„Der Akku ist vollständig geladen – sie können das Gerät jetzt verwenden!“ Ob Tablets oder Notebooks: für viele 10- bis 12-Jährige war es im vergangenen Herbst nun so weit. Die Schüler*innen der 5. und 6. Schulstufe in Österreich wurden im Schuljahr 2021/22 erstmalig mit digitalen Geräten ausgestattet. Zeitgleich zum Start der Initiative „Digitales Lernen“ haben die Agentur OeAD, das österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung und Ars Electronica den Bildungspreis „Klasse! Lernen“ ins Leben gerufen, um kreative, innovative und nachhaltige Ideen für den Einsatz dieser digitalen Werkzeuge im Unterricht auszuzeichnen.
Wir öffnen leise die Tür in den Sitzungsraum der Jury von „Klasse! Lernen“ im obersten Stockwerk des Ars Electronica Center. Hier haben sich fünf Expert*innen für ein Wochenende zusammengefunden, um gemeinsam die Einreichungen zu bewerten und sie einem Hauptpreis zu 10.000 Euro, zwei Auszeichnungen zu je 5.000 Euro und sieben Anerkennungen zuzuordnen.
Das Werkzeug ist da, wie wollen wir es nutzen?
Die Blicke richten sich auf die Projektion an der Wand, die eine Einreichung nach der anderen zeigt, und damit die Diskussionsgrundlage intensiver Gespräche legt. Um nicht lange zu stören, winken wir uns Simon Prossliner durch den offenen Türspalt herbei. Er ist Teil der Jury und Projektleiter der Geräteinitiative „Digitales Lernen“ beim OeAD. Bevor er sich ein gesamtes Bild der Einreichungen machen kann, wollen wir von ihm wissen, welche Möglichkeiten grundsätzlich mit den neuen Geräten offenstehen.
„Die Ausstattung mit Laptops und Tablets eröffnet in der Gestaltung des Unterrichts, aber auch im Lernen der Kinder ganz neue Chancen“, schwärmt Simon Prossliner und stimmt uns zuversichtlich, dass diese neuen Tools nicht als Ersatz sondern als Ergänzung des schulischen Werkzeugkastens hinzukommen: „Digitalisierter Unterricht bedeutet für mich daher auch keineswegs, dass wir „klassischen“ analogen Unterricht auf die pädagogische Müllhalde werfen, sondern vielmehr, dass sich nun neue Möglichkeiten bieten, die zu meiner Schulzeit undenkbar waren.“
Was ist jetzt besser, analog oder digital?
Den analogen Bildungsweg haben wir schon länger erprobt, den digitalen versuchen sich gerade Schüler*innen, Lehrer*innen aber auch Eltern gemeinsam anzueignen und die dazugehörigen digitalen Hilfsmittel in den Bildungsalltag zu integrieren. Zur Grundausstattung im Jahr 2022 gehören nicht nur Füllfeder und Heft, sondern neben Smartphone nun auch Tablet oder Laptop. „Vielleicht würden wir Missverständnisse und die Gegenüberstellung von analoger und digitaler Bildung vermeiden, würden wir von „digiloger“ Bildung sprechen. Digitale Bildung bedeutet für mich nämlich, digitale Tools so in den bisher analogen Unterricht zu integrieren, um Kindern jene Bildung zu ermöglichen, die sie bestmöglich auf die Welt von morgen vorbereitet.“
Simon Prossliner zieht es berechtigterweise wieder zurück auf seinen Platz in der Jury, die ihre Diskussion fortsetzt. Hier sitzen auch Wissenschaftler und Game Designer Konstantin Mitgutsch, die Kultur- und Projektmanagerin und Pädagogin Susi Windischbauer, Ulrike Giessner-Bogner in ihrer Funktion als Leiterin des Bereichs „Kulturvermittlung mit Schulen“ in Wien sowie Mediengestalterin und Forscherin Elke Hackl.
