„Calculating Empires“ verfolgt die Verflechtung von Technologie und Macht über fünf Jahrhunderte hinweg und zeigt auf, wie Kolonialismus, Militarisierung, Automatisierung und Abschottung in der heutigen Zeit funktionieren.
Die S+T+ARTS (Science + Technology + Arts) Initiative der Europäischen Kommission fördert die Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, um technologische Fortschritte voranzutreiben, die zur wirtschaftlichen und sozialen Innovation beitragen. Der Grand Prix – Artistic Exploration würdigt künstlerische Arbeiten und Ansätze, die neue Perspektiven auf Technologie und ihre Anwendungen eröffnen, oft konventionelles Denken in Frage stellen und neue Wege für die technologische Entwicklung aufzeigen. Diese Projekte untersuchen in der Regel, wie künstlerische Praktiken neue Technologien beeinflussen und inspirieren können, indem sie neue Erkenntnisse liefern und komplexe gesellschaftliche Herausforderungen angehen.
In diesem Jahr geht der Hauptpreis – Artistic Exploration – an „Calculating Empires” von Kate Crawford und Vladan Joler, eine groß angelegte Installation, die die miteinander verwobene Geschichte von Technologie und Macht über fünf Jahrhunderte hinweg untersucht. Sie zeichnet die Industrialisierung, den Imperialismus und die Automatisierung nach und zeigt, wie Imperien Technologie nutzten, um Macht zu zentralisieren. Das 24 Meter lange Projekt mit detaillierten Diagrammen wurde erstmals in der Fondazione Prada in Mailand und in den KW Institute in Berlin gezeigt. Es bietet eine historische Perspektive auf aktuelle technologische Herausforderungen wie KI, Klimakrise und Kriegsführung. In unserem Interview mit den Künstler*innen erfahren wir mehr über die tiefen historischen Wurzeln heutiger Technologie- und Machtstrukturen und die Auswirkungen visueller Erzählungen.
Wie baut „Calculating Empires” auf eurer früheren Arbeit „Anatomy of an AI System” auf?
Kate Crawford: Wie unsere früheren Arbeiten bietet auch „Calculating Empires” dem Publikum eine sehr detaillierte visuelle Darstellung der Beziehung zwischen Mensch und Technologie. „Anatomy of an AI System” beschäftigte sich mit dem Raum – und zeigte die planetarischen Anforderungen eines einzigen Amazon Echo. „Calculating Empires” beschäftigte sich mit der Zeit: Auf einer Zeitachse von Jahrhunderten wird gezeigt, wie sich unsere Kommunikations-, Klassifizierungs-, Berechnungs- und Kontrollsysteme gemeinsam entwickeln. Wir sehen diesen Kontext als notwendige Korrektur zur aktuellen Kurzsichtigkeit im Technologiediskurs und in der Visualisierung, die oft nur die neuesten Entwicklungen und Geräte betrachtet, statt den tieferen historischen und politischen Hintergrund zu beleuchten.
Vor allem verstehen wir unsere Arbeit als eine Form der kritischen Kartographie. Karten sind eine der ältesten Kommunikationsformen der Menschheit. Sie vermitteln zwischen unserer inneren Vorstellung und der äußeren Welt und verbinden wissenschaftliche und künstlerische Darstellungen der Realität. Wir lassen uns von der langen Tradition der kritischen Kartographie inspirieren, die von der politischen Theorie geprägt ist und strukturelle Machtverhältnisse aufdeckt, die oft verborgen oder unausgesprochen sind. Michel Foucaults Methode der Genealogie, die er als „Geschichte der Gegenwart“ bezeichnete, hat hier einen großen Einfluss – die Diskurse und Machtsysteme der Vergangenheit zu verfolgen, um zu verstehen, wie diese Prozesse zur Gegenwart geführt haben.
Mit welchen Methoden habt ihr die historischen Daten und Informationen, die in der Installation visualisiert werden, gesammelt und interpretiert?
