Nocturne 2021: Die Pandemie auf der Leinwand

Nocturne 1,

Ein Name, der uns allen bekannt ist. Ein Musikstil, den wir alle schon Mal gehört haben. Gespielt wurde diese Musikform insbesondere von Frédéric Chopin. Übersetzt wird der Begriff  mit dem Wort „nächtlich“, was sich in diesem Musikstil leicht erkennen lässt. Mal wird ein fröhlicher Ton gespielt, mal folgt ein düsterer. Die Rede ist von dem Begriff Nocturne. In diesem Beitrag ist nicht irgendein Nocturne gemeint, sondern ein ganz besonderer. Entstanden in einer aussichtslosen Zeit, wo nicht nur die Wirtschaftskraft gesunken ist, sondern auch die Freude am Leben. Die Pandemie. Nocturne präsentiert euch ebendiese Höhen und Tiefen während der Pandemie.

Nocturne ist ein Kunstwerk, das unsere Welt nach der globalen Pandemie erkennt und gleichzeitig die Herausforderungen, die vor uns liegen, anerkennt. Es bietet dem Publikum eine zeitgenössische künstlerische Interpretation der aktuellen Situation und bringt einen frischen Hauch von Leben in eine ansonsten düstere Perspektive. Es handelt sich um eine groß angelegte, immersive Installation, die interaktive und audioreaktive Bilder mit emotional-abstrakten Animationen, die Abbildung von Emotionen und ein Design verwendet, das den Echtzeit-Flow einer Tanzperformance integriert. Dieses Werk versucht, eine Hommage an die alten Frühlingsriten zu schaffen, indem es an Bilder, Musik und Bewegung appelliert, die an die Vergangenheit erinnern und Hoffnung für die Zukunft signalisieren.

Nocturne umfasst eine Performance von Victoria Primus (AT), Musik von Tate Egon Chavez (US), Animation und Visualisierung von Mark Chavez (US, SG), und wurde produziert von Ina Conradi (SG). Wir haben mit den vier Künstler*innen gesprochen, um Interessantes rund um ihr Werk Nocturne zu erfahren.

Wie sind Sie auf die Idee zu Nocturne gekommen? Und warum haben Sie den Namen Nocturne gewählt?

Ina Conradi: Das Stück begann als eine Form der Überwindung schwieriger Umstände. Im vergangenen Jahr mussten wir zwei Rückschläge hinnehmen: Erstens sind unsere Kinder und unsere Familie aufgrund der Pandemie auf drei Kontinente verteilt gewesen. Und zweitens: Bei mir wurde Krebs diagnostiziert. Um dem Unfassbaren einen Sinn zu geben, beschlossen wir, ein Stück zu schaffen, das unsere emotionalen Zustände wie Angst, Furcht, Einsamkeit, Hoffnung und Durchhaltevermögen thematisiert. Wir baten unseren in Los Angeles lebenden Sohn Tate Egon, eine von uns in Singapur erstellte Animation zu komponieren. Wir haben die in Wien lebende Choreografin und Tänzerin Victoria Primus eingeladen, aufzutreten. Sie wird als Symbol für Tugend und Tapferkeit im Mittelpunkt stehen. Diese gemeinsame Performance beschäftigte uns und heilte uns; sie wirkte wie eine Reinigung, die es uns ermöglichte, eine Deep Space 8K Theater Performance zu kreieren, die uns wieder zusammenführen würde.  Der Titel ist inspiriert von den Stadien der Nacht, der Isolation und der Einsamkeit, wo alles angedeutet wird.

Tate Chavez: Der musikalische Kompositionsprozess für Nocturne war sehr intuitiv. Das Ergebnis ist eine Kostprobe des Traumas, das das kollektive Unterbewusstsein in den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie beschäftigte. Das Zuhören ermöglicht es, diesen Aufruhr in den Vordergrund des eigenen Bewusstseins zu rücken, was zu Achtsamkeit, Katharsis und Wachstum führt.  Der Name „Nocturne“ ist eine Anspielung auf das gleichnamige klassische Musikgenre, das im 19. Jahrhundert populär war. Obwohl es sich nicht um ein Nocturne im klassischen Sinne handelt, verwendet unser „Nocturne“ ähnliche Themen der Dunkelheit und der natürlichen Welt, um seine emotionale Erzählung zu inszenieren.

Mark Chavez: Als Künstler*innen sind wir immer motiviert, unsere Gefühle in unserer Arbeit auszudrücken. Als Ina und ich von unserer Familie getrennt lebten und unsere Kinder eine schwere, lebensbedrohliche Krankheit durchmachten, wurden uns unsere Entscheidungen über unseren weit entfernten Lebensstil als Last bewusst. Wir wurden gezwungen, uns mit unserer persönlichen Isolation auseinanderzusetzen und zu erkennen, dass das, was wir in dieser Welt empfinden, dem, was andere Menschen erleben, sehr ähnlich ist. Wir erkannten, dass dies ein universeller menschlicher Zustand ist, und wollten dies mit der Ars Electronica Community teilen und in dem Kunstwerk „Nocturne“ zum Ausdruck bringen.

Was war oder ist Ihr Ziel hinter diesem Projekt?

Ina Conradi: Das Ziel von Nocturne ist es, das Gefühl der Vergänglichkeit und Unbeständigkeit im Leben und in dieser Zeit des Wandels einzufangen. Die intime und persönliche Auseinandersetzung mit den Dingen des Lebens, wie schwere Krankheit und Tod, kann als kompliziert und sogar erschreckend empfunden werden.

Victoria Primus: Das Ziel hinter diesem Projekt ist für mich als Tänzerin und Choreografin, abstrakte Themen wie Lebens- und Todeskreise, verschiedene Formen von Realitäten, Reichen und Universen zu verkörpern. Die Zusammenarbeit mit den herausragenden Künstler*innen dieses Projektes steht dabei im Vordergrund. Es ist für mich von äußerster Wichtigkeit, in den Kosmos einzutauchen, den sie in Bezug auf visuelle und musikalische Genialität geschaffen haben, um eine zusätzliche Ebene der Expertise, das expressive Tanzgenre, hinzuzufügen.

Nocturne hat die Kraft, mich völlig zu erfassen. Es fühlt sich an, als sei ich vom Universum, das geschaffen wurde, besessen. Während meiner Solo-Performance werde ich von äußeren Licht- und Klangkräften kontrolliert. Ich werde von einer außerirdischen Kreatur geführt, die mir hilft, einen Kampf zu führen und zu gewinnen. Ich bin mit mir selbst und der Umwelt verbunden.

Ich studiere Bewegungsqualitäten und lasse mich vom Mikrokosmos der Bakterien und Viren inspirieren. Der Prozess, die Kontrolle über den eigenen Körper und Geist zu verlieren und wieder zu gewinnen, in der Hoffnung, in einer Welt voller Widersprüche einen Sinn zu finden, schwingt in meiner Arbeit mit.

Tate Chavez: „Nocturne“ bietet den Hörer*innen einen Raum, in dem er*sie sich mit Teilen seiner*ihrer Intuition verbinden kann, die er*sie sonst im Alltag vielleicht unterdrückt. Diese Emotionen und Impulse sind nicht immer angenehm, aber sie müssen anerkannt und verarbeitet werden, um ihre endgültige Lösung zu finden.

Mark Chavez: Dieses Werk ist ein Ausdruck der Hoffnung, der eine Vision von Verzweiflung und Düsternis erhellt. Die Bildsprache basiert auf der Vorstellung einer abstrakten Traumwelt, in der die menschliche Anmut der körperlichen Bewegung zum Ausdruck kommt.

Einige Menschen haben während der Pandemie Angehörige verloren. Inwiefern wird Ihr Kunstwerk sie beeinflussen?

Ina Conradi: Das Projekt ruft die Tiefen unserer eigenen und gemeinsamen Ängste nach der Pandemie hervor. Wir hoffen, Trost zu spenden und zu motivieren, nach Gründen zu suchen, um Hoffnung zu haben, Krankheit, existenzielle Sorgen und den frühen Tod von geliebten Menschen zu überwinden.

Tate Chavez: Im Allgemeinen finde ich die Musik erschütternd. Selbst die Momente mit den Streichern kommen mir in ihrer Starrheit und Synthetik wie Nägel auf Kreide vor. Wenn ich diese Art von Musik mache, ist das ein sehr bewusstseinsgesteuerter Prozess. Infolgedessen enthüllt das Stück am Ende eine Menge Dinge, mit denen ich mich normalerweise nicht auseinandersetzen würde. Ich glaube, deshalb ist es für mich so schwierig, es emotional zu hören. Ich sage das, um zu betonen, dass dies nur meine Reaktion ist; ich freue mich über jede Interpretation und hoffe, dass die Zuhörer*innen sich auf ihre eigene Weise in das Stück einfühlen können.

Denjenigen, die einen nahestehenden Menschen verloren haben, möchte ich mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Es würde mich zutiefst berühren, zu erfahren, dass dieses Projekt jemandem in irgendeiner Weise geholfen hat, aber ich versuche nicht, mit dieser Arbeit einen Platz in der Trauer eines anderen einzunehmen.

Nocturne könnt ihr euch am 11. und 12. September im Rahmen des Deep Space 8K Festivalprogramms ansehen. 

Inas Forschungen im Bereich der neuen Medien definieren die Malerei als ungerahmt, animiert und räumlich neu und weiten sich zu gemeinsam nutzbaren Räumen aus. Ihr jüngstes Werk ist eine experimentelle Kunst- und Wissenschaftsanimation, die von südostasiatischen kulturellen Archetypen inspiriert ist und die grundlegenden Fragen der Quantentheorie über die Natur der Realität beschreibt. Ina ist derzeit außerordentliche Professorin an der Nanyang Technological University Singapur.

Der Komponist und Multiinstrumentalist Tate Egon Chavez erforscht in seinen Kompositionen für neue Medien und Filme die Intimität von unkonventionellen Klängen. Während und seit dem Abschluss seines Musikstudiums an der UC Berkeley sind seine Klanglandschaften auf internationalen Festivals zu hören. Als unabhängiger Künstler beschäftigt sich Chavez in seiner Musik mit Fragen der Identität im Kontext einer zunehmend multikulturellen Welt.

Victoria ist Mutter, Tänzerin und Choreografin, lebt in Wien und arbeitet international mit Partner*innen zusammen. Die physische Annäherung an abstrakte Themen steht im Zentrum ihrer Bewegungsexperimente, bei denen das Konglomerat aus Kunst und Wissenschaft die treibende Kraft ist. Sie stellt Ordnung und Chaos einander gegenüber, indem sie festgelegte Choreografien durch überraschende Improvisationen durchbricht. Sie hat einen BA (Hons) in Theatertanz von der University of London Arts, UK.

Mark ist ein Veteran der Animationsbranche und Dozent mit einer Reihe von preisgekrönten Spielfilmen und interaktiven Titeln. In seiner künstlerischen Praxis setzt er digitale Multimediatechniken ein, um greifbaren, erkennbaren Ideen eine visuelle Bedeutung zu verleihen. Er erforscht Computeranimation und gefühlsbetonte Abstraktion. In seiner aktuellen Arbeit verbindet er eine lebendige, anthropomorphe Weltsicht mit einer zeitgenössischen wissenschaftlichen Sichtweise.

, , ,