Wie sieht nachhaltige Zukunft in einer Großstadt aus? Das Wild Future Lab in Nairobi zeigt mit tragbaren, innovativen Artefakten aus lokalen Materialien neue Wege für eine renaturierte Stadt.
„Schaut euch um. Ihr lebt im Autopilot-Modus. Das tun wir alle. Wir verpassen so viele Chancen, weil wir glauben, dass großartige Ideen woanders entstehen, vielleicht sogar auf einem anderen Planeten.“
Der S+T+ARTS Prize Africa, eine Initiative der Europäischen Kommission, zeichnet wegweisende Projekte aus, die in Afrika durch die Verbindung von Wissenschaft, Technologie und Kunst sozialen Wandel anstoßen. Im Zentrum stehen interdisziplinäre Ansätze, die digitale Innovation mit konkreten Lösungen für ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen verknüpfen. Der Preis würdigt Initiativen, die eine vielfältige, inklusive und nachhaltige Zukunft auf dem Kontinent mitgestalten.
Das Wild Future Lab entwirft Visionen für ein renaturiertes Nairobi und greift dabei auf lokale Materialien und Technologien zurück. In Zusammenarbeit mit Künstler*innen, Designer*innen, Wissenschaftler*innen und Technolog*innen hat die Organisation für Kunst- und Zukunftsforschung Kairos Futura tragbare Artefakte entwickelt – darunter wasserreinigende Rucksäcke, Sonnenbrillen mit integrierter Verschmutzungsanzeige und solarbetriebene Jacken. Diese Objekte fungieren als Entwürfe für eine mögliche Zukunft, in der Kunst, Nachhaltigkeit und lokale Produktion untrennbar miteinander verbunden sind.

In eurem Projekt seht ihr eine Zukunft, die nicht auf globalen Technologien, sondern auf lokal verfügbaren Ressourcen und Fähigkeiten basiert. Wie seid ihr auf diesen radikal ortsbezogenen Ansatz gekommen?
Kairos Futura: Wir haben uns im Wild Future Lab aus zwei Gründen auf lokale Zukunftsperspektiven konzentriert. Einerseits haben Globalisierung und Industrialisierung zu einer Homogenisierung der Kultur geführt und in vielen Städten das Gefühl für den Ort sowie lokale materielle Innovationen zerstört. Kairos Futura begann in Lamu, einer Insel im Norden Kenias, die ihre kulturelle Identität und ihr lokales Handwerk bewahrt hat. In einer Zeit, in der Möbel, Kleidung und Designartikel massenproduziert werden, ist dies eine seltene und bemerkenswerte lokale Ästhetik. Als wir Kairos ins Leben riefen, war eine unserer wichtigsten Fragen: „Was macht Lamu so besonders?” Aus dieser Perspektive wurde die Gestaltung von Orten auf der Grundlage lokaler Materialien und indigener Designs zu einem zentralen Schwerpunkt unserer Projekte und Programme und prägte unsere Erkundungen für das Wild Future Lab.
Die zweite Motivation, sich lokal hergestellte und gebaute Lösungen vorzustellen, war, dass es oft einfacher ist, lokale Technologien zu entwickeln und Lösungen vor Ort zu finden, als globale, groß angelegte Projekte zu verfolgen. Unser Ziel ist es, eine 23-jährige Person in einer ländlichen Gegend dazu zu befähigen, ein Problem, das sie selbst lösen möchte, anzugehen.
„Indem wir lokale Materialien, indigene Lösungsansätze und leicht modifizierbare Technologien hervorheben, auf die viele Menschen bereits über ihr Smartphone Zugriff haben, möchten wir dazu inspirieren, Möglichkeiten statt Hindernisse zu sehen und die Zukunft selbst zu gestalten.“
Das Wild Future Lab betrachtet die Zukunft nicht als Science-Fiction, sondern als etwas Praktisches und Greifbares. Wie beeinflusst dieser pragmatische Ansatz eure Designentscheidungen?
