von Ana-Maria Carabelea
Dennoch hat digitale Technologie für viele Menschen immer noch etwas Irritierendes an sich. Nicht umsonst: Je weiter das digitale Zeitalter voranschreitet und die Menschheit mit sich reißt, je stärker die Digitalisierung vom industriellen auf den häuslichen und sozialen Bereich übergreift, desto dringender wird die Notwendigkeit eines Richtungswechsels.
Je mehr die Technologie unseren Alltag durchdringt, desto größer wird die Gefahr einer zunehmenden Überwachung und einer Beschneidung universeller Rechte. Die digitale Welt ist vielschichtig und befindet sich derzeit im Spannungsfeld zwischen Datenkapitalismus, Datenautoritarismus und Inklusion im Sinne eines demokratischen Zugangs zu Information. Da der Technologie per se keine Werte eingeschrieben sind, bleibt ihr Potenzial grenzenlos, im Positiven wie im Negativen. Dies erfordert eine aktivere Beteiligung der Menschheit an der Gestaltung und Nutzung von Technologie, sodass sie mit den Werten der Menschen auch wirklich übereinstimmt. Es ist an der Zeit, dass der Humanismus der digitalen Welt seinen Stempel aufdrückt. Es geht nicht darum, die alten Werte des europäischen Humanismus wiederherzustellen, sondern darum, neue Wertesysteme kritisch zu erkunden und zu definieren, die besser für unsere heutige Zeit geeignet sind und uns in eine Zukunft führen, die unseren Vorstellungen tatsächlich entspricht.
Um Vertrauen in Technologie aufzubauen, reicht eine simple Änderung des Narrativs nicht aus. Vielmehr müssen wir den Prozess der technologischen Entwicklung neu überdenken, damit er zu vertrauenswürdigeren Technologien führt. Wir müssen dem zunehmenden Einfluss, den digitale Technologien auf unsere Kultur nehmen, unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven begegnen, die den Auswirkungen der Digitalisierung auf den weiteren kulturellen Kontext Rechnung tragen. Wir glauben, dass die Kunst das fehlende Glied auf dem Weg zu einer empathischeren Vorstellung von einer digitalen Zukunft ist und Künstler*innen die kritischen, kreativen Köpfe sind, die solche Forderungen im Namen der Menschheit stellen können. Digitaler Humanismus soll sicherstellen, dass Innovation menschliche Bedürfnisse anspricht, menschliche Werte hochhält und die Heterogenität innerhalb der Gesellschaft respektiert.
Wenn Kunst „in dem Sinne prophetisch sein kann, dass sie wissenschaftliche und technologische Revolutionen vorhersagt, die noch nicht stattgefunden haben“ (Daniel Birnbaum, More than Real), so ist dieser prophetische Charakter nicht als das Werk eines passiven Visionärs zu verstehen, der seine Hinweise aus der Gegenwart nimmt, um deren zukünftige Auswirkungen vorherzusagen. Im digitalen Humanismus übernehmen Künstler*innen eine aktive Rolle bei der Gestaltung von Innovation, denn sie bringen Dinge ans Licht, die vielleicht noch nicht sichtbar sind, und visualisieren Szenarien, die in der Gegenwart nur in potentia existieren, indem sie jene Zukunft realisieren, die sie imaginieren. Das Einbeziehen künstlerischer Perspektiven kann den Innovations- und Entwicklungsprozess moderner Technologien beschleunigen, aber auch verändern und auf einen humaneren Weg bringen, der jetzt so notwendig ist. Nur so kann Digitalisierung weniger irritierend sein und digitale Technologie besser auf ihre Nutzer reagieren, was zu einer demokratischeren und inklusiveren Gesellschaft beiträgt.
Der STARTS Prize – als Teil der STARTS-Initiative – sowie der Award for Digital Humanism sind nur einige der Programme von Ars Electronica, die Künstler*innen und Projekte unterstützen und auszeichnen, die die Notwendigkeit einer kunstgetriebenen, menschenzentrierten Innovation ansprechen. Durch die Auszeichnung von Kooperationen zwischen Akteur*innen mit unterschiedlichem Hintergrund unterstreichen wir, wie wichtig es ist, Räume für den Dialog zwischen verschiedenen Perspektiven zu schaffen, Berührungspunkte zu finden und Empathie zu üben, um Innovationen anzustoßen. Darüber hinaus rücken diese Auszeichnungen greifbare Ergebnisse ins Rampenlicht und erzeugen so ein besseres Verständnis für den Wert, den solche Dialoge schaffen können.
