Dem Aufeinandertreffen von menschlicher Kreativität und technischer Perfektion verschreibt sich das erste „AI x Music Festival“, das Ars Electronica und die Europäische Kommission als Teil der STARTS-Initiative ausrichten. Von 6. bis 8. September 2019 versammelt Ars Electronica dafür MusikerInnen, KomponistInnen, KulturhistorikerInnen, TechnologInnen, WissenschaftlerInnen und AI-EntwicklerInnen aus aller Welt in Linz und widmet sich mit Konzerten und Performances, Konferenzen, Workshops und Ausstellungen der Interaktion von Menschen und Maschinen.
Automatisierte Datenerfassung und -verarbeitung unter Einsatz maschinellen Lernens ist dabei, gesellschaftliche Kommunikationsformen und -kanäle nachhaltig umzugestalten. Der umfassende Einsatz dieser neuen Technologien führt zu tektonischen Veränderungen im Gefüge menschlicher Gemeinschaften, die zum Teil schon weit fortgeschritten sind.
Wenn es auch vielleicht nicht ganz offensichtlich scheinen mag, ist Musik und im Konkreten musikalische Komposition ein sehr geeigneter Ort um sich mit genau diesen Verschiebungen zu beschäftigen und diese zu reflektieren. Musik als Kommunikationsform, als ursprünglichste Form von social media beeinflusst die menschlichen Gemeinschaften, in der sie sich ereignet, in vielfacher Weise und sie tut dies zumeist und für die allermeisten unthematisch, d.h. ohne in ihrem Wirken bewusst reflektiert zu werden. Gerade die Tatsache, dass Musik selten Thema wird und den HörerInnen somit wortlos, unbegriffen ans Herz gehen kann macht sie umso wirkmächtiger. Musik erzeugt virtuelle bzw. hybride Welten in Mitten derer wir selbst stehen. Sie hält sich im Gegensatz zu visuellen Medien nicht an Begrenzungen durch Membranen und dringt physisch in uns ein; sie synchronisiert und ordnet, beeinflusst und motiviert.
Die musikalischen Avantgarden im Nachkriegseuropa setzten sich intensiv in Theorie und Praxis mit diesen Aspekten von Musik vor dem Hintergrund ihrer damals noch relativ neuen Rolle in den Massenmedien auseinander. Insofern bildet diese Tradition einen reichen Hintergrund zur Befragung neuer AI-basierter Kommunikationstechnologien. Denn neue technische Möglichkeiten können nicht einfach als neutrale Erweiterungen des bisherigen Werkzeugkastens betrachtet werden. Jedes Werkzeug verändert stets die Welt derer, die es benutzen. Denn mit den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten mit unserer Umwelt zu interagieren ändert sich unsere Wahrnehmung von Welt, zumal wir diese ja als unseren Möglichkeitsraum begreifen.
Avantgarden – die wirtschaftlich-technische Vorhut und die Traditionen künstlerischer Avantgarden
Die kompositorischen Avantgarden im Bereich der elektronischen wie auch Computer-Musik agierten bis vor Kurzem noch in engem Kontakt und stetigem Austausch mit jenen aus der Technik. So waren KomponistInnen von Anfang an tief in die Entwicklung von elektronischen Musikinstrumenten und Computermusik-Programmen involviert.
Mittlerweile scheinen die Welten getrennt. Der Bereich, aus dem die meisten der Forschungsansätze im Bereich KI und Musik kommen, Music Information Retrieval (MIR) erscheint viel eher als ein Projekt der Computerwissenschaften, als Spezialfall des Information Retrieval denn als künstlerisch motivierte Suche nach neuen kompositorischen Möglichkeiten.
Dies liegt sicherlich auch daran, dass das Konzept einer künstlerischen Vorhut heute leicht anachronistisch wirkt. Generell scheint das Zeitalter künstlerischer Heilsversprechen beendet und Rollenangebote im Fach des/der futuristischen PredigerIn werden dieser Tage vornehmlich an ProponentInnen des Datenkapitalismus vergeben. Insofern sind die Technik-ProphetInnen der Gegenwart die eigentlichen NachfolgerInnen der Futuristen.
Dass die Manifeste[1] der künstlerischen Avantgarden des 20.Jahrhundert ebenso voll sind von ‚disruptiver‘ Rhetorik wie heutige TED talks und Produktpräsentationen ist eine der Parallelen zwischen Technik-Predigt und Avantgarde-Manifest. Während künstlerische Avantgarden sich durchaus als ‚disruptiv‘ sahen, unterscheiden sie sich doch fundamental von jenen der Datenwirtschaft; denn als ‚optimierend‘ entlang definierter Abläufe sahen sie sich nie. Als Beispiele für Disruption ohne intendierte Optimierung seien hier Tristan Tzara ‚Manifest Dada 1918‘[2], Mladen Stilinovic‘s ‚In praise of laziness‘[3], H.C. Artmann‘s ‚ Der poetische Akt‘[4] oder Pauline Oliveros‘ ‚The Poetics of Environmental Sound‘[5] erwähnt.