Kairos Futura: Wir beginnen immer mit Fantasien und verrückten Ideen. Was wäre, wenn …? Könnte das möglich sein? Doch diesen Ideen steht eine harte Realität gegenüber – denn in Kenia leben nach wie vor Millionen Menschen unter prekären wirtschaftlichen Bedingungen. Wir sehen viele Designprojekte, die schöne Renderings oder Modelle im Maßstab 1:8 erstellen, dann aber zum nächsten Projekt übergehen, ohne zu versuchen, etwas für die reale Welt zu entwerfen. Das würde für uns nichts Sinnvolles für die Gemeinden bringen, mit denen wir arbeiten. Die eigentliche Arbeit beginnt, wenn eine Idee das Studio oder Labor verlässt und in die Praxis umgesetzt werden muss. Wir nennen das den „Realitätstest“.

Was die Designentscheidungen angeht, haben wir Spaß an der Fantasie, nehmen uns aber viel Zeit für die Umsetzung unserer Projekte in der Praxis. In unseren Workshops und im Team vermitteln wir, dass es ganz normal ist, auf Schwierigkeiten zu stoßen und auch Frustration zu erleben, wenn man Ideen in der Realität testet. Doch wenn wir echte Veränderung erreichen wollen, ist Durchhaltevermögen eine unverzichtbare Voraussetzung für jedes wirklich sinnvolle Projekt.
Ihr kombiniert traditionelle Techniken wie die Handweberei mit digitalen Werkzeugen wie dem 3D-Druck oder CNC-Maschinen. Wie verändert diese Kombination aus Alt und Neu eure Sicht auf Materialität und Innovation?
Kairos Futura: Bei der lokalen Stadtgestaltung kommt es nicht primär auf die eingesetzte Technologie an. Im Mittelpunkt steht vielmehr die ökologische Gestaltung des Umfelds – der Landschaft, der Menschen sowie der spezifischen Chancen und Herausforderungen einer Region. In Nairobi zum Beispiel gibt es Phasen mit starkem Regen ebenso wie extreme Trockenzeiten. Wenn ein Lehmhaus mit Strohdach die nachhaltigste und zugleich komfortabelste lokal hergestellte Wohnform ist, dann sollten unserer Ansicht nach genau solche Häuser gebaut werden – Häuser, die sich harmonisch in die Landschaft einfügen. Könnte ein solches Haus von einem CNC-gefrästen Wasserauffangsystem profitieren? Könnte das Wasser unterirdisch gespeichert und mit einer Solarpumpe aus 3D-gedruckten Open-Source-Bauteilen gefördert werden?
Wenn ein Teil einer 3D-gedruckten Solarpumpe kaputtgeht, muss man weder auf ein Ersatzteil aus China warten noch einen Spezialtechniker rufen. Noch vor Kurzem stellte der Ausfall von Technologien mit importierten Komponenten ein ernstes Problem dar – Reparaturen waren oft nicht möglich. Doch das ändert sich derzeit rasant: Baupläne sind online verfügbar, und Ersatzteile lassen sich direkt vor Ort in Kenia herstellen. Geht ein Bauteil kaputt, weiß man heute genau, wo man es nachdrucken oder zuschneiden lassen kann.
„In ganz Afrika findet eine bemerkenswerte Revolution lokal produzierter Technologien statt. Diese Entwicklung steht nicht im Widerspruch zum traditionellen Handwerk – sie ist vielmehr eine zeitgemäße Erweiterung davon.“
Ob technologisch oder handwerklich gefertigt: Alle lokal produzierten Produkte haben denselben Vorteil. Sie stärken eine lokale Wirtschaft, die mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut ist, und sie lassen sich leicht reparieren – denn ihre Hersteller sind Teil der Gemeinschaft.
Welche Erkenntnisse zu nachhaltigen Produktionsmethoden und Lebensweisen kann eine Stadt wie Nairobi – mit ihren spezifischen Ressourcen und Herausforderungen – anderen städtischen Gebieten vermitteln?
