In „Run Motherfucker Run“ wird der Körper zum Controller: Wer läuft, erlebt virtuelle Immersion – wer stoppt, stürzt. Eine eindringliche Kritik am passiven Konsum digitaler Welten.
Seit 1979 leistet Ars Electronica Pionierarbeit – sie baut Brücken zwischen Disziplinen, dient als Plattform für neue Allianzen und setzt Impulse für einen offenen, inklusiven Dialog über unsere Zukunft. In Zusammenarbeit mit Künstler*innen aus aller Welt realisieren und präsentieren wir Projekte, die Konventionen infrage stellen und Entwicklungen vorwegnehmen.
Für diese Serie bitten wir Mitglieder des Ars Electronica Teams, in unser Archiv – das weltgrößte seiner Art – einzutauchen und ein Projekt auszuwählen, das sie persönlich berührt, inspiriert oder zum Nachdenken angeregt hat und uns zu erzählen, warum dieses Projekt heute relevant ist. Gemeinsam begeben wir uns auf eine Reise zu Meilensteinen der sogenannten digitalen Revolution. Meilensteine, die „Cutting Edge“ waren.
In dieser Ausgabe gibt uns Vanessa Hannesschläger, Leiterin der Abteilung für europäische Zusammenarbeit, einen Einblick in ein Projekt, das körperliche Anstrengung mit digitaler Immersion verbindet: „Run Motherfucker Run“ von Marnix de Nijs fordert das Publikum auf einem Hochgeschwindigkeitslaufband heraus, die Kontrolle über eine virtuelle Welt zu erlangen – oder sie zu verlieren.
Welches Projekt hast du ausgesucht?
Vanessa Hannesschläger: Das Ars Electronica Archiv ist gefüllt mit visionären Projekten, bahnbrechenden Ideen und Momenten voller Kreativität. Wo fängt man da an? Welche Arbeit sticht aus der Menge hervor? Für mich war die Entscheidung überraschend einfach. Kaum hatte ich die Einladung erhalten, ein Projekt für diese Serie auszuwählen, schoss mir sofort eines durch den Kopf: “Run Motherfucker Run” von Marnix de Nijs, das 2005 in der Kategorie “Interactive Art” mit einer Honorary Mention beim Prix Ars Electronica ausgezeichnet wurde.
Erzähl uns, worum es in diesem Projekt geht.
Vanessa Hannesschläger: Stellen wir uns vor: Es ist spät in der Nacht. Wir verlassen einen überfüllten Club, die Ohren klingeln noch vom Bass, die Straße liegt dunkel vor uns – und plötzlich laufen wir. Wohin? Warum? Keine Zeit für Fragen, nur Bewegung zählt.
Genau dieses Gefühl greift “Run Motherfucker Run” auf und macht es zum Programm. In dieser interaktiven Installation wird der Körper zum Controller: Die Besucher*innen rennen auf einem Laufband, direkt hinein in eine düstere, virtuelle Welt. Wer schneller läuft, kommt zügiger voran. Wer nachlässt, sieht das Bild verschwimmen, als würde die Realität selbst entgleiten. Doch wohin führt dieser Lauf? Den Pfad durch enge Gassen und dunkle Straßenzüge wählt jede*r selbst. Nur eines ist sicher: Wer zu früh die Kraft verliert, landet unsanft, aber immerhin gepolstert, auf der Matratze hinter dem Laufband. Während eine Person läuft, schauen andere zu. Wie bei einem Bühnenstück mit wechselnder Hauptrolle. Manche feuern an, andere lachen, wieder andere halten den Atem an.