Der STARTS Prize ist eine Säule der STARTS-Initiative, einem von der Europäischen Kommission unterstützten und finanzierten Programm, das als Antwort auf die spezifischen Herausforderungen der Gegenwart gedacht ist und die Notwendigkeit fantasievoller Lösungen für diese Herausforderungen unterstreicht. Der STARTS Prize will Projekten an der Schnittstelle zwischen Kunst, Technologie und Wissenschaft, die einen Paradigmenwechsel versprechen, Sichtbarkeit und finanzielle Unterstützung bieten. In Anerkennung der Tatsache, dass neue Rahmenbedingungen für einen dauerhaften Wandel erforderlich sind, zeichnet der Grand Prize for Innovative Collaboration („Großer Preis für innovative Zusammenarbeit“) Projekte aus, die neue Wege der Zusammenarbeit an der Schnittstelle zwischen Kunst, Technologie und Wissenschaft einschlagen. In diesem Sinne ermutigt der Grand Prize for Artistic Exploration („Großer Preis für künstlerische Erkundung“) Künstler*innen, eine aktive Rolle zu übernehmen und sich in ihren künstlerischen Arbeiten mit Technologie und Wissenschaft auf eine Weise auseinanderzusetzen, die deren Nutzung, Einsatz oder Wahrnehmung neu definiert.
Im Jahr 2021 ging der Grand Prize for Innovative Collaboration an Remix el Barrio, ein Projekt, das vom Fab Lab im Stadtteil Poblenou in Barcelona als Teil des Projekts SISCODE gehostet wurde und von der Europäischen Union im Rahmen von Horizont 2020 finanziert wird. Remix el Bario brachte Designer*innen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammen, um neue Materialien zu entwickeln, die zwei der größten Umweltprobleme unserer Zeit anzusprechen: die wachsende Plastikproduktion und die Zunahme von Plastikmüll sowie die Lebensmittelverschwendung.
Einst als „das Material der tausend Möglichkeiten“ vermarktet, hat sich Kunststoff in allen Fertigungsindustrien zu einer Einweglösung entwickelt. Die Autorin Susan Freinkel erinnert uns daran, dass „Kunststoffe in einem Produkt nach dem anderen, in einem Markt nach dem anderen die traditionellen Materialien herausforderten und den Platz von Stahl in Autos, von Papier und Glas in Verpackungen und von Holz in Möbeln einnahmen“ (Susan Freinkel, Plastics: A Toxic Love Story). Das Ergebnis ist, dass die Kunststoffproduktion in den letzten 30 Jahren um 620 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig argumentieren viele, dass Kunststoffverpackungen helfen, ein noch größeres Umweltproblem zu lösen: die Lebensmittelverschwendung. Allein in Katalonien werden jeden Tag 720.000 Kilogramm Lebensmittel weggeworfen. Die 260.000 Tonnen Lebensmittel, die in einem ganzen Jahr verschwendet werden, würden den Bedarf von 500.000 Menschen für dieses Jahr decken.
In ihrer Initiative befasst sich Remix el Bario mit diesen miteinander zusammenhängenden Problemen, indem sie Lebensmittelabfälle wiederverwertet, um neue Biomaterialien herzustellen und den Bedarf an Plastik zu reduzieren. Fab Lab Barcelona stellte den Designer*innen Labore, Materialien und Werkzeuge zur Umsetzung ihrer Ideen zur Verfügung. Das breite Spektrum an Projekten, das in diesem Rahmen entstand, zeigt, dass Künstler*innen und Designer*innen die Fertigungsindustrie auf vielfältige Art und Weise in deren Streben nach nachhaltigeren Innovationen unterstützen können. Die Designer*innen haben viele Möglichkeiten erkundet: Kaffeeschalen könnten als Papier und Verpackungen wiederverwendet werden; aus veganem Fruchtleder könnte Kleidung werden; Olivenkernen, Eierschalen und Yerba Mate finden Einsatz in Designobjekten wie Lampen, Stühlen und Fliesen; Avocadokerne liefern natürliche Farbstoffe; aus gebrauchten Ölen könnten Seifen und aus Restaurantresten Haustiersnacks werden.
Eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft und Fertigungsindustrie muss sich in erster Linie auf lokale oder regionale Ressourcen konzentrieren, wenn sie nicht nur den Abfall, sondern auch ihren eigenen CO2-Fußabdruck reduzieren will. So versuchten die Designer, die Produktion und die Wertschöpfungsketten zu lokalisieren, um auf den Bedarf an Kunststoff zu reagieren, der durch die langen Lieferketten für Lebensmittel entsteht.
Dieses Projekt ist zweifach bemerkenswert: erstens für sein innovatives Potenzial, was die Entwicklung von Biomaterialien betrifft, und zweitens für den Aufbau eines kollaborativen Arbeitssettings, das in Selbstverwaltung gemanagt wird und auch in Zukunft genutzt werden kann. Abgesehen von den Biomaterialien, mit denen dieses Projekt experimentiert, zielt Remix El Barrio auch darauf ab, einen „Mix aus Menschen, Material und sozialer Erfahrung“ zu schaffen, der eine Infrastruktur für die Entwicklung weiterer nachhaltiger Lösungen bilden kann. Neben der Einbeziehung von Designer*innen und Kreativen in die Entwicklung von Biomaterialien hat das Projekt den Input von lokalen Restaurants und Märkten, von politischen Entscheidungsträgern und Gemeinden gesucht, um ein starkes Netzwerk lokaler Akteure zu schaffen.
Der Grand Prize for Artistic Exploration wurde an Territorial Agency für ihr Projekt Oceans in Transformation verliehen. Die unabhängige Organisation mit Sitz in London fördert nachhaltige territoriale Transformationen. In einer urbanisierten Welt lenkt ihre Arbeit die Aufmerksamkeit darauf, wie die aktuelle Politik und unsere Organisationsformen die physischen Strukturen der von uns bewohnten Gebiete verändern und den Klimawandel fördern.
Oceans in Transformation bietet eine visuelle Darstellung verschiedener Datensätze, die über einen Raum gesammelt wurden, der bis heute weitgehend unbekannt ist: den Ozean. In einem globalen Bestreben, den Prozentsatz des kartierten Meeresbodens von derzeit 17 Prozent bis 2030 auf 100 Prozent zu erhöhen, werden die Ozeane inzwischen von einer wachsenden Zahl von Wissenschaftler*innen, Institutionen und Forschungszentren mit verschiedensten modernen Technologien sondiert und vermessen. Die gesammelten Daten sind jedoch nach wie vor unvollständig, oft lokal begrenzt und bruchstückhaft und werden selten über wissenschaftliche Publikationen und Communities hinaus zugänglich gemacht.
Territorial Agency nutzt Fernerkundungsbilder, um die Diskrepanzen zwischen verschiedenen Wissenskomponenten, Gebieten ohne Daten und Gebieten mit widersprüchlichen oder mehrdeutigen Daten aufzuzeigen. Das Projekt stützt sich auf mehrere frei zugängliche Datensätze, die multitemporal sind – sie beginnen in den 1970er-Jahren und reichen bis zur Gegenwart – und unterschiedliche Tiefen abdecken. Die Abgeschiedenheit der Ozeane plus der Mangel an Daten lassen den Eindruck entstehen, sie seien losgelöst von den Orten, die wir bewohnen und beeinflussen. Um dem entgegenzuwirken, schlägt Oceans in Transformation vor, Ozeane als ein Sensorium zu begreifen, das die Transformationen der Erde in ihrer komplexen Dynamik aufzeichnet und seine eigenen Zyklen in die Formen des Lebens zurückschreibt. Es zeigt, wie der Ozean von Aktivitäten an Land betroffen ist und diese beeinflusst.