Musik & Mathematik, Struktur & Ordnung
Die europäische Musik-Geschichte und Theorie ist seit ihren Anfängen von einer Nähe zu Mathematik geprägt. Zahlenmystische Anklänge, strenge Sätze, Hoffnung auf Offenbarung transzendentaler Ordnungsstrukturen in Musik ziehen sich durch zahlreiche Lehrbücher zu Kompositionstechniken. Aus gegebenem Anlass sei (obzwar alles andere als ein Lehrbuch der Musik) auf Johannes Keplers im Jahr 1619 in Linz erschienene Harmonices Mundi[6] hingewiesen.
Es gibt aber kaum wirklich durchgehend formalisierte Kompositionspraxis. Selbst die viel zitierten seriellen Werke des 20. Jahrhunderts sind ihrer Zahl nach wenige und zumeist unterscheiden sich die in ihnen angewandten formalen Methoden von Werk zu Werk stark. Von einer einzelnen, etablierten Methode serieller Komposition kann nicht die Rede sein.
Trotzdem lassen sich anhand serieller Ansätze gut einige jener Aspekte ausmachen, die die aktuellen, aus der AI Forschung kommenden Projekte von traditionellen Ansätzen im Bereich formalisierter, bzw. automatisch generierter (generativer) Musik unterscheiden. Ganz allgemein gesprochen ist ein Übergang von regel- zu datenbasierten Ansätzen zu beobachten. Im Serialismus wurde (ansatzweise zumindest) mit Hilfe eines definierten Regelwerks ein möglichst strenges Verhältnis der einzelnen Tonhöhen und -dauern zur und somit auch eine Begründung in der Struktur des kompositorischen Ganzen angestrebt. In den in Big Data gründenden Ansätzen ist die Struktur des generierten Signals Ergebnis einer Analyse von Datenbanken mit Hilfe derer Korrelationen zwischen den einzelnen Datensätzen, zum Beispiel eben Kompositionen abgeleitet werden.
Für Big Data-informierte Ansätze der automatischen Generation, Interpretation und Sortierung von Musik stehen also nicht explizite Regeln aus Tonsatz, Harmonie- oder Interpretationslehre, sondern Daten musikalischer Praxis ins Zentrum. Diese Praxis menschlichen Musizierens ist dabei sehr weit gefasst zu denken. Ihre Daten-Spuren reichen von Partituren und Ton-Aufnahmen von Musikstücken über Daten zur Rezeption dieser Aufnahmen zu allen erdenklichen Daten, die von ihren Sammlern damit in Zusammenhang gebracht werden können (Positionsdaten, Surfverhalten, Statusmeldungen, Gesundheitsdaten, etc.). Musik hat sich schon bisher nie auf einen als musikalisch definierten Bereich (die Partitur, reine Zahlenverhältnisse oder Gesang) beschränkt, sondern war stets eingebettet in das soziale und politische Ganze menschlichen Daseins. Gerade im Umfeld von Musik und AI ist es essentiell, diese Einbettung von Musizieren in die Vielfalt gesellschaftlicher und individueller Vollzüge im Auge zu behalten.
Musizieren? Komponieren? Maschinen?
Aus der Perspektive des Komponisten bzw. Komponistin stellen sich sehr konkrete Fragen an die konzeptuellen Grundlagen und den Kunst-Begriff so mancher AI-gestützter Musik-Projekte der globalen Datenwirtschaft. Jedoch rückt der (noch in der Zukunft liegende, aber nicht mehr gänzlich fiktive) Auftritt maschinen-basierter, autonomer Musiker in Komposition, Improvisation und Interpretation alte Fragen in neues Licht und fordert so dazu auf, implizit Angenommenes neu zu überdenken. Denn die Frage, ob ein Roboter, d.h. eine Software musizieren oder komponieren kann, stellt auch die Frage danach, was es denn überhaupt heißt zu musizieren und zu komponieren. Um einen Punkt gleich vorwegzunehmen: Aus Sicht der Kunst erschöpft sich Komposition sicherlich nicht in der Produktion neuer Musik-Stücke entlang etablierter und definierter Vorstellungen davon, was Musik ist und welche Rolle sie zu spielen hat.
