Im digitalen Kampf um Gerechtigkeit

[:en]Citizen Science Workshop: Toolbox for Civil Investigation – Focus on Environmental Crimes: Image detail: radar image with coordinates and rough length measurement of the oil trace [:de]Citizen Science Workshop: Toolbox für zivile Investigation – Fokus Umweltverbrechen: Bildausschnitt: Radarbild mit Koordinaten und grobe Längenmessung der Ölspur, Radar image showing oil trace; Source: Radar satellite Sentinel-1, Copernicus EO browser

Um sich in den Grauzonen zwischen Fakes und Facts zurechtzufinden, braucht man Skills und Tools. Mit ziviler Geheimdienstarbeit – „Citizen Intelligence“ – kann damit jede*r von uns von zu Hause aus dazu beitragen, Missständen oder Verbrechen auf die Spur zu kommen.

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Durch die breite zivile Aufmerksamkeit schafft ihr erschwerte Rahmenbedingungen für Gesetzesübertritte und könnt unter Umständen schwerwiegende Folgen verhindern. Während der Citizen Science Days bietet das Ars Electronica Center daher eine Reihe spannender Workshops an, bei denen angehende Whistleblowers die Möglichkeit haben, sich mit notwendigen Werkzeugen und Wissen auszustatten. So geht ihr nicht nur Umweltverbrechen nach, sondern auch Verstößen gegen den Datenschutz oder politischen Missständen.

Bei einem ersten Citizen Science Workshop wurde bereits eine unglaubliche Entdeckung gemacht: Während nach Anzeichen eines leider recht häufigen Umweltverbrechens gesucht wurde, wies eine verdächtige Spur auf der Meeresoberfläche vor der Schwarzmeer-Küste Rumäniens die Teilnehmenden auf eine Ölspur hin, die in Kombination mit weiteren Tools sogar erste Hinweise auf die möglichen Verursacher liefern konnte. Über die investigativen Methoden, die großen Ziele und ersten Erfolge dieser Initiative haben wir mit Phillip Gartlehner, Infotrainer und Motor der Workshop-Reihe Toolbox für zivile Investigation, gesprochen.

Phil, was bewegt euch und wie seid ihr überhaupt auf die Idee zu diesem Workshop gekommen? Woher kennt ihr all diese nützlichen, digitalen Tools?

Toolkit

Mit diesen Cyber-Tools kommt ihr einem gängigen Umweltverbrechen auf die Spur:

Phil Gartlehner: Obwohl die Verschmutzung der Weltmeere weltweit zu den drängendsten Umweltproblemen gehört, setzt sich bisher nur ein verschwindend kleiner Teil der Weltbevölkerung für den aktiven Meeresschutz ein. Viele von uns fühlen sich machtlos oder halten ihren persönlichen Handlungsspielraum für zu begrenzt. Während wir daher gerne die Verantwortung an Politiker*innen abschieben, sind wir uns meist zu wenig darüber bewusst, dass wir selbst Teil der Lösung sein können. Mit den Citizen Science Days wollen wir die Menschen dazu einladen, sich selbst als Zukunftsgestalter*in zu begreifen.

Die Idee, Open Source Quellen wie Satellitenbilder, Sensordaten oder Webcams zu verwenden, aber auch Methoden wie Geolokalisieren oder Chronolokalisieren, haben wir durch die investigative Recherchegruppe Bellingcat kennengelernt. Sie erklärt in ihren Beiträgen sehr gut, wie sie die Recherchen durchführt und welche Quellen sie nutzt. Einerseits ist das enorm spannend und andererseits auch lehrreich. Auf die Idee mit den Ölspuren sind wir aber durch Skytruth gekommen. Das ist eine NGO, die sich unter anderem mit diesem Thema befasst und mittlerweile sogar mit ihrem KI-Modell ‚Cerulean‘ automatisiert nach Ölverschmutzungen fahndet.

Die Werkzeuge in unserer digitalen Toolbox, die wir in unseren Workshops bei den Citizen Science Days im Ars Electronica Center nutzen, sind für viele NGOs oder auch Journalist*innen nicht neu. Bei den Citizen Science Days probieren wir diese Methoden und Werkzeuge gemeinsam mit den Besuchenden einfach selbst aus – ohne KI, dafür aber mit Citizen Intelligence.

Welche Werkzeuge und Methoden verwendet ihr und was habt ihr auf diese Weise entdeckt?

Phil Gartlehner: Auf Aufnahmen vom 18. Februar 2023 des Radarsatelliten Sentinel-1 aus dem ‚Copernicus EO-Browser‘ haben wir dabei im Schwarzen Meer vor der Küste Rumäniens eine verdächtige Spur im Wasser entdeckt. Ein glatter Ölfilm am Meer reflektiert die Signale des Satelliten anders, als eine eher raue Wasseroberfläche, wodurch er erkennbar und auffindbar wird. Weil uns ähnliche Strukturen auf Radarbildern in der Ausstellung Global Shift im Ars Electronica Center bereits bekannt sind, konnten wir davon ausgehen, dass es sich bei dieser Spur um eine Ölverschmutzung handeln könnte.