Warum war dieses Projekt aus deiner Sicht herausragend?
Vanessa Hannesschläger: Was mich an “Run Motherfucker Run” besonders fasziniert ist, dass es mit damals schon recht einfachen technologischen Mitteln eine Erfahrung schafft, die heute noch nachwirkt. Die Besucher*innen laufen nicht einfach auf ein projiziertes Bild zu. Sie werden Schritt für Schritt hineingezogen. Je schneller die Projektion rast, desto stärker das Gefühl, in diese düstere, digitale Welt hineinzufallen. Ein Sog entsteht. Und wer nicht mithält, fliegt raus.
Die Arbeit fühlt sich an wie ein Ganzkörper-Doomscrolling. Statt mit dem Daumen durch endlose Feeds zu wischen, läuft der ganze Körper durch eine virtuelle Endlosschleife. Und am Ende? Der unvermeidliche Zusammenbruch. Im Alltag mental, in der Installation ganz real.
Marnix de Nijs gelingt hier, was viele versuchen, aber nur wenige wirklich schaffen: Er verknüpft körperliche Präsenz mit digitaler Immersion und stellt damit die gängige Logik kommerzieller Virtual-Reality-Erfahrungen auf den Kopf. Während uns die virtuelle Welt im Alltag oft vergessen lässt, dass wir überhaupt noch Körper haben, erinnert uns “Run Motherfucker Run” brutal direkt daran: Da ist ein Mensch, der schwitzt, stolpert, rennt. Der Avatar ist nie allein.
Gerade diese bewusste Überzeichnung macht die Arbeit so stark. De Nijs braucht keine Headsets, keine Haptikanzüge, keine Tech-Gadgets. Er kombiniert vorhandene Maschinen auf so kluge Weise, dass eine völlig neue Perspektive entsteht – eine, die uns innehalten lässt. Um dann wieder loszulaufen. Ich mag diesen Ansatz: die Einfachheit, die körperliche Wucht, die Ästhetik – und nicht zuletzt den wunderbar frechen Titel.

Warum ist dieses Projekt heute relevant?
Vanessa Hannesschläger: Virtual Reality wurde schon mehrfach erfunden, bejubelt, totgesagt und wiederbelebt. Heute sind virtuelle Welten längst kein Zukunftsversprechen mehr, sondern Teil unseres Alltags. Nicht nur in Form von Headsets oder immersiven Spielen, sondern subtiler, allgegenwärtiger: als endlose Reels, als algorithmisch kuratierte Bildwelten, die wir regungslos konsumieren.
Doch was passiert dabei mit uns? Wir starren, wischen, scrollen und vergessen dabei oft das Naheliegendste: Dass der Mensch ein Körper ist. Dass Denken, Fühlen, Wahrnehmen nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern durch Bewegung, durch Empfindung, durch physische Präsenz entstehen. Ohne Auge kein Sehen, ohne Ohr kein Hören und ohne Körper kein Bewusstsein.
“Run Motherfucker Run” ruft uns diese conditio humana mit voller Wucht in Erinnerung. Es zwingt uns, wieder in Bewegung zu kommen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und genau deshalb ist diese Arbeit heute relevanter denn je. In einer Zeit, in der sich unser Alltag zunehmend in digitale Räume verlagert, setzt sie dem passiven Konsum eine aktive Erfahrung entgegen. Doch das Projekt geht noch weiter. Es zeigt nicht nur, wie verkörpert unser Verhältnis zur virtuellen Welt eigentlich ist, es stellt die Besucher*innen auch zur Schau. Wer läuft, wird gesehen. Wer scheitert, wird beobachtet. Die Teilnehmenden werden selbst zum Avatar, zur performativen Figur im digitalen Theaterraum.
Vanessa Hannesschläger – vielen Dank!

Vanessa Hannesschläger
Vanessa Hannesschläger ist Leiterin der Europäischen Kooperation des Ars Electronica Festival in Linz, Österreich. Sie promovierte in Literaturwissenschaft an der Universität Wien, wo sie Digital Humanities lehrt. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf neuen Erzählweisen und Formen im Theater, ein Thema, das sie in ihrer Arbeit bei Ars Electronica in Projekten rund um digitales Theater und neue Ansätze für XR untersucht. In „Realities in Transition“ arbeitet sie an der Vermittlung und Verbreitung von künstlerischen Ansätzen für XR. Im europäischen politischen Kontext setzt sich Vanessa für eine digitale Infrastruktur für Kunst und Geisteswissenschaften, Datenkompetenz und Open Science ein.