Musizieren?
Ein Nachdenken über Musik ist in diesem Kontext weniger eines über Musikstücke, über Werke, sondern ein Nachdenken über Musizieren, denn letztendlich existiert Musik immer nur als menschliches Tun.
Ganz am Anfang war Musizieren wohl ein Mitsingen in einer Gruppe von Menschen, die sich alle zur selben Zeit am selben Ort befanden und sich singend zueinander ordneten. Musizieren (und somit auch Komponieren) heißt Gemeinschaften zu formen und komplexe, hochdynamische gesellschaftliche Strukturen menschlicher Interaktion zu gestalten. Mit der Ausdifferenzierung der musikalischen Medientechniken weit über das menschliche Singen hinaus, von der Knochenflöte und Trommel über die mechanischen Musikinstrumente hin zu Lautsprecher- und Netzwerk-basierten digitalen Musizierformen der Gegenwart hat sich ein Reichtum an Möglichkeiten ergeben, an (relativ frei wählbaren) musizierenden Gemeinschaften teilzunehmen. Mittels Kopfhörer und Netzwerk ist es möglich, sich jederzeit einen Soundtrack freier Wahl zu zuspielen.
Musik hat heute eine große Breite an Rollen in ihrem Angebot, die sie nach Maßgabe und Bedürfnissen der rezeptiv Musizierenden spielen kann. Die allerwenigsten davon sind in der Nähe von Kunstmusik oder Mathematik angesiedelt. Musik wird zur Erholung oder Ablenkung gehört, sie ist tragbare Heimat und findet – neben unzähligen anderen Einsatzgebieten – als Selbst-Medikamentation und Horizontenkitt Verwendung. So wirkt entsprechende Musik übers Wochenende Wunder in den Clubs der großen und kleinen Städte des Landes um die jungen Bank- und Industrieangestellten für die Herausforderungen der kommenden Woche der Leistungsbereitschaft aufzurichten. Und genau hier lassen sich die Möglichkeiten und Versprechungen von automatischer Generation von musikalischen Signalen und optimierter Zuspielung an die Kundschaft am leichtesten erahnen. Alle mit Musik korrelierenden oder korrelierbaren, erfassten Daten der BenutzerInnen können dabei einbezogen werden, von bewusst gewählten Playlists und Konzertbesuchen, gelesenen Büchern, Bewegungsmustern sowie begleitenden Konsumgewohnheiten.
Komponieren?
Die Frage danach, was es denn heißt zu komponieren, bzw. Kunst zu schaffen, lässt sich zunächst relativ einfach beantworten, indem man als Antwort auf sie ‚die Herstellung von Musikstücken.‘ als ausreichend setzt. Dies heißt aber gleichzeitig, die offensichtliche Unmöglichkeit, auf diese Frage eine letztgültige, umfassende Antwort zu finden, zu ignorieren. Denn alle konzeptuellen Schwierigkeiten in der Frage nach ‚Komposition‘ werden dabei einfach in ‚Musikstücke‘ verpackt und aus dem definierten Problemfeld verschoben. ‚Musikstücke‘ lassen sich für den im Fokus stehenden Bereich der AI basierten Musik-Entwicklung aus rein pragmatischer Sicht durchaus auch als solche Signale definieren, die von Menschen als Musik gebraucht werden. Für die Entwicklung von Algorithmen zur automatischen Generation von Musik entlang etablierter Muster ist eine solche rein pragmatische Definition ausreichend. Aus künstlerischer Sicht bleibt dieser Zugang natürlich problematisch, zumal wirklich Interessantes zumeist dort passiert, wo Mehrheitsfähigkeit in alltäglicher musikalischer Praxis gerade eben nicht gegeben ist.
Schon die Frage nach der Definition, bzw. Eingrenzung des zu automatisierenden Vorganges (künstlerisches Schaffen) wirft also fundamentale Probleme auf. Die Frage danach, was künstlerisches Tun denn sei, ist eine ganz andere Frage als jene danach, wie man Dinge, bzw. Signale, die dem etablierten Verständnis davon entsprechen, was Kunstwerke sind, automatisiert herstellen kann. Kunst ist nicht Produktentwicklung innerhalb gesetzter Grenzen, sondern Reflexion, Politik & Aktion am freien Feld.
Maschinen?
