Wir blicken zurück auf ein weiteres Jahr der ArtScience Residency, die durch die Unterstützung der Art Collection Deutsche Telekom ermöglicht wurde.
Wir als Ars Electronica freuen uns sehr, dass wir gemeinsam mit dem Team der Art Collection Deutsche Telekom aufstrebende Medienkünstler*innen aus Ost- und Südosteuropa unterstützen konnten. Entdecken Sie hier, woran die Gewinnerin des Jahres 2023, Špela Petrič, gearbeitet hat. Bevor wir die Erlebnisse und Entwicklungsschritte des vergangenen Jahres im Blogbeitrag Revue passieren lassen, sehen Sie sich die kurze Videodokumentation an.
Ende 2022 begann Špela ihren Austausch mit ihrer wissenschaftlichen Partnerin und Professorin für angewandte Ethik der KI, Aimee van Wynsberghe vom Bonn Sustainable AI Lab. Mit Špelas künstlerischer Forschungspraxis im Bereich der Automatisierung der Pflege richtete sie ihr Residency-Projekt auf Robotik und KI im Gesundheitswesen aus, was auch ein Forschungsschwerpunkt von Aimee ist. In ihrem Buch Healthcare Robots: Ethics, Design, and Implementation beschäftigt sie sich mit Fragen der angewandten Ethik im Bereich der Robotik im Gesundheitssystem. Klick, die beiden haben sich durch ihr engagiertes Interesse an den drängenden Fragen hinter der KI und ihren Möglichkeiten, aber auch Ambivalenzen verbunden.
Dies war der Beginn eines kontinuierlichen Austauschs. Aimee konnte Špela mit Dr. Jan Arensmeyer von der Abteilung für Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie des Universitätsklinikums Bonn bekannt machen. Das Krankenhaus hatte gerade einen neuen chirurgischen Roboter namens Dexter von der Schweizer Firma Distalmotion erhalten. Während sich der Roboter noch im Vorführraum befand, konnte das Künstlerteam eine Tour in Form einer Performative Ethnography organisieren, um ihm zu begegnen.
Performative Ethnographies ist der Name der Methodik, die Špela für ihre Untersuchungen zur Automatisierung der Care-Arbeit entwickelt hat. Špela lädt eine Gruppe von 10-15 Personen ein, um an einer Expedition in Krankenhäusern teilzunehmen. Die Teilnehmerinnen werden von Mitarbeiterinnen der Krankenhäuser in die Räumlichkeiten, Technologien und täglichen Aktivitäten eingeführt, können aber auch den Roboter Dexter anfassen und benutzen oder per Video mit einem Elektrophysiologen telefonieren, während dieser eine Routineoperation bei Herzrhythmusstörungen durchführt. Auf diese Weise werden die Teilnehmer*innen zu Amateur-Ethnograph*innen und sind aufgefordert, den Input durch die von ihnen selbst gewählte Brille zu betrachten. Manchmal beobachten die Teilnehmer*innen aus der Perspektive von z. B. eine*rm YouTuberi*n, eine*sr Lehrer*in oder eines Kind, und manchmal aus der Position von Objekten, Konzepten oder Prozessen, wie z. B. einer KI, einem EKG-Kabel oder dem Herzen des Chirurgen, der eine Operation am Herzen eines Patienten durchführt. Während der partizipatorischen Aufführung sind die Teilnehmerinnen eingeladen, den Mitarbeiter*innen des Krankenhauses Fragen zu stellen. Zum Abschluss der Veranstaltung werden die Beobachtungen und Feldnotizen der Amateur-Ethnograph*innen in Form eines Video-Statements gesammelt.
Gleichzeitig konnte Špela einen weiteren Partner an Bord holen, nämlich das ELSA AI Lab Northern Netherlands mit seiner Forschung zu neu entstehenden KI-Anwendungen im Bereich des Gesundheitswesens, insbesondere zum Einsatz von KI beim DNA-Screening von Neugeborenen auf Stoffwechselkrankheiten und zur Nutzung von KI-generierten synthetischen Daten in der medizinischen Bildgebung. Eine Performative Ethnographies wurde in der Abteilung für Genetik des University Medical Center in Groningen, NL, durchgeführt.
Last but not least konnte Laura, Leiterin von Ars Electronica Export, das Interesse von Dr. Prof. Pürerfellner, dem Leiter der Rhythmologie und Elektrophysiologie des Ordensklinikums Linz Elisabethinen, gewinnen. Voila, drei Krankenhäuser bzw. Forschungseinrichtungen öffneten ihre Türen für eine künstlerische Auseinandersetzung mit den herausfordernden Fragen, die hinter der Automatisierung der Pflegearbeit stehen.
