Welche Rolle spielen Kunstfestivals wie die Ars Electronica? Was müssen sie leisten und für wen? Die allermeisten Antworten auf diese Fragen rücken – aus gutem Grund – das Publikum ins Zentrum. Eine andere zentrale Zielgruppe wird meist vergessen: die Kunstschaffenden selbst.
Festivals bedeuten vor allem Kommunikation. Sie eröffnen Raum und Zeit, um andere Menschen zu treffen und kennenzulernen. Sie zelebrieren Vielfalt und Gemeinsamkeit, sie verbinden Vergangenheit und Zukunft, wollen Reflexion anstoßen und schlicht Spaß machen. Festivals bringen uns einander näher, wecken Hoffnung.
Seit 1979 präsentiert und inszeniert Ars Electronica Projekte, Initiativen und Prototypen an der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Gesellschaft, um Menschen aus aller Welt zu inspirieren und Veränderung zu befördern. Jahr für Jahr identifizieren wir aktuelle Themen, kuratieren Inhalte, entwickeln Stories, Designs und Formate. Als öffentlich finanziertes Kunst- und Kulturfestival adressieren wir ein möglichst breites Publikum – weil wir mit dem, was wir tun, etwas bewirken und relevant sein wollen.
Ein Festival zu sein, bedeutet aber mehr als Projekte zu präsentieren, Inhalte zu vermitteln und Themen zu diskutieren. Ein Festival wie die Ars Electronica darf nicht nur seine Besucher*innen – die breite Öffentlichkeit – im Blick haben, sondern muss Künstler*innen selbst als zentrale Zielgruppe begreifen.
Möglichkeiten schaffen
Festivals sollen Möglichkeiten schaffen – im Besonderen gilt dies für die mitwirkenden (aber auch alle anderen) Künstler*innen selbst. „Wir führen laufend Gespräche mit Künstler*innen und versuchen ihre Bedürfnisse in die Ausgestaltung des Festivals einfließen zu lassen“, sagt Veronika Liebl, Managing Director des Bereichs Festival/Prix/Exhibitions von Ars Electronica. „Dieser Austausch ist Teil unserer kontinuierlichen Reflexion darüber, welche Rolle ein Festival wie Ars Electronica spielen muss.“ Um mit Fug und Recht als eine Investition in die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft gelten zu dürfen, muss Ars Electronica auf vielen verschiedenen Ebenen Wirkung entfalten: „Auf Künstler*innen bezogen heißt das, nicht nur Sichtbarkeit für ihre Ergebnisse schaffen, sondern sie in ihrem Wirken und ihrer Entwicklung bestmöglich zu fördern.“
Netzwerke bilden und Projekte anbahnen
Kunstfestivals sind Bühne, Forum und Marktplatz für Kreative, Kunstfans, Kurator*innen, Galeriebetreiber*innen, Kooperationspartner*innen und potenzielle Käufer*innen. „Als Europas größtes Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft ist die Ars Electronica ein Fixtermin für Player aus aller Welt und unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen“, sagt Veronika Liebl. „Jahr für Jahr empfangen wir Botschaftsdelegationen, setzen Schwerpunktführungen und Workshops für Forscher*innen und Entwickler*innen aus Wirtschaft und Industrie um, führen Netzwerktreffen für Kurator*innen durch und organisieren Get-togethers für Fördergeber*innen und Stiftungen.“
Gleich im Rahmen des Pre-Openings zur diesjährigen Ars Electronica findet etwa ein Empfang statt, der ganz im Zeichen des kulturellen Erbes steht. „Erst gibt es eine öffentlich zugängliche Präsentation im Deep Space 8K, bei der wir ein 3D-Modell der Notre-Dame, ein Gigapixelbild von Vittore Carpaccios „Junger Ritter“ und eine Punktwolke des Linzer Mariendoms zeigen. Im Anschluss laden wir dann Botschafter*innen mehrerer Länder, Direktor*innen, Kurator*innen und Kunsthistoriker*innen internationaler Museen, Entwickler*innen von Startups und Sponsor*innen zu einem Get-together ein, um über aktuelle Projekte zu sprechen und Ideen für gemeinsame Vorhaben zu entwickeln.“
