Die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden haben es öffentlich gemacht: Das Regierungsviertel in Berlin – mit Institutionen wie dem Bundestag, dem Bundeskanzleramt und zahlreichen ausländischen Botschaften, Medienzentren und weiteren Vertretungen – wird von Geheimdiensten lückenlos überwacht und ausspioniert. Mit ihrer temporären Kunstinstallation „Can you hear me?“, die vor kurzem mit der Goldenen Nica in der Kategorie „Interactive Art +“ des Prix Ars Electronica 2016 ausgezeichnet wurde, griffen Christoph Wachter und Mathias Jud die Frage der Macht und Machtlosigkeit im digitalen Zeitalter auf.
Die beiden Künstler installierten über den Dächern des politischen Zentrums Deutschlands ein unabhängiges Wifi-Kommunikations-Netzwerk. Jeder und jede in der Mitte Berlins konnte sich über ein Wifi-fähiges Gerät mit dem Netzwerk verbinden, darüber chatten, Text-Nachrichten senden und Dateien austauschen. Auch die Angestellten der Botschaften und des Regierungszentrums wurden eingeladen, mitzumachen. Wer wollte, konnte zudem auf genau den Frequenzen, die von der amerikanischen NSA und dem britischen GCHQ abgehört wurden, Nachrichten an die Geheimdienste schicken. Anstelle des geheimen Abhörens entstand so eine kollektive Konversations-Sphäre, in der alle dieselben Rechte hatten. 33 Tage lang wurde dieses anonyme und unabhängige Netzwerk von tausenden Menschen genutzt, mehr als 15.000 Nachrichten wurden an NSA und GCHQ übermittelt. Mathias Jud sprach mit uns, wie es dazu kam und wie die Öffentlichkeit – und auch die Geheimdienste – darauf reagierten.
Bei einem Besuch der Schweizerischen Botschaft in Berlin ist Ihnen beiden die Idee zu “Can you hear me?” gekommen. Können Sie uns mehr über die ersten Stunden Ihrer Gedanken rund um dieses Projekt erzählen?
Mathias Jud: Es war ein bisschen anders. Die Schweizer Diplomaten hatten Interesse an unseren Arbeiten, deshalb haben sie uns auch eingeladen, diese im Rahmen einer Veranstaltung in der Botschaft vorzustellen
Bereits in unseren früheren Arbeiten haben wir die Bedingungen und Einschränkungen der digitalen Kommunikation untersucht. Unter anderem haben wir dabei Tools entwickelt, die die Zensur im Internet beleuchten und aber auch überwinden. Diese Bedingungen und Einschränkungen der individuellen Kommunikation und des individuellen Ausdrucks sind aber von grundlegender Bedeutung für das Funktionieren von Politik und Gesellschaft; deshalb hatten womöglich auch die Diplomaten Gefallen an unserer Arbeitsweise gefunden. Aber natürlich erregten insbesondere die ganz spezielle Situation im Berliner Regierungsviertel und die Abhöranlagen auf der amerikanischen und britischen Botschaft unser Interesse. Beide Botschaften haben geheime Abhöranlagen auf ihren Dächern angebracht, um die Bevölkerung, die Regierung und sogar das Mobiltelefon von Angela Merkel zu überwachen.
Allerdings ist die Schweiz keineswegs eine Supermacht und sie hat keinerlei politischen Machtambitionen. Es ist ein kleines Land mit einer sehr weitreichenden demokratischen Stimme. Deshalb ist es sinnvoll, den geheimen Überwachungszentren der Supermächte ein offenes Kommunikationsnetzwerk gegenüberzustellen, das in der Tat wiederum abgehört werden kann – gleichzeitig bietet es aber auch denjenigen Anonymität, die darüber kommunizieren. Es ist eine Umkehrung. Was hier entwickelt wurde ist nicht eine Möglichkeit, weiter einzudringen und abzuhören, sondern es der Bevölkerung zu ermöglichen, zu kommunizieren und zu kommentieren. Wir schufen eine Plattform für eine Vielzahl an Stimmen, die für eine offene und freie Form an Beiträgen und Äußerungen steht.
Das ist auch deshalb so interessant, weil wir normalerweise nicht über alles reden können. Die Überwachung macht uns sprachlos. Wir können über Zensur oder Überwachung nicht sprechen, weil diese Zustände direkt in unsere Wahrnehmung, in verschiedenen Ausformungen und in unsere Sprache eingebettet sind. Es ist erst dann sinnvoll darüber zu reden, wenn es eine Möglichkeit gibt, diesen direkten Zusammenhang zwischen Überwachung und Abhören zu erfahren, auf eine Art und Weise, dass wir daraus neue Wege ableiten können. Es war uns damit möglich, konkrete Gelegenheiten des Handelns zu schaffen, die ein übermächtiges Regime des Abhörens brechen und dessen Machtlosigkeit hervorheben können.
