„Für uns ist das eine Möglichkeit, unsere Funktion als Plattform auch im Bereich der Forschung ausleben zu können“, erklärt Gerfried Stocker, künstlerischer Leiter der Ars Electronica. Er spricht über die beiden neuen Ars Electronica Research Institutes – und ihre Rolle innerhalb des Ökosystems der Ars Electronica.
Verankert im Ars Electronica Futurelab, sollen die neuen Research Institutes vor allem die Lücke zwischen theoretischer, akademischer Forschung und prototypischer, anwendungsbasierter Forschung im Lab und Atelier der Ars Electronica schließen. Das Ziel: Ein Wissenstransfer zwischen den Research PartnerInnen und der Wirtschaft, der Industrie und der Gesellschaft. Kurz: Demokratisierte Innovation, die von Privatpersonen bis zu Entscheidungstragenden reicht.
Die Research PartnerInnen, um die es sich handelt, das sind Eveline Wandl-Vogt, multidisziplinäre Forscherin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, und Werner Jauk, Psychologe, Musikwissenschaftler und Medienkünstler. Worum es in ihren Research Institutes – „Knowledge for Humanity“ (Wandl-Vogt) und „Auditory Cultures“ (Jauk) – genau geht und weshalb die neue Initiative eine wichtige Brücke schlägt, erklären Stocker, Wandl-Vogt und Jauk hier.
Warum wurden die neuen Ars Electronica Research Institutes ins Leben gerufen?
Gerfried Stocker: Mit den neuen Ars Electronica Research Institutes geht es uns darum, Grundlagenforschung, die primär im akademischen Bereich passiert, über die Partnerschaft mit Ars Electronica in anwendungsnahe Bereiche zu bringen. Verankert sind die Research Institutes im Ars Electronica Futurelab. Es soll ein Wissenstransfer zwischen unseren Research Partners und der Wirtschaft, der Industrie und der Gesellschaft passieren. Wir schlagen eine Brücke zwischen akademischer Grundlagenforschung und Anwendungsszenarien – genau in dem Kontext, für den Ars Electronica bekannt ist.
Das Erproben oder Demonstrieren der Forschungsansätze in Settings wie dem Ars Electronica Festival oder auch dem Ars Electronica Center sind eine wesentliche Unterstützung für den Forschungsprozess. In beiden Fällen, sowohl bei Werner Jauk als auch bei Eveline Wandl-Vogt, handelt es sich schließlich um Forschung, die anwender- und anwenderinnenorientiert sein soll. Sie brauchen die Begegnung, den Austausch und das Feedback von Menschen. Für uns ist das eine Möglichkeit, unsere Funktion als Plattform auch im Bereich der Forschung ausleben zu können.
Mit dem Ars Electronica Futurelab gibt es bereits ein Forschungslabor und –Atelier bei Ars Electronica. Warum also darüber hinaus die Ars Electronica Research Institutes?
Gerfried Stocker: Schlichtweg, um unsere Wissensbasis zu verbreitern. Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt in unserer modernen Wissensgesellschaft – ein Punkt, den Ars Electronica immer wieder postuliert. Es geht um Interdisziplinarität, und das heißt nicht immer nur, dass eine Technikerin mit einem Designer oder ein Soziologe mit einer Informatikerin arbeitet. Wir reden hier auch über verschiedene Modalitäten von Forschung. Akademische Forschung ist ein sehr anderer Bereich als die anwendungsorientierte Forschung, wie sie hier im Futurelab passiert. Die Herausforderungen, die wir in dieser Zeit der digitalen Transformation zu bewältigen haben, sind aber größer und vielfältiger als die Expertise einzelner Gruppen von Expertinnen, von Experten. Es war schon immer eine Stärke der Ars Electronica, mit den unterschiedlichsten Menschen und Institutionen zusammenarbeiten, und das ist genau das, was wir auch hier verfolgen. Ich denke, dass sich die Grundlagenforschung, die Werner und Eveline betreiben, sehr gut wechselseitig mit der Prototypenentwicklung im Ars Electronica Futurelab inspirieren kann. Es ist nicht nur eine typische Plattform-Situation – es ist eine Win-Win-Win-Situation.
Eveline, du leitest das Ars Electronica Research Institute “Knowledge for Humanity”. Kannst du dich kurz vorstellen?