Auch das Swiss Arts Council Pro Helvetia lädt im Rahmen der Ars Electronica zu einem Get-together, um Kurator*innen und Künstler*innen miteinander zu vernetzen. „Da Ars Electronica Kunstschaffende aus aller Welt zusammenbringt, ist so ein informeller Austausch sehr gefragt. In entspannter Atmosphäre kann man hier Menschen treffen, die einerseits vieles gemeinsam haben, andererseits aber auch ganz anders denken und empfinden, weil sie einer anderen Kultur angehören, in einem anderen Teil der Welt leben oder mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert sind.“
Erlebt das breite Publikum das Festival und sein Programmangebot häufig als (End-)Produkt kreativer Prozesse, soll es für Künstler*innen umgekehrt sein. „Idealerweise wird das Festival zum Katalysator für das Schaffen von Künstler*innen“, sagt Veronika Liebl. „Es soll den Startpunkt ihrer nächsten Projekte markieren.“
Feedback bekommen
Angesiedelt zwischen Kunst, Technologie und Gesellschaft und international ausgerichtet, fällt eine klare und einfache Definition des Ars Electronica Festival gar nicht so leicht. „Für mich ist das Festival der Prototyp einer Plattform, die sich mit Zukunftsfragen befasst und dabei so viele Perspektiven wie möglich einbindet“, sagt Veronika Liebl. Werke, die hier präsentiert werden, werden von Kreativen aus allen Teilen der Welt, unterschiedlichen Disziplinen, Kulturen und Religionen erlebt und kommentiert. Künstler*innen haben dadurch die Chance vielschichtiges Feedback zu erhalten, das wiederum ihre künstlerische Weiterentwicklung befördert. „Es ist so schön wie ironisch, dass in einer Zeit, in der das größte Gewinnversprechen im Vorhersagen des nächsten Tokens liegt, ausgerechnet Diversität und Unberechenbarkeit zum größten Asset von Ars Electronica – und der Kunst ganz allgemein – werden.“
Gemeinschaft erleben
Das Ars Electronica Festival schafft Raum für Dialog, Ideenaustausch und nicht zuletzt Wertschätzung für neue künstlerische Ausdrucksformen. „Wir wollen das Gemeinschaftsgefühl von Künstler*innen fördern“, sagt Veronika Liebl. „Gerade für die Medienkunst ist das sehr wichtig, die trotz ihrer Relevanz und Aktualität immer noch eine Nische ist.“ 2024 bietet Ars Electronica deshalb so viele Workshops, Demos und Künstler*innengespräche an wie nie zuvor, die allesamt gemeinsam mit Künstler*innen für Künstler*innen umgesetzt werden. Im Mittelpunkt steht der Erfahrungsaustausch. „Es geht darum, Einblicke in das kreative Schaffen anderer zu gewinnen, deren Probleme und Lösungen kennenzulernen und Feedback zu eigenen Herangehensweisen zu bekommen.“
2024 wird es zum ersten Mal eigene Town Hall-Meetings geben, die sich an Künstler*innen richten, aber auch interessierten Besucher*innen offenstehen. „Wir planen einstündige Sessions, die sich spezifischen Themen und Fragestellungen widmen. Eingeleitet werden die Gespräche immer von Kurator*innen und Entwickler*innen der Ars Electronica, die das Thema und ihre laufenden Aktivitäten kurz skizzieren, bevor dann Künstler*innen Einblick in ihre Herangehensweisen und Projekte geben. Danach folgt ein informelles Gespräch.“ Ziel der Town Hall-Meetings ist es, den Austausch unter den Künstler*innen zu befördern und neue Diskussionsteilnehmer*innen zu gewinnen. „Die Teilnahme ist kostenlos und steht allen offen“.