Vladan Joler: „Calculating Empires” ist das Ergebnis von vier Jahren Recherche und Visualisierung. Dabei haben wir uns von Methoden der kritischen Kartographie und des visuellen Storytellings leiten lassen. Es ist eine Weiterentwicklung der Methodik, die wir in „Anatomy of an AI System” verwendet haben, wo wir verschiedene Untersuchungstechniken kombiniert haben, von Patentrecherchen über Cyber-Forensik bis hin zu technischen Untersuchungen. Hier haben wir diese Ansätze zusammen mit historischen Recherchen verwendet, die die Grundlage unseres visuellen Mosaiks bilden. Während ein Großteil der Recherche für „Calculating Empires” auf traditioneller Archivarbeit mit Büchern, wissenschaftlichen Artikeln und Online-Ressourcen basierte, haben wir diese durch weitere technische und Datenerfassungstechniken ergänzt.
Unsere Arbeit basiert auf einer nicht-linearen, räumlichen Erzählform. Sie ist zwar streng strukturiert und folgt unserer eigenen, eigenwilligen Logik, lässt aber dennoch Raum für unterschiedliche Lesarten. Die visuelle Sprache von „Calculating Empires” ist eine Weiterentwicklung des Stils und der Sprache einiger unserer früheren Arbeiten. Die Karte zeigt einen kontinuierlichen Fluss von Kategorien und Informationen, abstrakte Illustrationen und Diagramme sowie hunderte spezifische Texte.
Betrachter*innen werden die Karte auf ihre Weise verstehen und den Inhalt entsprechend seiner sozialen und kulturellen Erfahrungen interpretieren. Die Karten sind keine fertigen Sätze, sondern eine Einladung zum Dialog mit dem Betrachter.
„Calculating Empires” illustriert die Vergangenheit, um die Gegenwart zu beleuchten. Es ist als visuelle Reise konzipiert, welche die Betrachter*innen einlädt, die Rolle des technologischen Spektakels zu hinterfragen. Ziel ist es, das Publikum zu fesseln, indem interdisziplinäre Forschung mit informativen und provokativen Bildern darüber kombiniert wird, wie sich Technologie und soziale Systeme gemeinsam entwickeln.
Was sind angesichts der Größe und der Details der Installation die wichtigsten Erkenntnisse, welche die Betrachter*innen in Erinnerung behalten sollen?
Kate Crawford: „Calculating Empires” ist ein fesselndes Werk, das den aktuellen Stand der Technik und der Machtverhältnisse veranschaulicht und Einblicke in 500 Jahre Geschichte bietet, um eigene Verbindungen und Geschichten zu entdecken. Es lädt die Menschen dazu ein, die Politik zu erkennen, die alles durchdringt, was wir täglich benutzen, und wie sich die imperialen Mächte, die im 16. und 17. Jahrhundert die Kolonialisierung vorangetrieben haben, in der Zentralisierung der Macht in den Technologieunternehmen von heute widerspiegeln.
Als Forscher*innen sind wir frustriert über die meisten technologischen Diskussionen, die sich auf die neuesten KI-Modelle und Unternehmensstrategien konzentrieren. Dies führt zu einer Kurzsichtigkeit in Bezug auf die größeren Bewegungen der Abschottung und der extremen Konzentration von Macht und Reichtum. Wir hoffen, dass die Zuschauer*innen durch diese Arbeit einen neuen Blick auf die Gegenwart bekommen und sich gemeinsam vorstellen können, wie verschiedene Zukunftsszenarien aussehen könnten. Und wir hoffen, dass sie ein Gefühl für die Dringlichkeit politischen Engagements in unserer Welt entwickeln – es ist der einzige Weg, die zugrundeliegenden Dynamiken zu verändern, die zu einer Zentralisierung von Macht, zunehmender Militarisierung und einer Verschärfung der Klimakrise führen.
Wie können Kunst und visuelle Erzählungen eurer Meinung nach zu einem tieferen Verständnis der technologischen und politischen Geschichte beitragen?