Dereinst (und auch heute manchmal noch) bedeutete Musizieren ein Zusammenkommen an einem Ort zu gemeinsamem Tun. Auch wenn jemand alleine sang oder spielte, war der produzierte Klang direktes Abbild von körperlichen Akten und nur für diejenigen hörbar, die sich in Hörweite, d.h. in unmittelbarer Nähe befanden. Notenschrift, die sowohl in Aufzeichnung wie auch Rezeption einiges an Wissen und Können verlangt, war das erste personen-unabhängige Medium zur Übertragung von Musik in Zeit und Raum. Übertragung und Aufzeichnung von Schall vergrößerte mit der Reichweite in Raum und Zeit auch die musizierenden Gemeinschaften um ein Vielfaches.
Menschliches Tun hinterlässt hörbare Spuren in Musik, denen medientechnisch Dauer verliehen werden kann und die so wiederholbar und transportabel werden. Die musizierende Gemeinde als solche ersteht natürlich nicht wieder auf, aber ein überzeugendes Klangabbild lässt sich von der Schallplatte bzw. der Klangdatei auslesen, wenn es auch immer eine Art Schattenwelt bleibt. In diesen Schattenwelten konnten MusikerInnen nun bald mit Hilfe von Synthese Klangspuren hinterlassen, die keine körperliche oder mechanische Aktivität je hervorbringen hätte können. Sampling erlaubte dann die Überlagerung und den Zusammenbau mehrerer musikalischer Schattenwelten zu neuen Klangwelten. So betrachtet ist ein automatisch generiertes Musikstück nicht nur ein neues Klangobjekt, eine neue Abfolge von bestimmten Tonhöhen in der Zeit, sondern die Emulation von Spuren gemeinschaftlicher menschlicher Aktivität, die so nie stattgefunden hat. Eine Thematik, die im Hinblick auf social media mit ihren fake news, bots und nudging techniques schon breite Aufmerksamkeit und noch breitere Anwendung findet.
Hybride Gemeinschaften, Substitute, Asymmetrien
In Musik vollzieht sich also das, was sich auch in anderen Formen menschlicher Kommunikation ablesen lässt, ein Übergang von on site, über in print und on air und on line communities zu hybride und substitute communities. Diese neuen Möglichkeiten in der Gestaltung der musizierenden Gemeinschaft ergeben gänzlich neue Formen des Musizierens, die – wie die technischen Entwicklungen selbst – zumeist eingebettet in die Vollzüge des Datenkapitalismus gedacht werden müssen. Als Ideal erscheint die mit Hilfe von AI optimierte Musik-Zuspielung, die sich ganz an den individuellen Konsum-Bedürfnissen des Kunden, der Kundin ausrichtet. Unter Einbeziehung bisheriger Hör- und Seh- und Konsumgewohnheiten können physiologische Daten (Herz- & Atemfrequenz, sexuelle Aktivitäten, Menstruationszyklen, etc.) und Informationen zur allgemeinen sozialen und psychologischen Situation herangezogen werden um so die ideal passende musikalische Zuspielung auszuwählen, entsprechend zu verändern oder eben gar neu zu generieren. Anhand von dynamischer Rückkopplung mit millionenfachem User-Verhalten (wird lauter oder gar leiser gedreht, synchronisiert sich Körperbewegung oder Herzfrequenz zur Zuspielung?) kann die Technik der Zuspielung weiter optimiert werden ohne auf bewusste verbale Rückmeldungen der HörerInnen angewiesen zu sein. Symbolische Ebenen entstehen so im Schatten und aus Beobachtung von unbedachter Praxis.
Musik als Kunstform, die Gemeinschaft formt, ist immer ein hierarchisches Gebilde mit eigentümlichen zwischenmenschlichen Beziehungen. HörerInnen lassen sich, ob tanzend oder nicht, aufeinander und den gemeinsamen Rhythmus ein und können so einen Kontrollverlust ans, wie auch ein Eins-Werden mit dem Ganzen zelebrieren. Medientechniken wie Notenschrift, Verstärkung (engl.: Amplifikation) und Formen von Telepräsenz (von Radio bis Streaming) vergrößern die Reichweite von gemeinsamem Rhythmus und Harmonien. Automatisch von AI Technologien generierte Musik verspricht automatische, ‚individualisierte‘ Fernsteuerung von musizierenden Gemeinschaften von außen.