Das Projekt schlägt neue kognitive Modalitäten der Erforschung der Ozeane vor, indem es zwei bisher voneinander getrennte Wissenssysteme miteinander verbindet: die Erdsystemwissenschaft und die Weltsystemanalyse, d. h. die natürliche Welt und die kulturelle Welt. Dieser Ansatz entspringt der Notwendigkeit, moderne Diskurse des Imperialismus und der Unterwerfung der natürlichen Welt in Frage zu stellen und die Ergebnisse solcher Diskurse und Praktiken sichtbar zu machen. Die Herstellung einer Verbindung zwischen den beiden Ansätzen erlaubt es uns, kulturelle Entwicklungen als Ursachen für natürliche Entwicklungen zu identifizieren. Sowohl die Datenerhebung als auch die Datenvisualisierung sind entscheidend, um zu verstehen, inwieweit unser Handeln Veränderungen in den Ozeanen und in der Umwelt insgesamt bestimmt.
Auch die Gewinner*innen des Award for Digital Humanity, Branch Magazine, wollen kulturelle und technologische Entwicklungen mit den immer sichtbarer werdenden natürlichen Entwicklungen verbinden. Der Award for Digital Humanity wird vom österreichischen Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten gefördert und prämiert Projekte, die die Humanisierung der digitalen Welt mittels kulturellem Austausch und Zusammenarbeit fördern.
Die digitale Welt zu humanisieren bedeutet nicht nur, ihr im Sinne des Anthropozäns humanistische Werte einzuschreiben, sondern auch die Trennung zwischen digitaler und physischer Welt zu hinterfragen. Branch Magazine weist auf den beeindruckenden CO2-Fußabdruck unseres zunehmend digitalen Lebens hin, der mit jeder E-Mail, die wir verschicken, mit jedem Produkt, das wir in den Einkaufswagen legen, größer wird. Die Nutzung des Internets ist unverzichtbar, aber nicht nachhaltig. Die Arbeit des Branch Magazine zielt darauf ab, das Internet von einem Mitverursacher der Klimakrise in eine treibende Kraft im Kampf dagegen zu verwandeln. Das Magazin will diesen Wandel vorantreiben, indem es einen Raum der Reflexion und der kritischen Auseinandersetzung mit Technologie schafft, damit ein nachhaltigeres und gerechteres Internet für die Zukunft entwickelt werden kann.
Die erste Ausgabe des Magazins erschien im Herbst 2020 und enthielt thematische Schwerpunkte wie Solarpunk und andere spekulative Zukünfte, kritische Kunst und CO2-bewusstes Design, nachhaltiges Webhandwerk, KI-Versprechen und -Gefahren, Klimaschutz im Tech-Bereich sowie Politik und Advocacy. Die zweite Ausgabe erschien im Frühjahr 2021 und fügte zwei neue Themen hinzu, die sowohl die Fortschritte („Change is a‘ Commoning“) als auch die Hindernisse („Big Tech Resistance“) beleuchten, mit denen diejenigen konfrontiert sind, die versuchen, die Art und Weise zu verändern, wie das Internet funktioniert.
Die in diesem Jahr prämierten Projekte bringen die verborgenen Implikationen unseres Lebens ans Licht und hinterfragen dessen Nachhaltigkeit. Sie nutzen die Technologien, die manchmal für die Herausforderungen, mit denen sich unsere Gesellschaften konfrontiert sehen, verantwortlich gemacht werden, um eine andere Seite des digitalen Humanismus zu zeigen. Neben der Forderung nach einer menschengerechteren Entwicklung, Nutzung und Anwendung von Technologie unterstreicht der digitale Humanismus auch die Rolle des menschlichen Handelns und nimmt die Menschheit in die Pflicht, damit nachhaltigere Technologien konzipiert, entwickelt und genutzt werden.
STARTS is an initiative of the European Commission under the Horizon 2020 research and innovation programme.
The STARTS Prize has received funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under grant agreement No 956603.
Ana-Maria Carabelea ist seit 2021 bei Ars Electronica als Kommunikationsmanagerin für die regionalen STARTS-Zentren tätig. Sie hat zuvor Programme in der Kultur- und Kreativwirtschaft konzipiert und kuratiert und erforscht derzeit im Rahmen eines MA in Brands, Communication and Culture an der Goldsmiths University of London die Wechselbeziehung zwischen Tech-Marken, digitalen Künstler*innen und dem Publikum.