„Besonders unterstützen wollen wir junge, aufstrebende Künstler*innen, die sich in einer entscheidenden Phase ihrer künstlerischen Entwicklung und Karriere befinden“, sagt Veronika Liebl. „Gemeinsam mit dem ‚Offenen Technologielabor‘ – kurz OTELO – eröffnen wir einen ‚Young Artist Space‘, in dem junge Künstler*innen etablierte Kunstschaffende treffen und erfragen können, wie diese ihre Karrieren angelegt haben, welche Kompetenzen sie sich wo angeeignet haben, welche Netzwerke und Kontakte sie als wertvoll erachten, wie man sich präsentiert oder einen Businessplan erstellt.“
Anerkennung erfahren
An einem Kunstfestival mitzuwirken, verschafft Künstler*innen und ihrem Werk Sichtbarkeit und in der Folge Anerkennung, die wiederum den Marktwert dieser Künstler*innen bestimmt. „Als weltweit führendes Festival für Medienkunst wollen wir natürlich die etablierten Namen der Szene in unserem Programm haben. Gleichzeitig verwenden wir – nicht nur im Rahmen des Festivals, sondern vor allem in Gestalt des Prix Ars Electronica – Zeit und Mühe darauf, vielversprechende junge Künstler*innen zu entdecken“, sagt Veronika Liebl. „Wir wollen mit unserem Festival keinen Schaulauf der Stars inszenieren, sondern vielmehr der nächsten Generation von Künstler*innen den roten Teppich ausrollen, die ihre Ideen und Visionen einbringen möchte.“
Nirgends wird das so deutlich wie im Rahmen der Ars Electronica Award Ceremony. „An dem Abend gehört die Bühne ausschließlich den Künstler*innen“, sagt Veronika Liebl. Ursprünglich die offizielle Preisverleihung des Prix Ars Electronica, werden mittlerweile neben den Goldenen Nicas eine ganze Reihe weiterer prestigeträchtiger Preise überreicht. „Im Auftrag der Europäischen Kommission führen wir seit 2016 den STARTS Prize und seit 2024 auch den STARTS Africa Prize durch, mit dem österreichischen Außenministerium vergeben wir den Digital Humanity Award und schreiben den Wettbewerb State of the ART(ist) aus. Bei der Ars Electronica Award Ceremony bitten wir alle Preisträger*innen auf die Bühne, um ihnen die Reverenz zu erweisen.“
Eine neue Initiative ist der 2024 erstmals verliehene Campus Award. „Mehr als 40 Kunstuniversitäten aus aller Welt werden heuer beim Ars Electronica Festival dabei sein und Projekte ihrer Studierenden und Lehrenden zeigen“, kündigt Veronika Liebl an. „Jede dieser Universitäten kann ein Projekt nominieren, alle Arbeiten werden dann von einer internationalen Jury begutachtet und bewertet. Das Siegerprojekt erhält den mit 2000 Euro dotierten Campus Award, darüber hinaus werden fünf Honorary Mentions vergeben. Im Rahmen der feierlichen Campus Award Ceremony bekommen die Studierenden dann ihre Preise – und Anerkennung.“
In und mit der Öffentlichkeit experimentieren
Im Gegensatz zu Museen können, dürfen, ja müssen Festivals ein Experiment sein. „Es ist Ars Electronica in ihrer DNA eingeschrieben, dass sie in und mit der Öffentlichkeit stattfindet“, sagt Veronika Liebl. „Die Geschichte des Festivals ist davon geprägt, hinauszugehen und den musealen Raum nicht gänzlich, aber doch hinter sich zulassen.“ Aktuell ist es ein stillgelegtes Postverteilzentrum, das im Rahmen des Festivals in eine temporäre Oase der Fantasie und Kreativität verwandelt wird. „Für uns als Veranstalter*innen und Kurator*innen, genau wie für die Künstler*innen, mit denen wir zusammenarbeiten, bedeutet das natürlich erst einmal Unsicherheit und Risiko: Wir müssen aus unserer Komfortzone raus, uns an neue Räume gewöhnen, in denen andere Gesetzmäßigkeiten gelten. Wir sind gezwungen – oder haben dadurch die Freiheit – zu experimentieren, Neues auszuprobieren und uns hoffentlich gemeinsam weiterzuentwickeln. Künstler*innen erhalten dabei die einmalige Chance, viel unmittelbarer auf ihr Publikum zu treffen.“
Ein Beispiel für die Arbeit in und mit der Öffentlichkeit ist die Art Thinking Lounge. „Kann Kunst unserer gesellschaftliche Weiterentwicklung Vorschub leisten und wenn ja, wie kann sie zum Katalysator für neue Gesellschaftsentwürfe werden? Fragen wie diese bilden den Ausgangspunkt für die Art Thinking Lounge, die wir mit Hakuhodo entwickelt haben“, sagt Veronika Liebl. Ziel ist es einen temporären Raum schaffen, in dem Vertreter*innen aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft auf Künstler*innen treffen und gemeinsam Türen aufstoßen. „Wo und in welchem Rahmen könnten Zukunftsvisionen besser sprießen als in einer Industrieruine, die der nächsten Evolution oder Revolution harrt und einem Festival zwischen Kunst, Technologie und Gesellschaft?“.