Musiziert wird stets in Ich-Perspektive. Musik entsteht in Teilhabe, ansonsten bleibt sie Schall, im schlechtesten Fall Lärm (wie der Bass von Nachbars Party). Musizieren (aktiv oder passiv) bedeutet Distanzlosigkeit, Beobachten und Datensammeln das Gegenteil davon. AI-basierte Vermessungstechniken sehen Musik immer nur aus Außenperspektive, wobei die Hörer- bzw. Kundschaft AI-basierter, automatischer Zuspielung in der Ich-Perspektive, in idealerweise distanzloser Teilhabe verweilen. Die Rezipienten erleben eine Teilhabe an einer Gemeinschaft, sind aber eigentlich von einer Zuspielung umgeben. Die Wirkungsarten, Motivationen und Funktionsweisen dieser Welt-Zuspiel- bzw. Substitutionsmaschine werden bewusst im Dunklen belassen. Eingebettet in den Überwachungskapitalismus und in die Finanzialisierung aller menschlicher Beziehungen kann Musik noch mehr denn je der neuen Herrschaft Loblieder singen, Machtverschiebungen nicht nur vertonen, sondern zu diesen beitragen sofern jene, die bespielt werden, sie als Ausdruck reinster Herzen, als Zeugnis freier, individueller künstlerischer Bedürfnisse empfinden. Musik hatte immer schon Aspekte von Fernmasturbation (jemand spielt auf der Bühne Gitarre und eine Gruppe von Menschen fühlt sich wohl), aber nun zeichnen sich ganz neue Möglichkeiten zynischer Musik am Horizont ab.
Mit der Vermessung allen Tuns kommt es zu einer fundamentalen Asymmetrie in der Sicht auf die Dinge. Die Kundschaft läuft alleine durch den Wald und muss mit der entsprechenden (Frosch-) Perspektive Vorlieb nehmen, während die Bewegungsmuster aller irgendwo in der Steuerzentrale, wo auch die Positionen der Bäume dynamisch angepasst und von ergreifenden Akkorden umspült werden, aufgezeichnet werden.. Die Asymmetrien in Informationsfluss und Gestaltungsmacht in den hybriden Welten der Digitalität sind auch im Kontext von AI und Musik zentrales Thema.
Problematisch ist also nicht der Substitutions-Charakter der Zuspielwelten an sich (in gewisser Weise waren Musik, Theater, Film das ja immer auch schon), sondern die damit einhergehenden Verschiebungen der Machtverhältnisse. Am Übergang in die totale Kundschaft stärkt industriell optimierte Musik-Zuspielung den Glauben an das unmittelbare, eigene und freie Erleben. Sie agiert so als Gleitmittel ökonomischer und politischer Verschiebungen. Denn Musik ist wirkmächtig und nicht ohne Grund findet sie sich traditionell nicht nur in Nähe von Ritus und Mathematik, sondern auch Rauschmitteln und Geschlechtsverkehr. Die Frage danach, ob eine KI ‚musiziert‘ ist der Frage danach, ob ein Sex-Roboter Sex hat, durchaus ähnlich. Für den Menschen auf der jeweils gegenüberliegenden Seite mag das mit ‚Ja‘ zu beantworten sein, aber alles ist eher vielschichtig.
Die musikalische Totaloptimierung
AI Techniken mit ihren Datensammlungen können als eine Art Windkanal benutzt werden, in dem musikalische Vorhaben im Strom der Praxis der RezipientInnen getestet werden um so weiterentwickelt und optimiert werden zu können. Die Beobachtung der musizierenden Gemeinde in Echtzeit in ihrem Habitat, ermöglicht die Konstruktion eines ideal ergonomischen, musikalischen Signals, das sich dynamisch den Gegebenheiten anpasst; körper- und kulturgeformt am alltäglichen, unthematischen und deshalb umso aussagekräftigerem Lebensvollzug.[7] Solchermaßen optimierte Musik kann dynamisch auf die jeweilige Situation und Person hin individualisiert werden. Wobei die Methoden der Individualisierung nur jene Oberfläche betreffen, die der Kundschaft angezeigt oder vorgespielt wird. Der Algorithmus, die Maschine, die diese Teil-Individualisierung eines ihrer Millionen Ausspielwege automatisiert vornimmt, ist ein möglichst allgemeiner, universeller.
Diese musikalische Optimierung folgt den Geschäftsmodellen der Datenwirtschaft, oftmals mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit der KundInnen möglichst lange zu binden, denn Musik mit ihrer Wirkmacht über Menschen eignet sich wohl auch gut zur hintergründigen Beeinflussung von Konsumentscheidungen. Die intendierte Rolle dieser dynamisch generierten Musik scheint jene eines Soundtracks zur ebenfalls in Echtzeit generierten Parallelwelt aus der Zuspielung mit all ihren Asymmetrien zu sein. Je ‚individualisierter‘ die Zuspielung, desto weniger wird sie als Gleichschaltung empfunden und kann diese daher noch effizienter fördern. Denn die Chimäre des Individuellen besteht in dieser Hierarchiekette nur auf dem Zuspielweg zur Kundschaft. Diese Art der Individualisierung agiert so eigentlich als großer Gleichrichter und offenbart sich als Todfeind des individuellen Akts.