Kairos Futura: Nairobi verfügt über ein beeindruckendes Netzwerk aufstrebender Hersteller*innen und Designer*innen. Sie arbeiten laufend an neuen Ideen und erhalten schneller Rückmeldungen aus der Praxis, als es sich viele Menschen in Europa oder den USA überhaupt vorstellen können. So gelingt es uns, innerhalb von vier Wochen von der ersten Skizze bis zum Verkauf eines Produkts auf der Straße zu kommen. Möglich ist das aus einem ganz besonderen Grund: Anders als in vielen Teilen Europas und Nordamerikas hat die Massenindustrialisierung hier nicht alle lokalen Handwerksberufe verdrängt. Es gibt nach wie vor Tausende erfahrene Handwerker*innen. In Nairobi leben Hunderte Schuhmacher*innen, Tausende Metallarbeiter*innen, Korbflechter*innen, Teppichknüpfer*innen, Tischler*innen und Möbelbauer*innen – Menschen mit praktischen Fähigkeiten, die in vielen Teilen der Welt selten geworden sind. Wenn wir eine wirklich nachhaltige, lokal gestaltete Zukunft aufbauen wollen, müssen wir genau diese Arbeitsformen wieder stärken. Massenproduzierte Gegenstände sind ein Relikt der Produktionslogik des 20. Jahrhunderts – ein ökologischer Albtraum, der den Planeten weiter belastet und den Rohstoffabbau antreibt, solange wir unser Verhältnis zum Handwerk nicht grundlegend überdenken.

Diese Handwerkskultur hat auch hier innovatives Upcycling möglich gemacht. In Kenia sind industrielles und lokales Upcycling längst die Norm. Anders als in großen Teilen Europas und der USA ist Upcycling dort keine Nischenbewegung für Handwerksbegeisterte. Es gibt ganze Industriezweige mit Millionen Beschäftigten, die sich auf Upcycling spezialisieren – etwa in den Bereichen Paletten, Elektronik und Secondhand-Kleidung. Diese Gegenstände werden nicht eingeschmolzen oder zu Zellstoff verarbeitet, sondern in ihrer bestehenden Form wiederverwendet und in neue Objekte integriert. Ein großer Teil der Möbel in Nairobi wird zum Beispiel aus Palettenholz gefertigt. Viele Handys werden aus Teilen zusammengesetzt, die aus dem Müll geborgen wurden. Fast jeder in Nairobi trägt mehr Secondhand- als Neuwaren.
„Wenn der Rest der Welt so konsumieren würde wie die meisten Menschen in Nairobi, wäre der CO₂-Fußabdruck deutlich geringer.“
Eure tragbaren Artefakte sind mehr als nur Kleidung – sie sind Visionen eines alternativen Alltags. Welche Botschaft sollen die Menschen mitnehmen, wenn sie diese Designs sehen oder tragen?
Kairos Futura: Schaut euch um! Ihr lebt im Autopilot-Modus. Das tun wir alle. Wir verpassen so viele Chancen, weil wir glauben, dass großartige Ideen nur woanders entstehen können, vielleicht sogar auf einem anderen Planeten. Wir haben Kairos Futura unter anderem gegründet, weil wir diese Weltraumfantasien beunruhigend fanden. Uns wurde die Idee verkauft, dass wir alle in ein Raumschiff steigen und in einer Weltraumkolonie auf dem Mars leben werden, wo Elon Musk die Wasser- und Luftversorgung kontrolliert. Wenn du dich jedoch auf lokale Zukunftsvisionen konzentrierst, kannst du deine Fantasien in die Realität umsetzen und deine Herausforderungen mit den Ressourcen bewältigen, die dir bereits zur Verfügung stehen, anstatt sich auf das zu verlassen, was du dir wünscht.
Das Wild Future Lab Projekt wird im Rahmen des Ars Electronica Festivals in Linz vom 3. bis 7. September 2025 präsentiert. Aktuelle Informationen zum Projekt sowie zu weiteren Programmhöhepunkten findest du auf der Festival-Website.

Kairos Futura
Kairos Futura ist eine 2021 gegründete Organisation für Kunst und Zukunftsforschung mit Sitz in Kenia. Sie bringt Künstler*innen, Designer*innen, Wissenschaftler*innen und Community-Organisator*innen zusammen, um Kunst als Motor für gesellschaftlichen Wandel zu nutzen. Mit Ausstellungen, Workshops und Installationen fördert Kairos Futura kreativen Dialog zu lokalen Herausforderungen und inspiriert gemeinschaftsorientierte Zukunftsvisionen. Zu den Projekten zählen u.a. Lamu Space Station, Nairobi Space Station, Hakuna Utopia? und das Wild Future Lab. Die Organisation vergibt Stipendien, veranstaltet offene Ausschreibungen und nutzt Storytelling sowie lokale Gestaltung als Werkzeuge für Veränderung. Ihre Arbeit wurde u.a. in der BBC, Forbes, CNN und der New York Times vorgestellt.