Ein Teil des Berliner Regierungsviertels. Credit: Christoph Wachter, Mathias Jud
Schlussendlich haben Sie Antennen auf den Dächern der Schweizerischen Botschaft und der Akademie der Künste in Berlin installiert. Wie schwierig war es, die richtigen Orte für dieses Netzwerk im Regierungsviertel zu finden?
Mathias Jud: Wahrscheinlich gibt es keine einzige Ecke im Regierungsviertel, die nicht abgehört wird. Deshalb hätten wir unsere Geräte eigentlich überall aufstellen können. Unser Ziel war es, eine direkte Verbindung zu den Abhörposten herzustellen, und der beste Weg, dies zu erreichen, war eine direkter Blicklinie. Deshalb haben wir uns sehr darüber gefreut, eine große Antenne auf dem Dach der Akademie aufzustellen zu können. Wir schufen eine perfekte Verbindung. Ein Problem jedoch war, dass nur eine sehr kleine Dachluke auf das Dach der Akademie führte, so mussten wir uns eine Konstruktion überlegen, die auf dem Dach leicht wieder zusammengebaut werden konnte. Es war eine beeindruckende Situation als wir die Antenne aufbauten, denn wir wurden von einem Hubschrauber aus überwacht. Es ist ein seltsamer, einsamer und streng kontrollierter Ort, nur wenige Meter vom Brandenburger Tor entfernt, dort, wo die Menschenmassen flanieren.
Was waren die besten Textbotschaften, die an die NSA und CGHQ über Ihr Netzwerk übermittelt wurden?
Mathias Jud: In den Kommunikationsforen haben wir zwischen bedeutsamen politischen Stimmen und vermittelnden oder versöhnlichen Kommentaren unterschieden. Wir haben intime Geständnisse und offene Appelle gelesen und uns über die abprallenden Angriffe und mögliche Störenfriede gewundert. All das hatten wir auch. Es gab natürlich auch sehr bedeutungsvolle politische Botschaften, echt lange Debatten, und auch sehr originelle und sarkastische Bemerkungen. Aber das, was mir am meisten gefiel, war, dass wir die Botschaften immer weniger in Kategorien einteilen konnten. Im offenen Bereich von „Can you hear me?“ war es möglich, die geheimen Beobachter direkt anzuschreiben – hier war alles ein Kommentar und eine Aussage zugleich. Darüber hinaus verwandelte sich jede Meldung in einen performativen Akt und in eine vernünftige Einstellung. Die breite Palette an Aussagen und selbst ein lebhaftes Gewirr an Sprachen und Dialogen waren beeindruckende Erscheinungen darüber, dass eine Massenüberwachung in der Tat bereits in all unsere Lebensbereiche eindringt, wo jede menschliche Emotion und Aufregung reflektiert wird. Das private und manchmal peinlich intime Material, das hier veröffentlicht wurde, machte es klar, dass mittlerweile nichts mehr privat ist. Es ist eine aufregende Erkundung nach dem, was es bedeutet, unter dem Einfluss einer totalen Überwachung zu kommunizieren.
Eine der Antennen von „Can you hear me?“ in Berlin. Credit: Christoph Wachter, Mathias Jud
Wie haben die NSA und CGHQ reagiert?
Mathias Jud: Im Allgemeinen waren die TeilnehmerInnen anonym, so war es auch möglich, dass die Nachrichten auch direkt selbst von den Geheimdienstmitarbeitern geschrieben wurden. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie viele der Nachrichten auch selbst gelesen haben. Aber offizielle Stellungnahmen gibt es keine. Tatsächlich hat der Generalbundesanwalt erwogen, ein Verfahren gegen die NSA wegen illegalen Geheimdienstaktivitäten einzuleiten. Diese Untersuchung wurde jedoch während der Zeit unserer Installation fallen gelassen, weil angeblich keine Beweise eines Abhörens nachgewiesen werden konnten. Deshalb existiert zumindest offiziell keine Überwachung der NSA; sonst hätten die deutschen Behörden dies auch untersucht. Und deshalb hat die NSA auch nie offiziell darauf reagiert oder irgendetwas verneint.
Wir luden ausdrücklich die MitarbeiterInnen der Botschaften und Regierungsstellen ein, an diesem Projekt teilzunehmen. Aus parlamentarischen Kreisen wurden geheime Dokumente über die Untersuchung der Snowden-Affäre in das Netzwerk hochgeladen. Schon vor und dann auch während der Installation wollten wir die amerikanischen und britischen Botschaften im Detail darüber informieren. In der US-Botschaft wurde eine Mitarbeiterin als unsere Kontaktperson auserkoren. Wir hätten ihr gerne unser Projekt präsentiert. Es wurde uns immer wieder gesagt, dass sie uns zurückruft, was sie jedoch bis heute nicht tat. Die Briten sagten stets, dass es sich um ein Kunstwerk handelt, und aus dieser Definition ging klar hervor, dass das British Council und nicht die Botschaft dafür zuständig ist.
