Das Schweigen unterdrückter Stimmen brechen

, Image courtesy Australian Centre for Contemporary Art, Melbourne; Photograph: Andrew Curtis

Kann Gelöschtes wiederhergestellt werden? Wie beeinflusst eine globale Krise wie die COVID-19 Pandemie die Gefahr von erzwungenem Schweigen? Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz für Löschung und Zensierung? Das Werk von Winnie Soon konfrontiert uns mit Fragen der Handlungsfähigkeit und Kontrolle im Kontext eines Regimes, das die digitale Infrastruktur zur Ausübung von Zensur nutzt. Der Fokus liegt dabei auf Weibo, eine von Chinas größten Social Media Plattformen (ähnlich Twitter). Mit Hilfe des Weiboscope Systems werden die Timelines von Microblogger*innen analysiert und Tweets, die vom Regime zensiert wurden, identifiziert. So kommt am Ende die Unerasable Characters Series zustande, über deren Idee und Hintergründe Winnie Soon weitere Details verraten hat.

Image courtesy Australian Centre for Contemporary Art, Melbourne; Photograph: Andrew Curtis

Wie sind Sie an die Aufgabe herangegangen, die zensierten Tweets von Weibo technisch zu untersuchen und poetisch darzustellen, und was waren einige der Herausforderungen, mit denen Sie konfrontiert waren, um die Essenz der unterdrückten Stimmen einzufangen?

Winnie Soon: Ich habe versucht, die Temporalität der unterdrückten Stimmen zu erforschen, anstatt eine Essenz aus den am meisten zensierten Texten oder aus der Analyse von Datentrends zu filtern. Der Datensatz, mit dem ich arbeite, enthält sowohl die Zeitpunkte der Erstellung als auch der Löschung und ich verwende sie als Grundlage für alle einzelnen Werke in diesem Kunstprojekt. Ich habe zwar verschiedene Ausdrucksformen wie Ton oder visuelle Medien in Betracht gezogen, aber ich fand die bildhafte Form chinesischer Schriftzeichen besonders faszinierend und einzigartig. Können wir diese Daten als Grafiken sehen? Ich habe darüber nachgedacht, ob die Daten in Grafiken umgewandelt werden können und wie man sie anders darstellen kann. Neben dem zeitlichen Aspekt bin ich auch an der Räumlichkeit eines Satzes interessiert. Zum Beispiel wird in Unerasable Characters II der Tweet in eine Zeichen-für-Zeichen-Anzeige dekonstruiert, die eine blinkende Einheit darstellt. Meiner Meinung nach hat es Sinn gemacht, Chinesisch auf diese Art und Weise darzustellen, da jedes einzelne Zeichen eine Bedeutung hat und ein Wort für sich ist. Ein weiteres Beispiel ist der verschwommene Text von Unerasable Characters III, der die Länge des Textes und nicht den tatsächlichen Inhalt/die tatsächlichen Zeichen zeigt. Ich interessiere mich also dafür, wie ich die „Eigenschaften“ der (zensierten) Zeichen zum Ausdruck bringen kann, und habe mich schließlich entschieden, mich auf das Ausmaß und das Stillschweigen der unterdrückten Stimmen zu konzentrieren. Durch permanentes Scrollen (Unerasable Characters III), unverständliche Projektion (Unerasable Characters II) und einen drohenden Stapel von Papieren (Unerasable Characters I) wollte ich den Umfang der Zensur vermitteln und einen dauerhaften Raum für Kontemplation schaffen. Wichtig war mir, dass das Kunstwerk eine poetische Qualität besitzt, die sowohl Chinesisch sprechende Menschen als auch solche, die mit der Sprache nicht vertraut sind und ähnliche Sorgen und Probleme haben, erreichen kann. Ob das Werk nun lesbar ist oder nicht, ist für mich weniger wichtig. Vielleicht ist diese Unmöglichkeit des Lesens auch eine Wiederholung der Politik der Zensur und kreiert so eine Art Ironie.

Image courtesy Australian Centre for Contemporary Art, Melbourne; Photograph: Andrew Curtis

Welche Rolle spielt das System Weiboscope bei der Sammlung und Visualisierung der zensierten Tweets?

Winnie Soon: Die Unerasable Characters Series sammelt ungehörte Stimmen in Form von zensierten/gelöschten (mit verweigerter Genehmigung) Textdaten. Sie basiert auf einer der größten Social-Media-Plattformen in China – Weibo – und einem System namens Weiboscope. Dieses Projekt wurde von Dr. Fu King-wa von der Universität Hongkong entwickelt und dient der Datenerfassung und -visualisierung. Das System hat regelmäßig die Timelines ausgewählter chinesischer Mikroblogger*innen, die mehr als 1.000 Follower*innen haben oder deren Beiträge häufig zensiert werden, untersucht. Als solches ist Weiboscope ein zentrales Element, das eine wesentliche Rolle bei der Bereitstellung der täglichen Daten und des Datensatzes für Unerasable Characters III gespielt hat. Ich habe ein Skript entwickelt, um die Daten täglich zu scannen und zu analysieren, was es mir ermöglicht, sie auf poetische Weise rechnerisch zu visualisieren. Für weitere Informationen über Weiboscope und verwandte Konzepte, wie die Bedeutung von zensierten Daten in der Berechnung und die Weibo-API mit dem Status „Erlaubnis verweigert“, kann ich den Artikel „Censorship on Microblogs“ von King-wa Fu, Chung-hong Chan und Michael Chau sowie den assessment report on Weiboscope empfehlen.