Citizen Science Workshop: Toolbox für zivile Investigation – Fokus Umweltverbrechen: Ölspur im Schwarzen Meer vor Constanta in Rumänien am 18. Februar, aufgenommen von Radarsatellit Sentinel-1, Quelle: Radarsatellit Sentinel-1, Copernicus EO-Browser
Citizen Science Workshop: Toolbox für zivile Investigation – Fokus Umweltverbrechen: Bildausschnitt: Radarbild mit Koordinaten und grobe Längenmessung der Ölspur, Source: Radar satellite Sentinel-1, Copernicus EO browser

Im Schwarzen Meer gibt es Öl- und Gasplattformen, die als mögliche Quelle der Verschmutzung in Frage kämen, doch keine davon befindet sich in unmittelbarer Nähe der verdächtigen Spur. Also konzentrierten wir uns auf Schiffe als potenzielle Verursacher. Um herausfinden, welches das Öl verloren haben könnte, oder vielleicht sogar illegal abgesondert hat, war uns zunächst nur der „Tatort“ und die ungefähre „Tatzeit“ des Vorfalls bekannt. Das Reinigen von Schifftanks auf offener See ist leider eine gängige Praxis, die viel zu oft ungeahndet bleibt.

Auf Seiten wie ‚marinetraffic.com‘ oder „vesselfinder.com“ kann man die Namen, Inhaber, Routen, Geschwindigkeiten und viele weitere Informationen zu den großen Transportschiffen live mitverfolgen. Während ich auf einer weiteren Website die Visualisierungen vom 18. Februar von Meeresströmungen, Wind- und Wellenrichtungen gecheckt habe, hat mein Kollege David zusammen mit den Teilnehmenden die Schiffe in der Nähe der Koordinaten genauer unter die Lupe genommen.

Citizen Science Workshop: Toolbox für zivile Investigation – Fokus Umweltverbrechen: Meeresströmungen im Schwarzen Meer: Wind und Strömungen beeinflussen die Ausbreitung von ausgelaufenem Öl., Source: earth.nullschool.net

Ein Öltanker erschien uns dabei als besonders verdächtig: Die ‚Sunbeam‘ war unterwegs von Istanbul nach Odessa, und legte dabei einen Zwischenstopp in der Nähe jener Stelle ein, an wir das Öl später entdeckt haben. Auf der Karte sind die seltsamen Manöver der ‚Sunbeam‘ protokolliert. Nach einigen Stunden hat sie die Route leicht abgeändert und ist weitergefahren.

Citizen Science Workshop: Toolbox für zivile Investigation – Fokus Umweltverbrechen: Zwischenstopp an den Koordinaten der Ölspur am Vorabend des Satellitenüberflugs, Quelle: vesselfinder.com [:en]Source: vesselfinder.com

Und was habt ihr mit all diesen aufregenden Informationen gemacht?

Phil Gartlehner: Als wir die International Maritime Organisation (IMO) kontaktiert und ihr unsere Informationen in Form von Screenshots gesendet haben, haben wir auch rasch eine Antwort bekommen. Man hat sich bei uns bedankt und uns die Kontaktdaten der rumänischen Meeresbehörde in Constanta gegeben. Bei solchen Vorfällen genügt es nämlich nicht, nur mit Satellitenbildern zu arbeiten. Es muss auch vor Ort inspiziert werden, um genauere Untersuchungen einzuleiten.
Nun warten wir gespannt auf das Ergebnis der weiteren Untersuchung dieses Falles. Es war unser Ziel, etwas zu ändern, zu verbessern, und nun wird dieser Vorfall jedenfalls weiterverfolgt. So kann das Öl gegebenenfalls – so gut es geht – beseitigt werden und die Verursachenden können zur Rechenschaft gezogen werden. Doch das müssen nun andere Institutionen klären.

Auch ihr wollt die Ruder selbst in die Hand nehmen und mit den Citizen-Science-Initiativen der Ars Electronica diese Welt zum Besseren verändern? Werdet so rasch als möglich selbst zu zivilen Geheimagent*innen! Am SA 18.3. und SA 15.4. finden die nächsten Citizen Science Days statt. Beim kommenden Workshop werden wir uns auf die Themen „politische Missstände“, „Extremismus“, „Verschwörungen“ und „Hass im Netz“ fokussieren. Details dazu sind noch geheim, doch eines wollen wir euch jetzt schon verraten: Es wird ein wahres Citizen-Intelligence-Feuerwerk geben!

Beruflich ist Phil Gartlehner zuständig für Erdbeobachtung, Citizen Science und Klima- und Energiethemen im Ars Electronica Center. Privat hingegen interessiert er sich für Erdbeobachtung, Citizen Science sowie Klima- und Energiethemen und Theater. Die Trennung von Beruflichem und Privatem ist nicht seine Stärke, dafür aber das Tragen diverser Kopfbedeckungen.

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