Vladan Joler: Betrachtet man die Geschichte von Wissenschaft und Technik aus einer langfristigen Perspektive, so ist sie auch eine Geschichte der Visualisierung. Vom Venn-Diagramm bis zum neuronalen Netz haben visuelle Darstellungen den konzeptuellen Horizont der wissenschaftlichen Vorstellungskraft geprägt. Wir verwenden dieselbe Methode, um zu zeigen, dass Technologie politisch ist und nicht von ihr getrennt werden kann. Auch schematische Darstellungen wie Gantt-Diagramme und Logikgatter sind Formen der Informationsorganisation, die eine politische Struktur in sich tragen.
„Calculating Empires“ nimmt Donna Haraways Provokation wörtlich, dass wir die „Informatik der Herrschaft“ kartographieren müssen. Die heutigen Technologien sind die neuesten Manifestationen einer langen Reihe von miteinander verflochtenen Wissens- und Kontrollsystemen. Das ist der Zweck unserer visuellen Genealogie: das komplexe Zusammenspiel von Macht-, Informations- und Umweltsystemen über Raum und Zeit hinweg aufzuzeigen, um sich vorzustellen, wie die Dinge auch anders sein könnten.
Wie werden sich eurer Meinung nach zukünftige technologische Entwicklungen von den Mustern unterscheiden, die ihr in „Calculating Empires” aufgezeigt habt?
Kate Crawford: Der Aufbau globaler Infrastrukturen erfordert einen enormen Aufwand an Zeit und Kapital. Wir sind daran interessiert, diese sich langsam entwickelnden Strukturen zu verfolgen. Um es mit den Worten des französischen Historikers Fernand Braudel zu sagen: „Um die Welt zu verstehen, muss man die Hierarchie der Kräfte, Strömungen und Einzelbewegungen bestimmen und sie dann zu einer Gesamtkonstellation zusammenfügen. Dabei muss man zwischen langfristigen Bewegungen und kurzfristigen Zwängen unterscheiden und die unmittelbaren Ursachen der letzteren und die langfristigen Triebkräfte der ersteren aufdecken“. In „Calculating Empires“ beschreiben wir, wo wir die langfristigen Bewegungen und die aktuellen Belastungen sehen – und ordnen sie in eine große Konstellation ein, damit die Menschen ihre eigenen Vorhersagen treffen und – hoffentlich – eingreifen können!
Weitere Informationen zu S+T+ARTS findest du hier.
Kate Crawford
Prof. Kate Crawford (USA) ist eine führende Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Auswirkungen der künstlichen Intelligenz. Sie ist Professorin an der USC in Los Angeles, Forschungsdirektorin bei MSR New York und Inhaberin des ersten Lehrstuhls für KI und Justiz an der École Normale Supérieure. Ihr Buch Atlas of AI wurde mehrfach ausgezeichnet, von Science und der Financial Times zum Buch des Jahres gewählt und in 12 Sprachen übersetzt. Sie leitet das Projekt „Knowing Machines”, eine internationale Forschungskooperation zu den Grundlagen der Künstlichen Intelligenz. Ihre Kunstwerke wurden von Museen wie dem MoMA und dem V&A erworben und mit dem Aryton Award ausgezeichnet. Kate wurde vom TIME Magazine in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt (TIME100) als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten im Bereich der künstlichen Intelligenz aufgenommen.
Vladan Joler
Prof. Dr. Vladan Joler (RS) ist Wissenschaftler, Forscher und Künstler, der sich mit Datenanalyse, kritischer Kartographie, investigativem Journalismus und Datenvisualisierung beschäftigt. Er ist Mitbegründer der SHARE Foundation und Professor am Institut für Neue Medien der Universität Novi Sad. Vladan Jolers Arbeiten sind Teil der ständigen Sammlungen des Museum of Modern Art (MoMA), des V&A Museum und des Design Museum in London sowie der Dauerausstellung des Ars Electronica Center. Seine Werke wurden weltweit in über hundert internationalen Ausstellungen gezeigt.