Von 6. bis 10. September 2023 lädt Ars Electronica Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Entwickler*innen, Designer*innen, Unternehmer*innen und Aktivist*innen aus aller Welt wieder nach Linz, Österreich. Welche Überlegungen Europas größtes Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft heuer in den Fokus rückt und welche Gedanken hinter dem diesjährigen Thema stehen, darüber haben wir mit dem künstlerischen Leiter der Ars Electronica, Gerfried Stocker, gesprochen, und für euch in einer mehrteiligen Blogserie aufbereitet. An deren Anfang steht natürlich das Thema, heuer als Frage formuliert: Who Owns the Truth? Wem gehört die Wahrheit?
Wahrheit und Eigentum, Deutungshoheit und Souveränität. Das Thema des heurigen Ars Electronica Festivals ist ganz nah dran an den Brennpunkten unserer Zeit. Kann man Wahrheit besitzen? Gibt es ein Recht auf Wahrheit und wenn sie jemand gehört, welche Verfügungsgewalt und welche Verantwortung wären damit verbunden? Was haben diese Fragen mit der Digitalisierung zu tun und wie hängt das mit der sich atemberaubend entwickelnden Leistungsfähigkeit der sogenannten Künstlichen Intelligenz zusammen?
In einer Zeit aber auch, in der sich einige wenige in neo-feudalistischer Weise die Bewirtschaftung des kollektiven Wissens unter den Nagel gerissen haben und wir auch gute Gründe haben, die Vision von Technologie als Lösung unserer Probleme in Frage zu stellen.
Dahinter steht die zentrale Frage, wie wir die großartigen Errungenschaften von Wissenschaft und Technologie für ALLE Menschen zugänglich und auch nutzbar machen können. Es reicht nicht aus, nur darüber nachzudenken, wie wir verhindern können, dass KI-Systeme jemandem schaden (auch wenn das von zentraler Wichtigkeit ist). Ein Werkzeug, das so sehr auf dem global-kollektiven „Rohstoff“ von Wissen, Kreativität etc. basiert, muss auch allen einen Nutzen bringen.
Vom Digitalen Humanismus zu einem Digitalen Sozialismus
In den letzten Jahren haben wir viel über „Digitalen Humanismus“ nachgedacht, einen digitalen Humanismus, der eine gerechte und demokratische Gesellschaft aufbaut, in der der Mensch im Mittelpunkt des technologischen Fortschritts steht. Der digitale Humanismus stellt sicher, dass unsere Bedürfnisse und universellen Menschenrechte erfüllt werden und setzt sich für die Wahrung unserer Menschenwürde ein. Er gestaltet Technologien im Einklang mit menschlichen Werten und sieht alternative Wege für die Interaktion zwischen Mensch und Maschine vor, die auf Vielfalt und Inklusion bei der Entwicklung, Implementierung und Anpassung digitaler Werkzeuge ausgerichtet sind.
Jetzt ist es aber an der Zeit, über einen „Digitalen Sozialismus“ nachzudenken, also über ein „Gemeinwesen“ und einen „Gesellschaftsvertrag“, mit dem wir die tief- und weitgreifenden Veränderungen des digitalen Zeitalters und vielmehr noch die global-kollektiven Konsequenzen des Klimawandels bewältigen können.
Zugegeben, eine schier unbewältigbare Herausforderung, aber gerade dafür soll und kann ein Festival wie die Ars Electronica stehen. Ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Festival, bei dem seit mehr als vier Jahrzehnten unter der Formel „Kunst, Technologie und Gesellschaft“, nicht nur reflektiert wird, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert, sondern immer auch aufgezeigt wird, wie Kunst und Gesellschaft die Technologie gestalten können.
Wie können wir, als Gesellschaft, uns von einem Digitalen Humanismus, noch einen Schritt weiterbewegen, um die drängenden Fragen dieser Zeit zu beantworten? Dieser Schritt weiter, der führt uns hin zu einem Digitalen Sozialismus, hin zu einer Neuverhandlung des Gesellschaftsvertrages.
Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag
Der Gesellschaftsvertrag ist ein hypothetischer Vertrag zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, der ihre Rechte und Pflichten definiert und ihre individuellen Interessen und Wohlfahrt schützt. Es umfasst Elemente wie Regierungsform, Gesetze, Bürgerrechte und -pflichten sowie Beziehungen zwischen Bürgern und Regierung. Die Theorien über den Gesellschaftsvertrag sind kontrovers und umstritten, da einige ihn als notwendig für eine gerechte Gesellschaft betrachten, während andere ihn als Einschränkung der Freiheit und individueller Rechte ansehen. Insgesamt ist der Gesellschaftsvertrag ein wichtiges Konzept für das Verständnis der Beziehung zwischen Bürgern und Regierung.