Eine andere Welt erleben
Was wäre wenn? Allen zynischen Einwänden zum Trotz, beginnt jede Zukunftsvision mit dieser einfachen Frage. „Auch in der Kunst ist diese Frage zentral“, sagt Veronika Liebl. „Nicht nur, weil sie den gedanklichen Ausgangspunkt künstlerischen Schaffens bildet, sondern weil mit ihr auch der Dialog mit der Öffentlichkeit beginnt.“ Was wäre wenn …?
„Künstler*innen wie Time’s Up verstehen es meisterhaft, diesen Dialog anzuknüpfen. Ihre Kunstwerke sind Szenarien oder noch besser Kosmen, die man betritt, um sich in ihnen – gedanklich und emotional – zu verlieren“, schwärmt Veronika Liebl. „Sie versetzen uns in die Lage, aus unseren Denkmustern auszubrechen und uns für einen Moment Dinge vorzustellen, die wir uns sonst niemals erlauben würden – weil sie unrealistisch sind, sich nicht rechnen oder sonst irgendein guter oder schlechter Grund dagegenspricht.“ Ein Kunstfestival muss genau solche Gedankenexperimente und Erlebnisse möglich machen.
„Ein Festival wie die Ars Electronica ist ein Ereignis“, sagt Veronika Liebl. „Es ist eine flüchtige Welt, die ihrem eigenen Rhythmus folgt und ihre eigene Atmosphäre besitzt, die ihre Rituale pflegt und Experimente wagt – eine Welt, in der alles möglich ist, solange, alle, die diese Welt bevölkern, auch ihren Platz finden und Wertschätzung erfahren.“ Dies gilt nicht nur für Besucher*innen, sondern auch und vor allem für jene, die diese Welt erschaffen und mit Leben erfüllen: Künstler*innen.
Das Ars Electronica Festival 2024 findet von 4. bis 8. September unter dem Thema „HOPE – who will turn the tide“ in Linz statt. Tickets dafür gibt es hier.
Veronika Liebl
Veronika Liebl ist derzeit Direktorin für Europäische Kooperationen bei Ars Electronica und Leiterin der Abteilung Festival/Prix/Exhibitions. Sie studierte Wirtschafts- und Betriebswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz (Abschluss 2010) mit Studienaufenthalten an der Harvard University (USA) und der Universität Fribourg (CH) und verfügt über einen interdisziplinären Hintergrund in den Bereichen Nonprofit- und Innovationsmanagement. Seit 2011 ist sie bei Ars Electronica Linz für Kulturmanagement und europäische Projektentwicklung zuständig und Mitglied des Linzer Kulturbeirates, des Vorstandes der UNESCO City of Media Arts Linz und des Content Innovation Council des ARTS+ Programms der Frankfurter Buchmesse. Seit mehr als 10 Jahren ist sie in der Programmierung und Produktion von Kooperationsprogrammen mit Partnern aus Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft tätig. Sie leitet die europäischen Kooperationsprojekte der Ars Electronica in den Bereichen Kultur, Forschung und Bildung und hat in dieser Funktion – gemeinsam mit ihrem Team – zahlreiche EU-Projekte wie den STARTS Award oder das European ARTificial Intelligence Lab entwickelt, initiiert und umgesetzt.