Eveline Wandl-Vogt: Gerne. Ich arbeite seit 30 Jahren an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, angefangen habe ich im Bereich der Lexikographie, aktuell bin ich am Austrian Centre for Digital Humanities. Ich habe einen multidisziplinären Background, ich habe Germanistik und Geographie studiert und auch ein bisschen Informatik, angefangen habe ich aber mit Theaterwissenschaften. Danach habe ich Social Innovation studiert und ein Lab für Open Innovation in Science gemacht. Zwischendurch mache ich immer Lehrgänge oder Kurse zu Themen, die mich bereichern, meine Fragen voranbringen und mich und meine Arbeit weiterentwickeln. Ich bin relativ schnell darin, Dinge zu lernen, zu adaptieren und in meinem Arbeitsbereich auszuprobieren.
Was können wir uns unter „Knowledge for Humanity“ vorstellen?
Eveline Wandl-Vogt: In der langen Zeit, in der ich bei der Akademie arbeite, musste ich feststellen, dass die akademische Forschung einfach sehr weit von Lebensrealitäten entfernt ist. Das heißt nicht, dass sie unwichtig wäre – ich finde einfach, dass es eine große Lücke zwischen den beiden gibt. Um das zu überbrücken, schaue ich mir an, wo gibt es Problemstellungen und wo gibt es Wissen und wie bringe ich Wissensträger, -Trägerinnen zusammen. Daher der Titel, „Knowledge for Humanity“. Wenn ich sage für Humanity, für die Menschheit, dann geht das auf Federico Donelli zurück, der den Begriff des Humanity-Centered-Design, den wir für unsere Arbeit adaptieren, entwickelt hat. Einerseits steht „human“ hier für menschlich und weist auf das Ziel der Innovation als soziale Innovation hin. Weiter steht hier wirklich der Mensch im Fokus, aber eben nicht nur als Einzelne, als Einzelner, sondern auch als Gesamtheit, als Gesellschaft. Wir reden hier natürlich auch über das Verhältnis von Mensch zu Maschine, wir sind schnell im Bereich der Human-Machine-Interaction oder der Künstlichen Intelligenz.
Letztlich versuche ich auch, die Methoden und Praktiken der Open Innovation in der Wissenschaft anzuwenden. Wie kann Open Innovation eingesetzt werden, um sozial innovativ zu agieren? Wie kann ich Innovationsnetzwerke und schließlich auch Technologien einsetzen und auch entwickeln, um Mehrwert für die Gesellschaft zu erreichen? Der Ansatz ist per se metadisziplinär oder sogar antidisziplinär und daher ist diese Einbettung in die Ars Electronica so hilfreich und wichtig und eben auch schön. Wissensträgerinnen und -Träger arbeiten wirklich an der Schnittstelle von Technik, Wissenschaft und Gesellschaft – da agiert Ars Electronica ganz anders, als ich das sonst in meinem akademischen Rahmen machen kann. Das bietet ganz andere Interaktionen und Möglichkeiten als ein rein akademisches Umfeld.
Gerfried Stocker: Evelines Themen sind auch unsere großen Themen: die kommenden Entwicklungen von Wissenstechnologien, Tools und Medien zur Verarbeitung, zum Austausch, zur Interpretation von Wissen und Information zu verwenden. Zum einen geht es hier darum, methodisch zu untersuchen, wie man überhaupt mit großen, heterogenen Datensätzen umgeht. Was in der Informatik und der Computerwissenschaft dann aber oft fehlt, ist die Kontextualisierung von Daten. Daten nur als Material zu betrachten ist unter anderem etwas, was uns in die Schwierigkeiten gebracht hat, in denen wir uns jetzt befinden. Hier anzusetzen und das Problem mit einem kulturwissenschaftlichen Hintergrund anzugehen – das ist spannend. Daten sind kein neutrales Material, sie beinhalten Werte, die man kontextualisieren muss. Wir müssen die Entwicklung von Daten und Wissensverarbeitungsmethoden, Werkzeugen und Medien auf einer breiten, gesellschaftlichen und auch kulturwissenschaftlichen Ebene diskutieren.
In unseren Gesprächen hat sich schließlich die Bias Research als ein Fokus herausgearbeitet, ein großes Thema der Künstlichen Intelligenz. Es wird nahezu unlösbar sein, Kompromisse auf breiter gesellschaftlicher Basis zu finden, nach deren Spielregeln Gerechtigkeit definiert ist. Es ist sehr leicht zu sagen, ein System muss mit ausgewogenen Daten trainiert werden, die fair und gerecht sein sollen – solange es meine eigene Gerechtigkeit ist, solange es meine Vorstellung von Fairness und Ausgewogenheit ist. Hier kommen wir in Bereiche, wo die technische, wo die wissenschaftliche Auseinandersetzung viel zu kurz greift. Bereiche, wo wir eine gesellschaftliche, kulturwissenschaftliche Betrachtung dieser Entwicklungen brauchen.
Werner, dein Research Institute beschäftigt sich mit „Auditory Cultures“. Kannst du dich ebenfalls kurz vorstellen?
Werner Jauk: Ich stelle mich üblicherweise dreigliedrig vor, interdisziplinär lebend und auch so ausgebildet, promovierter Psychologe, habilitierter Musikwissenschaftler und praktizierender Medienkünstler. Die meisten verstehen die Verbindungen nicht ganz, aber wenn man Ästhetik als aísthēsis versteht, als Wahrnehmung, und Wahrnehmung als Köper-Umwelt-Interaktion, die über Medien erweitert wird, dann wird der Bezug zu Psychologie und Medienkunst als wissenschafts-, als erkenntnistheoretische, als epistemologische Kunst klar. Und was hat die Musikwissenschaft dazwischen zu tun? Die Musikwissenschaft beschäftigt sich mit auditiven Medien, mit auditiver Wahrnehmung und gerade diese Wahrnehmung scheint nicht nur mir, sondern seit McLuhan einigen wenigen die dominante und adäquate Wahrnehmungsform mediatisierter Welt zu sein. Obwohl sie uns als visuelle erscheint.
Genau darum geht es auch in dem von dir geleiteten Research Institute, „Auditory Culture“. Kannst du mehr davon erzählen?
Werner Jauk: Ich sehe den Wechsel von einer visuellen zur Auditory Culture durch Dynamisierung und durch Digitalisierung herbeigeführt. Dynamisierung meint Beschleunigung der Welt, in der sich nicht mehr der Körper auf Ereignisse bewegt, sondern diese sich zu ihm, beziehungsweise rund um den Körper in einer „all-at-onceness“ verfügbar sind. Digitalisierung meint (im Extrem), dass analoge Prozesse durch Codierung nicht nur leichter, sondern willentlich machbar werden und schließlich von ihren physischen Schranken befreit zu immateriellen Virtualitäten werden. Als Spiel mit dem Hören ist Musik stets eine dynamische Zeitgestalt von Klängen rund um den Körper. Ihre Codierung hat zur willentlichen Gestaltung geführt, allerdings mit hohem Körperbezug – der Bedeutung des Klanges für den Körper. Das Konzept Sound Gesture beschreibt diese hörende Interaktionsform, wir beschäftigen uns wissenschaftlich-künstlerisch forschend damit.
Wir hören Klang stets als Zeitgestalt, Klangveränderungen nehmen wir als Bewegungen rund um den Körper wahr, abseits der Bewegung seiner Schallquelle. Als Vermittler von Bewegung erregt Klang den Körper und bewegt ihn zur Handlung. Dies ist die Intentionalität von Klang, das „in tension“-/ in Spannung Versetzen des Körpers, bevor er denkend handelt. Diese erregungsbasierte Körper-Klang-Koppelung ist ein intentionales Interface, das die emotionale Interaktion mit Umwelten bestimmt, mit physischen und virtuellen, mit „converged realities“, die den Körper integrieren.
Im Ars Electronica Research Institute machen wir Grundlagenforschung, aber auch angewandte Forschung, vor allem, um das Paradigma Sound Gesture so genau erfassen zu können, dass wir es in vielen Bereichen anwenden können. Diese Interaktion würde ich gerne auf jegliche Form von Human – Maschine /-Environment-Interaction übertragen, in eine um „Emotion“ erweiterte Welt aus künstlicher Intelligenz einbringen.
Gerfried Stocker: Es ist ein sehr tief aus der künstlerischen Erfahrung und Praxis stammender Forschungsansatz, mit der Forschung an Sound Gestures schafft Werner eine Körpersprache zwischen menschlichem Körper und akustischer Umgebung. Das hat enormes Potential für Kommunikationsstrategien, die wir in Zukunft alle brauchen werden. Wir reden immer von smarter, selbstständiger oder teilautonomer Technik – in Wirklichkeit stehen wir vor der großen Herausforderung in den nächsten Jahrzehnten, in denen wir es noch mit völlig unintelligenten Systemen zu tun haben. Wenn sie wirklich einmal intelligent sind, wird die Kommunikation viel leichter! Jetzt ist es aber noch eine unheimliche Anstrengung, wir brauchen viele Ideen für neue Kulturtechnik, für neue Interface-Techniken, und genau hier ist Werners Forschung interessant. Das Wissen, das er generiert, kann sehr wertvolle Nahrung für alle die sein, die über Anwendungsszenarien in der Kommunikation zwischen Menschen und autonomen Maschinen nachdenken.