In einer Welt, in der KI-Systeme zur Bildgenerierung eingesetzt werden und die Grundlagen unserer Gesellschaft verändern, sind wir gezwungen, den Gesellschaftsvertrag neu zu schreiben. Die Angst vor Veränderungen und die Umbrüche für unsere Wertevorstellungen sind nicht neu, sie begegnen uns immer wieder, wenn wir auf die Vergangenheit zurückblicken. Doch jetzt müssen wir uns der Herausforderung stellen, wie wir eine neue Weltordnung verhandeln können. Dabei geht es um Fragen der Verantwortung, der Rechte an Eigentum und Intellectual Property, des Zugriffs auf Daten und der Kontrolle über KI-Systeme.
Wir müssen sicherstellen, dass Medienaufträge und öffentlich-rechtliche Aufträge auch unter Nutzung von KI-Systemen gewährleistet sind, um Bias und unzureichende Datengrundlagen in der medialen Repräsentation zu vermeiden. Wir müssen auch darüber nachdenken, ob es vertretbar ist, dass die Gesellschaft die Entwicklung von KI-Systemen, die Ausbildungen, die dafür notwendig sind, finanziert, während das Ergebnis der Technologien privatisiert wird. Alle diese Überlegungen erfordern eine neue Form der Zusammenarbeit und einen Konsens darüber, wie wir unsere Gesellschaft gestalten wollen, um eine digitale Zukunft für alle zu schaffen.
Als Ars Electroncica vertreten wir die Meinung, dass es bei alldem unerlässlich ist, Technologien nicht von vornherein negativ gegenüberzutreten, sondern uns die Frage zu stellen: Wie können wir uns Technologie zu Nutze machen, wie können wir sie vor allem für alle Menschen zugänglich machen? Dabei wollen wir nicht nur die Frage stellen: Wie kann Technologie keinen Schaden anrichten? Sondern uns vielmehr fragen: Wie kann man die Gesellschaft in eine Position bringen, um an den Profiten und dem Nutzen neuer Technologien teilzuhaben? Eine massive Veränderung des Wirtschaftssystems, eine Umverteilung ist dabei nicht wegzudenken.
Worum also soll es jetzt am Ars Electronica Festival 2023 gehen?
Es geht um Wahrheit als Manifest von Deutungshoheit und Souveränität, um den Umgang mit dem Verlust des Anspruchs auf „die“ Wahrheit und damit, dass wir uns daran gewöhnen müssen, Wahrheit als Plural zu denken. Es geht um Wahrhaftigkeit als Grundlage unserer Wertvorstellung von „echt“ und „original“ und wie sich diese Begriffe im Digitalen bereits transformiert haben. Es geht um die kollektive Synchronisation von Wahrnehmung als Strategie für Fake und Verschwörung in den Social Media und um die Machenschaften der Lobbies und Großindustrie, von der Beeinflussung der wissenschaftlichen Grundlagen des menschengemachten Klimawandels bis zu den Betrügereien des Dieselskandals. Es geht um Rede- und Meinungsfreiheit, darum, wie wir mit offensichtlichen Lügner*innen bis hinauf in die höchsten politischen Ämter umgehen und wie wir mit Menschen, die unangenehme Wahrheiten veröffentlichen umgehen, wie z.B. Edward Snowden und Julian Assange. Es geht darum, ob die Wahrheit den Menschen zumutbar ist und um die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnis und Evidenz. Es geht aber auch um den Eigentumsbegriff der Natur, über die jahrhundertealte philosophische und rechtswissenschaftliche Debatte hinaus, um die faktische Realität der Ausbeutung und Zerstörung der Natur als gnadenlose Hypothek an die nächsten Generationen. Und es geht natürlich um all das, wovon wir glauben, fürchten oder hoffen, das sich durch die sogenannte Künstliche Intelligenz ändern wird.
In den folgenden Teilen dieser Blogserie gehen wir näher auf die einzelnen Aspekte des Festivalthemas ein, wir zeigen euch Beispiele, wie diese kĂĽnstlerisch umgesetzt werden können und welche neuen Fragen sich dadurch ergeben. AuĂźerdem haben wir einiges an weiterfĂĽhrenden Links und Quellen fĂĽr euch, wenn ihr noch mehr zu diesen Themen erfahren wollt. In der Zwischenzeit könnt ihr zum Beispiel auf unserem Mastodon Account mehr zum Thema „Who owns the truth?“ nachlesen.
Die Highlights des Ars Electronica Festival 2023 findest Du hier.