Das Ziel der Performative Ethnographies ist ein zweiseitiges: Einerseits sollen die Teilnehmer*innen und damit die breite Öffentlichkeit mit der Komplexität der Mechanismen, die hinter diesem Forschungsgebiet stehen, sowie mit der technologischen Entwicklung vertraut gemacht werden. Andererseits ist es auch eine einmalige Gelegenheit für die Ärzte und Ärztinnen als auch Forscherinnen, Einblicke von der breiten Öffentlichkeit zu erhalten. Diese beiden Perspektiven treffen sich üblicherweise nicht.
Gemeinsam mit ihrem Team nutzte Špela die Ergebnisse dieser Expeditionen, Interviews und Beobachtungen, um an der endgültigen Kunstinstallation zu arbeiten. Ihre Mitarbeiterin und Forscherin Janita Chen nahm sich des ELSA-NN-Anwendungsfalls Genetik mit einer von der Akteur-Netzwerk-Theorie inspirierten visuellen Karte an. Reon Cordova, Künstlerin und Forscherin, hat den ELSA-NN Anwendungsfall der synthetischen Daten in Form einer 4-Kanal-Audio-Map abgebildet. Schließlich wurden beide Datensätze und die Erfahrungsberichte der Teilnehmer*innen der performativen Ethnographien als Material für einen spekulativen Filmessay verwendet. Die Videoarbeit spielt mit spekulativer Normalisierung durch ein Interview mit dem Chief Researcher of Multibody Perspectives in AI and Medicine von einer imaginären medizinischen Regulierungsbehörde der EU, durch das die Künstlerin kritisch hinterfragt, wessen Belange, Interessen und Werte bei der nahen und weit verbreiteten KI-Implementierung im Bereich Gesundheit und Wellness berücksichtigt werden.
Neben Špelas Kunstwerk AIxxNOSOGRAPHIES in der Festival-Themenausstellung (Co)Owning More-than-Truth gab es bei der Ars Electronica eine weitere performative Ethnographie-Expedition, diesmal zum Thema Herz. Als Kardiologe ist Dr. Prof. Pürerfellner Leiter der Klinischen Elektrophysiologie am Ordensklinikum Linz Elisabethinen in Linz und gleichzeitig gewählter zukünftiger Präsident von der European Heart Rhythm Association (EHRA). Durch diese Verbindung ist er stark in verschiedene Forschungsprojekte in Europa involviert und MAESTRIA ist eines davon. So stellte er uns Dr. Prof. Götte, Leiter der Kardiologie am St. Vincenz-Krankenhaus in Paderborn, vor, der Herzerkrankungen und das Potenzial von KI bei der Vorhersage von Schlaganfällen untersucht.
Diesmal sahen die Teilnehmer*innen der performativen Ethnographie zuerst ein Live-EKG eines Patienten und eines gesunden Freiwilligen. Dr. Lemes und Schwester Ursula gaben eine allgemeine Einführung in Herzrhythmuserkrankungen und erklärten, was die Maschine erkennt, wie sie misst und wie sie beurteilen kann welches das gesunde und welches das erkrankte Herz ist. Danach gab Dr. Prof. Götte Einblicke, in welchen Bereichen der Herzrhythmusstörungen KI bereits angewandt wird und wo er das meiste Potenzial für ihr Forschungsprojekt MAESTRIA sieht. Dieser theoretische Loop war gefolgt von einem Livestream in den Operationssaal, wo Prof. Dr. Pürerfellner eine Routineoperation bei Herzrhythmusstörungen durchführte. Es gab Zeit für Fragen an die Ärzte und Ärztinnen und ein Gespräch über die gewonnenen Eindrücke. Zu guter Letzt hatten die Teilnehmer*innen Zeit, ihre Gedanken zu formulieren und ein Beobachtungsstatement zu verfassen, das gefilmt wurde und für die nächste Kunstwerk-Iteration verwendet werden wird.
Im Rahmen dieser ArtScience Residency, die von der ArtCollection Deutsche Telekom im Jahr 2023 ermöglicht wurde, konnte Špela Petrič verschiedene kritische Punkte der KI im Gesundheitswesen angehen und dabei ein breites Spektrum an Methoden anwenden: von der künstlerischen Forschung über Mapping und Videoessay sowie Audiomaps und vor allem die Arbeit mit der Öffentlichkeit durch performative Ethnografien. Ich habe das Gefühl, dass dies erst der Anfang einer weitreichenden künstlerischen Erkundung des grundlegenden Themas der KI im Gesundheitswesen ist. Dank der Unterstützung des Teams hinter der Art Collection Deutsche Telekom konnten wir diese Idee mit so viel Bildungs- und Sensibilisierungspotenzial auf den Weg bringen.
Dieses Kunstwerk entstand im Rahmen der ArtScience Residency, ermöglicht durch die Partnerschaft der Ars Electronica und der Deutschen Telekom und mit Unterstützung des Sustainable AI Lab der Universität Bonn.