Diejenigen von uns, die in Musik auch eine Kunstform sehen, werden nicht umhinkommen, diese Form der Optimierung und Individualisierung kritisch zu sehen. Denn bevor optimiert werden kann, gilt es zu klären, was und woraufhin optimiert werden soll. Die Vermutung liegt nahe, dass Aktivitäten mit genau vor-definierten Zielen eher Dienstleistungen denn Kunstschaffen sind. Damit soll nicht behauptet werden, Kunst wäre etwas in sich Höheres, Wertvolleres oder Entrücktes, sondern eben einfach ganz etwas anderes. Kunst muss sich stets mit seinen Bedingungen auseinandersetzen und kann sich nicht damit begnügen, ein Pflichtenheft an Anforderungen umzusetzen.
Herausforderungen an die Avantgarde
All dies bedeutet keinesfalls, dass computergestützte Ansätze zur Algorithmisierung und Automatisierung kompositorischen Tuns aus künstlerischer Sicht prinzipiell uninteressant wären. Es geht vielmehr darum, sich als KomponistInnen mit diesen Möglichkeiten auf fundamentaler Ebene auseinander zu setzen und nicht sie bloß als magische Werkzeuge in alltägliches Tun wie bisher einzubinden. Wobei kein Match zwischen ‚wirklicher‘ Kunst und AI auszurufen ist. Es gilt vielmehr, sie füreinander fruchtbar zu machen, gerade dadurch, dass technisch-wirtschaftlichen Optimierungsstrategien künstlerische, somit politische Ziele gegenübergestellt werden. Kunst bedeutet immer auch Renitenz und selbstgewährte Unabhängigkeit von etablierten Rollenzuschreibungen und (musikalischen) Bräuchen.
Die kompositorische Forschungsarbeit musikalischer Avantgarden kann sich nicht auf die Erweiterung des Klangraums, bzw. des musikalischen Materials beschränken. Ihr Ziel muss sein, ein sich stets weiter-entwickelndes Verständnis von musikalischen, sozialen Möglichkeiten in den sich ebenso stetig ändernden techno-politischen Umgebungen zu entwickeln. Maschinen aus Soft- oder Hardware werden, selbst wenn die Marketingabteilungen der Firmen noch so oft von selbstlernend und autonom sprechen, von Menschen mit bestimmten Interessen konstruiert, gebaut und betrieben. Deshalb ist eine Diskussion dieser Technologien nur in größeren, wirtschaftlich-politischen Kontext sinnvoll und es reicht folglich nicht, den Output von AI-Komponisten auf einer rein ästhetischen Ebene (‚Überzeugen die Akkordfortschreitungen?‘) zu besprechen.
Komponieren von und komponieren in magischen Welten
Mit der Komplexität von Musikinstrumenten und Kompositionswerkzeugen erweitern sich zum einen die musikalischen Möglichkeiten, zum anderen steigt die Zahl und Wirkmacht der Vorentscheidungen, die in der Konzeption eben dieser getroffen und die mit diesen Werkzeugen auch mitgeliefert werden. Auch jene zeitgenössischen Softwares zur Musikproduktion, die noch nicht mit AI-Schlagworten beworben werden, haben einen Grad an Komplexität erreicht, der schwer zu überblicken ist. Um diese Programme bedienbar zu halten, wird der Blick gelenkt, User anhand detailliert designter Interfaces geleitet. Virtuelle Theaterstaffagen und Bühnenelemente aus dem Metaphernraum ‚Musik‘ werden digital verschoben, um so den Blick auf der intendierten Oberfläche zu halten.
Jede Interaktion mit Software bedeutet immer auch Interaktion mit den IngenieurInnen, die ein Interface, eine Spielwiese dynamisch zur Verfügung stellen und deren Annahmen und Konzepte über kompositorische Arbeit die Möglichkeiten der Werkzeuge fundamental prägen. Innerhalb der ex- und impliziten Vorgaben kann die Kundschaft kreativ sein. Sie hat es dabei leicht und schön, solange sie unter Musik dasselbe versteht, was sich ‚die Industrie’ dabei gedacht hat. Dies ist nicht nur bei Software basierten Hilfsmitteln so, sondern ist Teil der Idee von Werkzeug- und Instrumentenbau. So ist das Klavier, die Maschine gewordene Musiktheorie des Westens, von Vormeinungen darüber, was Musik zu sein hat geprägt und prägt diese in Folge über Generationen weiter. Kompositionen für Klavier bewegen sich qua definitionem zu allermeist im gleichschwebenden, wohltemperierten Tonraum und kommen ohne Vibrato oder Glissandi aus. Software-basierte Werkzeuge haben die physikalischen Einschränkungen des Klaviers (bzw. aller anderen traditionellen Instrumente) nicht, aber definieren, so sie kommerziell erfolgreich und weitverbreitet sind, mindestens ebenso die Denkmöglichkeiten jener Künstlerinnen und Künstler die mit ihnen arbeiten und aufwachsen.