Image courtesy Australian Centre for Contemporary Art, Melbourne; Photograph: Andrew Curtis

Inwiefern stellen die drei Werke dieses Projekts lyrische Aufbewahrungsorte für unterdrückte Stimmen dar?

Winnie Soon: Ich würde sagen, die Poetik liegt in der (Un-)Sichtbarkeit von zensiertem Text, von einem konkreten Post/Tweet und gesammelten Daten im Weiboscope bis hin zu den weiteren „Lagerstätten“, die vage sichtbar gemacht werden. Die Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Löschbarem und Nicht-Löschbarem ist etwas, das ich aufdecken möchte, wobei unterdrückte Stimmen eine generative Kraft entfalten können. Alle Stimmen haben den Wunsch, gesehen zu werden (sonst würden sie nicht in den sozialen Medien auftauchen). Obwohl das Thema etwas schwer – oder kritisch und politisch aufgeladen – ist, möchte ich die unterdrückten Stimmen auf eine poetische und generative Art und Weise präsentieren, die Diskussionen und Reflexionen über die Normalisierung der Zensur in einem weiteren Kontext anregen kann. Ich denke an das Zitat von Yung Au, der sehr schön formuliert hat, wie Löschungen mit dem alltäglichen Leben in Verbindung gebracht werden können: „Alle Informationsinfrastrukturen kategorisieren, priorisieren, moderieren, rahmen, verstecken und löschen. Diese Prozesse vollziehen sich über Zeit und Raum hinweg, von den instabilen Archiven der Vergangenheit über die lebendigen Dokumente der Gegenwart bis hin zu den Seiten der Zukunft, die niemals erscheinen werden.“ ( siehe ref)

Wie fordern Sie die staatlich verordnete Zensur heraus und machen auf diese und ihre Folgen für digitale Infrastrukturen aufmerksam?

Winnie Soon: Dass die Werke in verschiedenen öffentlichen Ausstellungen an verschiedenen geopolitischen Orten ausgestellt werden, ist bereits eine Möglichkeit, Menschen zum Nachdenken über Zensur und Löschung anzuregen, ganz zu schweigen von Wissenschaftler*innen, Forscher*innen und Kurator*innen, die über die Werke schreiben und sich mit ihnen auseinandersetzen, um kritisches Denken zu diesen Themen zu fördern. Ich beziehe die Kunstwerke auch in meine Lehrtätigkeit ein, indem ich die infrastrukturellen Prozesse der Zensur erkläre und darlege, wie Kunst und Technologie sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit befassen können. Die Kunstwerke erinnern daran, wie wichtig es ist, Menschenrechte wie die Rede- und Meinungsfreiheit zu wahren, und regen zum kritischen Nachdenken über die Komplexität von Zensur und Löschung an, die über das bloße Entfernen hinausgeht. Wir müssen uns unbedingt dagegen wehren, mit dem zufrieden zu sein, was durch die technischen Mittel als Normalität dargestellt wird. Stattdessen müssen wir Wege finden, Solidarität aufzubauen und uns kritisch mit Technologie und Infrastruktur auseinanderzusetzen.

Die Werke von Winnie Soon sind Teil des diesjährigen Ars Electronica Festivals und können im Rahmen dessen besichtigt werden. Die Festival Highlights findest Du hier.

Winnie Soon (HK/UK) ist in Hongkong geboren und künstlerisch, im Programmieren sowie in der Forschung tätig. Soon interessiert sich für die kulturellen Auswirkungen digitaler Infrastrukturen, setzt sich mit größeren Machtasymmetrien auseinander und beschäftigt sich mit Themen wie Free and Open Source Culture, Coding Otherwise, künstlerischen/technischen Handbüchern, digitaler Zensur und einfacher Technologie. Die Arbeiten von Winnie Soon erscheinen in Museen, Galerien, Festivals, verteilten Netzwerken, Papieren und alternativen schriftlichen Formen, darunter die gemeinsam verfassten Bücher Boundary Images (2023), Fix My Code (2021) und Aesthetic Programming (2020). Außerdem hat Winnie Soon die Kursleitung am Creative Computing Institute, University of the Arts London sowie eine außerordentliche Professur (beurlaubt) an der Universität Aarhus inne.

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