Erst bei der nächsten kurzen Pause kommen wir wieder ins Reden und holen Veronika Krenn, Projektleiterin bei Ars Electronica, mit ins Gespräch. Sie kümmert sich um die Rahmenbedingungen des Zusammentreffens der Juror*innen und hat kurz Zeit für uns. Wie es denn gerade läuft, möchten wir von ihr wissen: „Wir haben gerade eine intensive Stunde hinter uns, in der wir die Kriterien zur Bewertung durchgegangen sind. Interessanterweise hat es sich sehr rasch herausgestellt, dass alle Juror*innen sehr viele ähnliche Ansätze vertreten – sowohl was die Originalität und der kreative Umgang mit der Technologie in der Schule als auch die Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden in den Projekten betrifft.“
Die Pandemie als Innovationsschub
Welche Themen kommen eigentlich bei der Jurysitzung zur Sprache? Es geht vor allem um die Vermittlung der digitalen Grundbildung und den Ausgleich von digitalen und analogen Hilfsmitteln im Schulunterricht, so Veronika Krenn. „Ein großes Thema ist auf jeden Fall die Nachhaltigkeit – und das auf verschiedenen Ebenen. Wie kann in der Schule der Unterricht nachhaltig gestaltet werden? Wie kann die Schule nachhaltig digitale Grundkompetenzen vermitteln?“
In der Pause nach der ersten Runde fragen wir Simon Prossliner, ob sich bestimmte Schwerpunkte herauskristallisiert haben: „Für viele war es wichtig, der Frage nachzugehen, wie die Digitalisierung nachhaltig am Schulstandort und im Unterricht eingesetzt werden kann, und wie ein innovativer und kreativer Unterricht aussehen kann. Viele Einreichungen haben sich aber auch mit der Pandemie und den damit einhergehenden Rahmenbedingungen auseinandergesetzt.“
Lockdown, Distance Learning und Schutzmasken. Die Pandemie hat die Schüler*innen in ihrer analogen Welt zwar auseinandergerückt, in der digitalen Welt blieben sie aber weiterhin miteinander verbunden: „Die Pandemie hat im Hinblick auf die Digitalisierung im Bildungsbereich sicherlich einen Innovationsschub bewirkt, der sich auch an den Einreichungen erkennen lässt: Entweder in der Suche nach innovativen Lösungen für neue Problemstellungen oder in Form von Reflexionen und kreativen Auseinandersetzungen mit der Pandemie.“
Rege Beteiligung von Volksschulen und enorme Bandbreite
Noch dürfen wir nicht verraten, wer die Gewinner*innen dieses Jahres sind – diese werden bei einer Pressekonferenz Ende Juni 2022 bekanntgegeben. Aber gibt es Überraschungen an diesem Wochenende – das wollen wir näher von Veronika Krenn wissen: „Überraschend sind für mich die zahlreichen Einreichungen von Volksschulen. Die bundesweite Geräteinitiative richtet sich ja derzeit auf die Sekundarstufe I, der unermüdliche Einsatz bereits in der Primarstufe lässt uns aber erahnen, wie Schulunterricht bereits in den ersten Schuljahren neu gedacht wird. Für mich persönlich ist es sehr schön zu sehen, mit welchem Einsatz Schulen digitale Geräte im Schulunterricht verwenden!“
„Ich kann nur so viel sagen,“ ergänzt Simon Prossliner, „als dass es beeindruckend war, so eine enorme Bandbreite an unterschiedlichen Einreichungen zu sehen und, dass es mich sehr freut, dass es dementsprechend sehr verschiedene Projekte unter die prämierten geschafft haben.“
Ablenkungen und Herausforderungen
Bevor die nächste Runde der Jurysitzung startet, sprechen wir mit dem Experten für „Digitales Lernen“ noch über die Herausforderungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Da Games und Social Media auf den digitalen Geräten nur einen Fingertipp von produktiven und kreativen Apps entfernt sind, ist das nicht die größte Schwierigkeit, dass Lernen und Zeitvertreib am Bildschirm so nahe beieinander sind?
„Ich glaube weniger, dass die Nähe per se ein Problem ist. Wenn ich meine analoge Hausaufgabe im Wohnzimmer neben dem Fernseher schreibe, besteht für mich ebenso die Versuchung der Ablenkung. Aber sicherlich ist Social Media eine Herausforderung; insbesondere für Heranwachsende, aber eigentlich für unsere Gesellschaft allgemein.“
Simon Prossliner
Gemeinsam digital lernen
Und wenn es um digitale Skills geht, dann sind es in erster Linie die Schüler*innen, die sich vor allem durch Ausprobieren neue Fähigkeiten in der digitalen Welt aneignen. Viele Lehrer*innen versuchen mit dieser Entwicklung Schritt zu halten – da übernimmt schon mal der Geografielehrer die Einrichtung der neuen iPads an der gesamten Schule. Und die Eltern sind, wenn überhaupt, mit der Beschränkung der Bildschirmzeit beschäftigt. Ist es beim digitalen Lernen mittlerweile nicht oft so, dass der Wissenstransfer nicht von den Erwachsenen auf die Schüler*innen sondern auch umgekehrt funktioniert? Und wenn ja, welche Freiheiten sollten Eltern ihren Kindern und Lehrer*innen ihren Schüler*innen geben?
Viele Fragen, die es noch zu beantworten gibt. „Ich finde allgemein, dass Lernen allgemein und Lernen in der Schule keine Einbahnstraße sein sollte.“, so Simon Prossliner. „Insofern sehe ich das Wissen, welches Schüler*innen bereits haben oder sich in ihrer Freizeit aneignen und mit ins Klassenzimmer mitbringen weniger als eine Herausforderung, sondern vielmehr als Bereicherung! Aber was das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit anbelangt, da ist es schwierig, eine simple Antwort zu geben. Was es braucht, ist die Ermächtigung zu einem eigenverantwortlichen, aber auch verantwortungsvollem Umgang mit der digitalisierten Welt.