Wir benutzen und vertrauen heute alltäglich Maschinen, ohne ihre Funktionsweisen zu verstehen. (Halb-)automatische Kompositionsprogramme sind dabei, diese Rückkehr in magische Welten auch in den Künstler-Ateliers und Studios zu ermöglichen. Man hofft, wischt, iteriert und sucht aus auf unerklärliche Weise erschienenen Vorschlägen aus. Wir interagieren mit ‚übergeordneten‘ oder ‚zugrundeliegenden‘, geheimen Regeln, über die wir uns selbst kaum Einfluss zutrauen. Wir agieren so unterstützt und eigentlich auch im Dienst von Algorithmen und Vorschriften jener Firmen, die uns die Werkzeuge zur Verfügung stellen. Die Befolgung manch solcher Regeln, die man selbst weder gemacht, erdacht noch verstanden, aber stets schon vor-autorisiert hat, erscheint als quasi-mystische Praxis in daten-kapitalistischem Kontext.
Der poetische Akt in der Masse der Daten
Die schieren Mengen von Aufnahmen, jenen Spuren menschlichen Musizierens, erfordern automatisiertes Pflügen durch die digitalen Schatten eines Klangchaos, das dereinst oft geschaffen wurde als Ausdruck reinsten Herzens. Der poetische Akt und der musikalische Augenblick erscheinen in diesem Kontext leicht so, als wären sie bloß Instanzen formaler Klassen im Meer der Datenbezüge, als wäre der konkrete Akt der abstrakten Ordnung nachgeordnet. Das Kunstwerk findet sich an der Position eines Datensatzes, der auf Grundlage seiner Rollen in gesellschaftlicher Praxis eingeordnet wird.
Kunst ereignet sich jedoch ergebnisoffen und jene, die sie treiben, wissen vorab eben nicht genau, was sie tun. Der konkrete Klang, der konkrete Akt ist in der Totalität seiner Beziehungen nicht in Formeln abzubilden und nicht wiederholbar. Dies gilt, wenngleich jeder Klang dieser Tage natürlich vermessen, klassifiziert und beliebig oft abgespielt werden kann, und sich in Folge Datenträger automatisiert in ähnlicher Art und Weise informieren lassen.
Unberechenbarkeit + Sinnfreiheit
Kunst ist der Ort, an dem man die Selbstverständlichkeiten des Alltags bewusst einklammern und so auch freistellen, thematisieren kann. Der künstlerische Akt als Sprung aus den Selbstverständlichkeiten bleibt jenseits von Formalisierung und ist – getragen von Individualanarchismus – auch ein Akt gegen die Vermassung und das Verschwinden des Konkreten, des Einzelnen in angenommenen und implizit mitgetragenen Ordnungen und Hierarchien. Er öffnet Möglichkeitsräume abseits etablierter Praxis, die dieser Tage oft schon in maschinell exekutier- und kontrollierbare Regeln gegossen sind.
Diese Befreiung von den Imperativen eigener und gesellschaftlicher Gewohnheiten und Normen kommt immer um den Preis der In-Blick-Nahme so manch fundamentaler Sinnlosigkeit, wobei die darin inbegriffene Freiheit, selbst Sinn gestalten zu können, aufs Erste als schwacher Trost dafür erscheinen mag. Jedes Zulassen von Zweifel ist gleichzeitig Angriff auf die Autoritäten. In einer Welt der Totalerfassung wird alles, was unberechenbar bleibt oder auch nur sein will problematisch (‚does not compute…‘).
Angesichts der Möglichkeiten und Ansprüchen AI-gestützter (Selbst-)Optimierung wird eine ästhetische, künstlerische Selbstsetzung, die nicht nur darin besteht, aus 10 verschiedenen Oberflächen zur Individualisierung des großen Einen auszuwählen, wichtiger denn je. Kunst und Musik sind nicht nur Teil des guten Lebens, sondern eine Art, unsere Fragen nach dem guten Leben immer wieder neu zu formulieren und zu beantworten. Fragen danach, wie und in welcher Gemeinschaft wir musizieren wollen, sind eminent politische.
