgegenwärtig. Deshalb glaube ich, dass wir eine Sättigung erreicht haben, weil es in diesem Jahr fast keinen künstlerischen Output zu diesem Thema gab. Vielleicht haben wir auch alles gesehen, alles ausprobiert.
Einen letzten Gedanke möchte ich noch erwähnen, wenn es um Trends geht und den Bewertungsprozess in Jurys wie dieser. Oft finden wir in Projekten den Begriff Storytelling – also künstlerisches Geschichtenerzählen mit irgendeinem technischen Hilfsmittel. Aber es reicht nicht aus, Geschichten nur zu erzählen – es muss wirklich einen neuartigen Denkprozess auslösen und zu etwas inspirieren, das sich über Begrenzungen hinwegsetzt. Denn tut es das nicht, wird es sich nicht von den vielen anderen Anwendungen und spannenden Geschichten abheben.
Clara Blume (AT), PhD, ist stellvertretende Direktorin und Leiterin der Abteilung Kunst, Wissenschaft und Technologie bei Open Austria, dem österreichischen Konsulat und Innovationsbüro im Silicon Valley. Sie kuratiert und fördert künstlerische Projekte an der Schnittstelle von Kunst + Technologie und schlägt gleichzeitig eine Brücke zwischen Österreich und dem Innovations-Ökosystem in der SF Bay Area. Sie ist die derzeitige Präsidentin des neu gegründeten Clusters EU National Institutes for Culture (EUNIC) im Silicon Valley, wo sie die Schaffung von The Grid – einem globalen Netzwerk, das Künstler und Technologen verbindet – anführte. Zuvor arbeitete sie als professionelle Musikerin, Songwriterin und international tourende Künstlerin. Blume hat einen akademischen Hintergrund in den Bereichen bildende Kunst, Komposition, vergleichende Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaften und Geschichte. Sie hält regelmäßig Vorträge auf Konferenzen und publiziert als Autorin.
Mara Balestrini (IT) ist Forscherin im Bereich Human Computer Interaction (HCI) und Technologiestrategin. Derzeit ist sie CEO der Innovationsagentur Ideas for Change und Mitbegründerin von SalusCoop, der ersten spanischen Kooperative für Gesundheitsdaten. Maras Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle zwischen zivilgesellschaftlicher Technologie, Design und Aktionsforschung. Sie hat über 30 Publikationen zu diesen Themen verfasst und Projekte wie Making Sense EU, Bristol Approach und #DataFutures koordiniert. Mara hat am Intel Collaborative Research Institute on Sustainable Connected Cities am University College London in Informatik promoviert. Ihre Arbeit wurde u.a. beim ACM CHI, ACM CSCW und Ars Electronica ausgezeichnet und in internationalen Medien wie der BBC, The Guardian, The Financial Times und El PaÃs veröffentlicht.
Domhnaill Hernon (IE) ist eine preisgekrönte Führungskraft für Technologie, Innovation und Kreativität. Vordiplom in Luftfahrttechnik und einen Doktortitel in Aerodynamik von der Universität Limerick und einen Executive MBA von der Dublin City University, Irland. Zuvor leitete er F&E-Organisationen und entwickelte Strategien zur Überwindung des „Innovation valley of death“ aus. Er ist Leiter von Experiments in Art and Technology (E.A.T.), einer neuen Initiative, die er gegründet hat, um Kunst mit Technik und den Wissenschaften zu verschmelzen und Lösungen für die Humanisierung der Technologie zu entwickeln. Domhnaills Arbeit wurde unter anderem im Wired Magazine, Times Square, SXSW, Nasdaq, MWC und Inspirefest vorgestellt, und er berät Kulturprogramme weltweit.