Und wie ist das mit den Steckdosen?
Das langsame WLAN zuhause, der begrenzte Datentarif am Mobilgerät oder die fehlenden Steckdosen für 30 Smartphones und 30 iPads in einer einzigen Klasse. Der Zugang zu digitalen Geräten für Kinder und Jugendliche in Österreich ist im Jahr 2022 sicher sehr unterschiedlich. Hinzu kommen noch die finanziellen Möglichkeiten in der Familie oder aber auch technische Probleme, die gelöst werden müssen. Wir überziehen die kurze Pause ein kleines Bisschen und hoffen, dass uns Simon Prossliner noch erklären kann, wie wir diese Hürden überwinden können:
„Natürlich stehen wir vor einer großen Herausforderung und gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass im Moment auch wahnsinnig viel passiert. Wir erleben einen Umbruch sowohl im Hinblick auf die Unterrichtsgestaltung, das Lernen der Kinder und aber auch im Hinblick auf die schulische Infrastruktur. Ich denke es gilt neugierig und offen für Neues zu sein sowie nach neuen Lösungen für neue Herausforderungen zu suchen.“
Großes Engagement an den Schulen
Einen Tag später stellen wir uns erneut vor die Tür des Juryraums und treffen zufriedene Juror*innen. Die Gewinner*innenprojekte sind identifiziert, zahlreiche Ideen für das Lernen und Arbeiten mit digitalen Geräten im Schulunterricht sind zusammengetragen.
Wir fragen abschließend Veronika Krenn, ob sie nach diesem Jurywochenende einen anderen Blick auf das „Digitale Lernen“ bekommen hat: „Digitales Lernen ist facettenreich und findet sowohl in der Schule als auch zu Hause statt. Es geht ja nicht nur darum, kreative Projekte in den Schulalltag zu integrieren. Genauso wichtig ist es, an die ersten gemeinsamen Schritte mit den neuen Geräten zu denken. Vom ersten Einrichten bis zu Handhabung der Geräte – die Pädagog*innen sind hier die ersten Ansprechpersonen und decken bereits jetzt schon viele Aspekte ab. Jedes audio-visuelle Projekt, jede weitere Zeile an Programmierkenntnis aber auch jede weitere Stunde der Nutzung von Online-Tools zur Zusammenarbeit trägt dazu bei, dass sich die digitalen Kompetenzen bei den Lernenden verankern.“
Welcher Eindruck bleibt bei Simon Prossliner vom OeAD? „Um ehrlich zu sein, habe ich im Vorfeld bestmöglich vermieden mir konkrete Erwartungen hinsichtlich eingereichter Projekte zu machen, ganz einfach um mir einen möglichst unvoreingenommenen Blick zu bewahren. Vielleicht weniger überrascht, aber ganz besonders begeistert hat mich aber das Engagement und die Energie, die bereits an vielen Schulen in die Digitalisierung fließt.“
Der Bildungspreis „Klasse! Lernen“ hinterlässt ein deutlich positives Bild. Bei Digitalem Lernen geht es also nicht nur darum, digitale Werkzeuge zu beherrschen und anzuwenden, sondern auch möglichst viele Synergien und Ergänzungen zwischen analogem und digitalem Unterricht zu finden – und vor allem dann auch umzusetzen.
Simon Prossliner (IT) begeistert sich für Student Leadership — wenn Kinder die Möglichkeit bekommen, Verantwortung für Veränderung und Innovation zu übernehmen und diese selbst zu gestalten. Dabei liegen ihm besonders Diversität, selbstständiges, kreatives Denken und (digitale) Innovation am Herzen. Nachdem der gebürtige Südtiroler Politikwissenschaft in Wien und Harvard studierte, verschlug es ihn in den Bildungsbereich. Er unterrichtete an einer Wiener Mittelschule, setzte sich als Lead Fellowprogramm für Teach for Austria für Bildungsgerechtigkeit ein und engagierte sich im Rahmen der MTOP “Culture School“ dafür, Schulen zu im Umgang mit Vielfalt und Diversität zu sensibilisieren. Seit 2020 ist der beim OeAD als Projektleiter der Geräteinitiative “Digitales Lernen“ tätig.
Veronika Krenn (AT) ist Produzentin bei Ars Electronica und u.a. für die Neuentwicklungen von Ausstellungen im Ars Electronica Center verantwortlich. Seit ihrem Abschluss des Studiums Interface Cultures an der Kunstuniversität Linz ist sie als Künstlerin und Kulturschaffende tätig. In ihren Arbeiten untersucht sie unkonventionelle Kommunikationsstrategien im Bereich der Medienkunst und Eat Art. In ihren Tätigkeiten beim artist-run space bb15 arbeitet sie intensiv mit internationalen Partnerorganisationen, um ein Netzwerk für Klangkunst zu schaffen.