Die zeitgenössische musikalische Realität ist auf ganz grundlegende Art von Technologie geprägt. Die Beheimatung in und die Synchronisierung der Forschung mit den Spielregeln des Großkapitals erschwert zwar gemeinsame Zugänge zwischen AI und kompositorischer Avantgarde, und es ist nicht einfach, sich big data, das Grundnahrungsmittel jeder AI, unabhängig von big business zu imaginieren, aber dennoch ist eine Auseinandersetzung miteinander wichtig und vielversprechend.
Dass Daten und Korrelationen zu Musik nun in bisher ungeahntem Ausmaß zur Verfügung stehen, eröffnet Möglichkeiten zu ganz neuen, bisher unerhörten musikalischen Praktiken und bedeutet keinesfalls, dass KünstlerInnen von nun an im Apex der Gauß’schen Kurve statistischer Normalverteilung den Höhepunkt allen künstlerischen Schaffens sehen werden. Ebenso wenig besteht eine Verpflichtung, die Daten und Werkzeuge maschinellen Lernens zu zynischem, musikalischen ’nudging‘ der Kundschaft in Richtung bestimmten Konsum- oder Stimmverhaltens zu missbrauchen. Ein daten-reicher Ansatz zur musikalischen Komposition bietet vielmehr auch Chancen für fundierte Kritik bestehender (künstlerischer) Praxis mit all ihren impliziten Vormeinungen. Menschen umgeben sich mit und leben in Technik, konstruieren Wirklichkeiten mit immer neuen Schichtungen synthetisierter Sinnesreize. AI in Händen von KünstlerInnen eröffnet ein reiches Feld an Möglichkeiten zur spielerischen Befragung und Umverteilung von Autorität in der musizierenden Gemeinschaft zwischen Individuum, Abstraktion und Algorithmus. Hier tritt AI als vielgestaltiges Werkzeug zur Produktion und konzeptueller Hintergrund zur Reflexion von neuartigem künstlerischen Tun auf. Denn Auseinandersetzung von KomponistInnen mit AI kann sich nicht in Vorschlägen zur weiteren Optimierung der Optimierungsstrategien erschöpfen. Sie muss sich mit jenen den neu entwickelten und neu zu entwickelnden Technologien zugrunde liegenden Konzeptionen von Musik und Gesellschaft beschäftigen.
AI basierte und informierte Kompositionstechniken und -werkzeuge werden also nicht als KünstlerInnen-Ersatzmaschinen, als Über-KomponistInnen, -InterpretInnen und -RezipientInnen ihre großen Auftritte haben, sondern von KünstlerInnen, Firmen und staatlichen Agenturen – in jetzt noch unbekannter Weise, auf verschiedenen Ebenen, in ganz unterschiedlichen Rollen und an sehr verschiedenen Orten – in menschliche, musizierende Gemeinschaften eingebracht werden und diese in vielerlei Hinsicht erweitern und befragen. Wozu sollten auch ‚voll-autonome‘ Ersatz-Musizier-Maschinen in Produktion und Rezeption gut sein? Es ist schließlich nichts da, das man sinnvollerweise an Automaten auslagern sollte; denn Musizieren (und das inkludiert immer auch Hören von Musik) stellt potentiell, wenn schon keine ausreichende Begründung, so doch eine gute Entschuldigung menschlicher Existenz dar.
[1] Asholt and Fähnders, Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde.
[2] Tzara, Manifest Dada 1918.
[3] Stilinović, In Praise of Laziness.
[4] Artmann, Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes.
[5] In: Oliveros, Software for the People, Collected Writings 1963-80.
[6] Kepler, Johannes. Harmonices Mundi Libri V. Linz: Johann Planck, 1619.
[7] Ich äußere die Vermutung, dass sich in solchen Optimierungsschleifen das Suppositorium, bzw. der Hohlraumdübel als musikalische Idealformen offenbaren werden.
Volkmar Klien verbrachte seine Kindheit und Jugend in Wien; fasziniert vom Musikleben dieser Stadt mit seinen gloriosen Traditionen und antiquierten Ritualen. Ausgehend von diesem Hintergrund versucht er heute die Möglichkeiten von Komponieren, Musizieren und Hören weit über klassische Konzertsituationen hinaus zu erweitern. Sein Interesse an den vielschichtigen Verbindungen zwischen den verschiedenen Modi menschlicher Wahrnehmung und den Rollen, die diese in der gemeinschaftlichen Schöpfung von Wirklichkeit einnehmen, führt ihn in die unterschiedlichsten Bereiche hörbarer – und manchmal auch unhörbarer – Kunst. Volkmar Klien ist Professor für Komposition an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz.