Das ARTificial Intelligence Lab (kurz AI Lab) bietet Künstler*innen, die im Bereich künstlicher Intelligenz tätig sind, die Möglichkeit zu Residencies an unterschiedlichen Partnereinrichtungen. Zum Thema „Astronomy x AI“ wurde gemeinsam mit dem Observatorium Leiden ein Call ausgeschrieben, den Sarah Petkus und Mark J. Koch gewonnen haben. Was es mit dieser Residency auf sich hat, warum gar nicht genügend Fragen gestellt werden können und ob 42 tatsächlich die Antwort auf alle Fragen ist, darüber haben wir mit Pedro Russo, Universitätsprofessor für Astronomie und Gesellschaft an der Universität Leiden, gesprochen.
Das Observatorium Leiden ist ein Teil der Universität, beherbergt aber gleichzeitig über 100 Unternehmen, Start-ups und Forschungsinstitute. Es ist zudem das astronomische Institut der Universität Leiden. Können Sie einen kurzen Überblick über Ihre Institution geben?
Pedro Russo: Ja, ich arbeite am Observatorium Leiden. Es ist die älteste Universitätssternwarte der Welt und wurde bereits im Jahr 1633 gegrĂĽndet. Galileo benutzte 1609 zum ersten Mal ein Teleskop – und nur ein paar Jahrzehnte später wurde die Sternwarte Leiden gegrĂĽndet, was ziemlich beeindruckend ist. Der Ort ist also interessant, weil er eine lange Tradition in Astronomie hat und auch, weil viele Astronom*innen ihre Zeit dort verbringen. Momentan ist es eines der größten astronomischen Forschungsinstitute in Europa – fast 300 Astronom*innen, Postdocs und Doktorand*innen arbeiten hier.
Neben dem universitären Anschluss sind wir auch gut mit dem Rest der Gemeinde verbunden, insbesondere mit dem Raumfahrt-Campus. Wir sind Nachbarn des European Space Agency Center for Technology and Science (ESTEC), um das herum es jede Menge Raumfahrtunternehmen gibt. Durch unsere Zusammenarbeit sind wir gut in das Ökosystem für die Weltraumforschung eingebettet.
Außerdem haben wir das Glück, eines der ehemaligen Institutsgebäude zu haben, das eine typische alte Sternwarte aus dem 18. Jahrhundert ist. Wir haben also eine Reihe von Teleskopen und Domes im Stadtzentrum von Leiden, wo wir viele öffentliche Programme durchführen und Ausstellungen veranstalten, um die Öffentlichkeit zu erreichen.
Wollten Sie als Astronom da schon immer hin?
Pedro Russo: Leiden ist als Ort der Astronomie bekannt und das Institut so groß, dass man als Astronom*in ziemlich wahrscheinlich hier einige Zeit verbringt – sei dies als Arbeitsplatz oder bei einer Konferenz oder einem Workshop oder Seminar. Es ist ein Ort, den jede*r Astronom*in auf der Welt kennt, an dem er schon einmal war oder an dem er zumindest Kolleg*innen hat. Es ist ein Brennpunkt der Astronomie auf der ganzen Welt. Aber ehrlich gesagt, nein, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in Leiden arbeiten würde.
Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Pedro Russo: Im Rahmen meiner Promotion erkannte ich, dass ich mich vor allem für die Menschen in der Astronomie – also die Schnittstelle zwischen Astronomie und Gesellschaft – interessiere. Ich versuche zu verstehen, warum wir Astronomie um der Menschheit willen betreiben. Es geht also um philosophische Fragen rund um die Suche nach dem Verständnis des Universums, aber auch darum, die Unterstützung der Gesellschaft für diese Fragen zu verstehen. Warum haben wir öffentliche Wertschätzung und öffentliches Verständnis? Warum stecken die Regierungen Geld in diese Forschung? Warum schauen wir uns Galaxien und schwarze Löcher an, wenn wir doch so viele lokale Herausforderungen und Aufgaben haben, die auf unserem Planeten gelöst werden müssen?
Beim Nachdenken über diese Fragen beschloss ich, dass dies mein Beitrag zur Astronomie sein soll. Ich betreibe noch astronomische Forschung, aber die meiste Zeit beschäftige ich mich mit der Umsetzung und mit praktischen Projekten.
KĂĽnstliche Intelligenz ist eines der Top-Themen unserer Zeit – die Diskussionen ĂĽber Möglichkeiten und Gefahren dauern an, während KI bereits in vielen Anwendungen des täglichen Lebens eingesetzt wird. Worin liegt die größte Chance von KI im Bereich der Astronomie? Wird KI bereits eingesetzt und wo?
Pedro Russo: Das stimmt, KI ist eines dieser Themen in Forschung und Technologie, das derzeit sehr präsent ist – und zwar auch in Bereichen, die direkte Auswirkungen auf unser Leben haben. Das ist auch bei der Astronomie so, vor allem mit maschinellem Lernen und Datenverarbeitungssoftware. Ich denke, die Astronomie hat bei diesen technologischen Entwicklungen eine Art Vorreiterrolle.
Wir sind eine sehr bildgestützte Wissenschaft, und zur Verarbeitung dieser Bilder setzen wir elektronische Geräte und Computer ein. Wir verwenden KI zur Mustererkennung und führen Simulationen durch, wie das Universum funktioniert. Da wir nicht in Galaxien oder schwarze Löcher vordringen können, brauchen wir Simulationen und Computermodelle – und diese Algorithmen nutzen maschinelles Lernen. In der Astronomie gibt es eine große Menge an Daten, die in den letzten Jahrzehnten gesammelt wurden, und mittels intelligenter Algorithmen können wir diese Daten durchzugehen und neue Entdeckungen zu machen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dabei einige sehr interessante neue Dinge über das Universum finden werden, die wir noch nicht wussten. Sie waren die ganze Zeit in den Daten enthalten, aber wir hatten nie die Zeit, die Expertise oder das Wissen, um diese Dinge tatsächlich zu identifizieren. Und das wird eine kleine Revolution sein.
Die Astronomie als „harmlose“ Wissenschaft kann als Plattform genutzt werden, um den Einsatz von KI zu hinterfragen ohne ĂĽber persönliche Freiheit oder persönliche Daten zu debattieren. Diese Plattform könnte ein Treffpunkt fĂĽr Menschen sein, um die Technologie zu verstehen.
Die AI Lab Residency wird zur Hälfte am Observatorium Leiden und zur anderen Hälfte im Ars Electronica Futurelab stattfinden, Thema ist „Astronomy x AI“. Was haben Sie von den Einreichungen erwartet?
Pedro Russo: Astronomie ist eines dieser Forschungsgebiete an den Grenzen der Wissenschaft, das einige interessante Fragen über die Menschheit aufwirft. Was ist der Ursprung des Universums? Was ist der Ursprung der Planeten? Was ist der Ursprung des Lebens? Diese Fragen lagen bereits den frühen Philosophen am Herzen und dennoch ist die Astronomie eine „harmlose“ Wissenschaft in dem Sinn, dass sie keinen negativen Einfluss auf die Menschen hat – anders als etwa die Medizin oder manche KI-Anwendungen. Und so können wir die Astronomie als Plattform nutzen, um den Einsatz von KI zu hinterfragen ohne über persönliche Freiheit oder persönliche Daten zu debattieren. Diese Plattform könnte ein Treffpunkt für Menschen sein, um die Technologie zu verstehen.
Das Konzept, Menschen aus verschiedenen Bereichen zusammenzubringen, um neue Perspektiven zu schaffen, kann uns nur helfen. Die Zusammenarbeit mit Künstler*innen lässt uns nicht nur die soziale Rolle von KI, sondern auch die soziale Rolle der Astronomie hinterfragen. Und so können wir eine Konversation über eine neutralere Nutzung von KI führen.
Die Gewinner*innen der Residency sind Sarah Petkus und Mark J. Koch mit „Moon Rabbit“. Was erwarten Sie von den beiden?
Pedro Russo: Jetzt, wo feststeht, dass wir mit Mark und Sarah arbeiten, sind wir ziemlich aufgeregt. Die beiden haben eine sehr spielerische Herangehensweise an die Wissenschaft, was interessant ist, weil KI immer noch wie etwas klingt, das nur Computerfreaks verstehen. Mit ihrem spielerischen Ansatz erreichen Sarah und Mark verschiedene Gemeinschaften, vielleicht sogar jĂĽngere, und stellen ganz unbedarft Fragen ĂĽber KI, Wissenschaft und ĂĽber die sozialen Auswirkungen von Forschung.
Ich bin sehr neugierig auf die Zusammenarbeit. FĂĽr unser Institut ist es das erste Mal, dass wir eine KI-Arbeitsgruppe haben – diese wird grade gegrĂĽndet, während wir uns unterhalten. Wir haben also jetzt Leute, die darĂĽber nachdenken, wie man KI fĂĽr die zukĂĽnftige Forschung nutzen kann, weshalb es absolut der richtige Zeitpunkt ist, KĂĽnstler*innen einzubinden und noch mehr Fragen zu stellen.
Es scheint wie eine perfekte Verbindung zwischen dem Institut und den KĂĽnstler*innen zu sein. Wie die philosophischen Fragen, mit denen die Astronomie aufwarten kann, und das Projekt von Sarah und Mark, wo sie ähnliche Fragen stellen wie „Warum sind wir hier? Was können wir von den Maschinen lernen?“
Pedro Russo: Im Rahmen des Jury-Prozesses haben wir nach einem „easy fit“ gesucht. Durch die derzeitigen Reisebeschränkungen wird es schwierig sein, Leute zu treffen, insofern war es esentiell, jemanden zu finden, der bereits in das Programm passt. Ich bin wirklich froh, dass wir sie ausgewählt haben!
Was können die Künstler*innen von dieser Residenz erwarten?
Pedro Russo: Ich hab fast das Gefühl, dass wir mehr von ihnen bekommen werden als umgekehrt… Was wir für Sarah und Mark tun können, ist ihnen ein besseres Gefühl für die Pionierforschung der Weltraumwissenschaften zu vermitteln. Das Interessante, das sie von uns bekommen können, ist ein Verständnis dafür, was Astrobiologie für die Forschung bedeutet.
Wie stellen Sie sich das Ergebnis vor?
Pedro Russo: Eine Erfahrung, die wir bisher mit Kunst in der Wissenschaft gemacht haben, ist, dass man nicht von Anfang an Ergebnisse erwarten sollte. NatĂĽrlich wĂĽrde man ein fertiges Kunstwerk erwarten, das irgendwo im Institut physisch vorhanden ist, aber es ist vor allem ein Erkundungsprozess, besonders im ersten Teil der Residency hier in Leiden. Die KĂĽnstler*innen sind vorrangig hier, um zu denken und zu erforschen und das dann unter der Anleitung von Ars Electronica in etwas Konkretes umzusetzen. Wir werden uns also auf den Prozess konzentrieren, und ich bin wirklich gespannt, was sich Sarah und Mark einfallen lassen.
Wenn Sie jetzt bestimmte Erwartungen hätten – was denken Sie, wie wĂĽrden diese im Vergleich zum Ergebnis in etwa 6 Monaten aussehen?
Pedro Russo: Komplett anders. (lacht)
Pedro Russo (NL) ist Universitätsprofessor für Astronomie und Gesellschaft an der Universität Leiden, Niederlande. Dr. Russo war der globale Koordinator für das Internationale Jahr der Astronomie 2009. Er erwarb seinen Universitätsabschluss in Angewandter Mathematik, Physik und Astronomie an der Universität Porto, Portugal, war Forschungsstipendiat am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Deutschland und engagiert sich in verschiedenen internationalen Organisationen, wie der Europäischen Astronomischen Gesellschaft, Europlanet und der Internationalen Astronautischen Föderation. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Seeds Special Award 2009, Scientix Best Educational Resource in 2015 und 2016, Most Innovative Educational Activities in 2017 und 2018 von HundrED und 2018 mit dem K.J. Cath Prize der Universität Leiden. Pedro hat in verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Kollaborationen gearbeitet und arbeitet derzeit an einer Zusammenarbeit mit dem Nederlands Dans Theater, NDT2.
Das European ARTificial Intelligence Lab wird durch das EU-Programm „Creative Europe (2014-2020)“ sowie durch das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport kofinanziert.