Bei Werner geht es um die Werkzeuge, mit denen wir den Austausch, die Koexistenz mit autonomen Systemen entwickeln werden, bei Eveline um die gesellschaftlichen Spielregeln. Beides sind Bereiche, die viel zu wenig repräsentiert sind. Wir reden immer nur über technische Entwicklung, Anwendungsorientierung, Business Cases, auch in Europa. Aber wenn es dann um dieses Humanizing of Technology geht, darum, was digitaler Humanismus sein könnte, da leisten diese Forschungsinstitute einen sehr vielversprechenden Beitrag.
Gerfried Stocker ist Medienkünstler und Ingenieur der Nachrichtentechnik. Seit 1995 ist Gerfried Stocker künstlerischer Geschäftsführer von Ars Electronica. 1995/96 entwickelte er mit einem kleinen Team von KünstlerInnen und TechnikerInnen die richtungsweisenden neuen Ausstellungsstrategien des Ars Electronica Center und betrieb den Aufbau einer eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilung, des Ars Electronica Futurelab. Unter seiner Führung wurden ab 2004 das Programm für internationale Ars Electronica Ausstellungen aufgebaut und ab 2005 die Planung und inhaltliche Neupositionierung für das neue und erweiterte Ars Electronica Center aufgenommen und umgesetzt. Stocker ist Gastredner auf zahlreichen internationalen Konferenzen und Gastprofessor der Deusto University Bilbao und berät zahlreiche Unternehmen in den Bereichen Kreativität und Innovationsmanagement.
Werner Jauk studierte Psychologie, Dissertation in Musikinformationstheorie (KI) und neuer experimenteller Ästhetik, Post-Doc-Studium am IRCAM und internationale Habilitation in systematischer Musikwissenschaft, „Pop / Musik und Medien / Kunst – das musikalisierte Leben in der digitalen Kultur“, schließlich Aufbau eines MA-Studiums in diesen Bereichen an der Universität Graz. Bereits in den frühen 80er-Jahren gründete er „grelle musik“ – um „Sound in the intermedia“ zu studieren und zu produzieren. Seit den ersten Tagen ist er als Mitglied der Ars Electronica Prix Jury für Digitale Musik, als Theoretiker und Medienkünstler mit vielen Klangumgebungen dabei; ein Teil davon zusammen mit Heimo Ranzenbacher, der die klangliche Performanz und den semiologischen Ansatz zur Medienkunst kontrastiert; in diesem Jahr konzentriert sich „AI-Pop: walking sound – knowledge base“ auf Sound-Geste und emotionale künstliche Intelligenz.
Eveline Wandl-Vogt ist Experimentalistin, Gründerin und Koordinatorin des exploration space an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Austrian Centre for Digital Humanities. Der exploration space ist ein offener Space für Innovation und Experimentation für die Networked Humanities und ein best practice example für Open Innovation der Österreichischen Bundesregierung.
Sie ist Reserach Affiliate am metaLab (at) Harvard. Eveline hat einen multidisziplinären universitären Background in Germanistik, Geographie, Informatik, Theaterwissenschaften und Pädagogik. Sie studiert Soziale Innovation und wurde für das weltweit erste Lab Open Innovation in Science ausgewählt. Eveline hat funiertes Wissen und Weiterbildungen im Bereich Archivwisssenschaften, Digitale Infrastrukturen und Knowledge und Innovations-Management. Eveline agiert als Research Manager und Initiatorin in diversern internationalen Boards. Sie ist als Experin in diversen globalen Initativen tätig, v.a. im Bereich technischer und sozialer Infrastrukturen, wie ADHO, ALLEA, COST Aktionen, DARIAH, ECSA, und Standardisierungsgremien. Basierend auf der Mission knowledg4development und vor dem Hintergrund eines RRI Mission Statements, wendet Eveline Open Innovation Methoden und Praktiken an, die zur Umsetzung der Agenda2030 beitragen sowie zur Erreichung der Sustainable Development Goals und damit eine Brücke zwischen Grundlagenforschung und Realweltherausforderungen schlagen. Evelines aktuelle Arbeit ist im Bereich Knowledge Science und Urban Humanities anzusiedeln. In Ihrer Tätigkeit als Knowledge Designerin und Netzwerkfacilitator stimuliert, kreiert und analysiert sie cross-sektorelle, cross-ogranisatorische Werte-basierte Innovations-Netzwerke.