Bis heute gab es keine Erklärung für die Ereignisse rund um diese Abhöraffäre, die wohl nie gelöst werden wird. Aus diesem Grund war die Installation „Can you hear me?“ im Regierungsviertel ein bedeutendes Sichtbarwerden von etwas, das uns alle betrifft, über das wir alle wissen, aber es wie auch immer noch keine Antworten dazu gibt.
Credit: Christoph Wachter, Mathias Jud
Was geschah mit dem Projekt nach dem Dezember 2014, dem Ende Ihrer temporären Installation in Berlin?
Mathias Jud: Wir waren überwältigt von dem Erfolg. Über 15.000 Nachrichten wurden gesendet und es gab eine Menge an internationaler Berichterstattung dazu. Nach der eigentlichen Installation begann eine breite Reflexion über das Projekt und wir bekamen sehr viel Feedback. Wir sind sehr erfreut darüber, welche Anerkennung wir dafür erhalten haben. Ich denke, es ist eine einmalige Installation, die einen Symbolcharakter hat und als Kunstprojekt beispielhaft ist, aber was über die Installation hinaus geblieben ist, ist eine sich begeisternde Gemeinschaft und eine große Resonanz, die uns alle ermutigt hat, diese Macht- und Sprachlosigkeit nicht weiter zu akzeptieren und etwas dagegen zu tun, nicht in bestehenden Netzwerken gefangen zu bleiben, und uns viel mehr auf die Möglichkeiten zu konzentrieren, eigene Netzwerke zu schaffen. Irgendwann nach unserer Installation hat übrigens Edward Snowden seinen Twitter-Account eingerichtet. Ob es Zufall war oder nicht, sein erstes Statement war: „Can you hear me now?“
Sie sagen, dass ein freier Informationsfluss essentiell für eine lebendige Demokratie ist – wie sieht so ein ideales Fundament einer global vernetzten Welt ihrer Meinung nach aus?
Mathias Jud: Die Bedingungen einer Demokratie stehen eng in Zusammenhang mit dem Thema Überwachung: Redefreiheit, Datenschutz, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit. Doch die Installation „Can you hear me?“ zeigt die dunkle Seite unserer Gesellschaft in der wir leben. Konfrontiert mit Zensur und Massenüberwachung werden unsere grundlegenden Möglichkeiten zur Kommunikation laufend unterwandert. Davon abgesehen, gibt es noch etwas anderes, das uns interessiert: Diese Sprachlosigkeit, die daraus hervorging, konnte über die Installation spielerisch überwunden werden. Die Installation ist nicht nur eine verständliche sondern auch eine zukunftsweisende Entdeckung. Es ging darum, die Machtverhältnisse aufzudecken in der Mitte von Berlins Regierungsviertel und der Sprachlosigkeit mit einer Portion an Optimismus entgegenzutreten. Das bot die Möglichkeit zur freien Kommunikation. Ich denke, es gibt keine idealen Grundlagen für demokratische Freiheiten; Freiheit kann nicht generell institutionalisiert werden, aber es ist äußerst wichtig, dass wir neue Möglichkeiten der Kommunikation finden und damit experimentieren, wenn wir keine Gefangenen einer von außen geformten Wahrnehmung und blockierenden Ideen sein möchten.
Im Jahr 2012 haben Sie den [the next idea] voestalpine Art and Technology Grant für Ihr Projekt qaul.net erhalten – für eine Sammlung an Werkzeugen, um spontane unabhängige Wifi-Netzwerke einzurichten. Was geschah mit dem Projekt nach 2012?
Mathias Jud: Wir haben unzählige Netzwerke an vielen verschiedenen Orten aufgebaut, mit Menschen, die auf der Flucht waren, mit Menschen, die in losen Siedlungen lebten, mit AktivistInnen in Syrien, Frankreich, Deutschland und in der Türkei. Eine Gemeinschaft hat laufend dafür gesorgt, qaul.net weiterzuentwickeln, und neue Features wie Apps oder Kryptographie beigesteuert. Wir haben von Adaptionen in Australien und in Südamerika gehört, und qaul.net wurde während den Naturkatastrophen und „Netzwerkfehlern“ bei Demonstrationen in China verwendet. Mit diesem Projekt bringen wir ebenso den aktuellen Zustand und die Abhängigkeiten in unserer Gesellschaft zum Vorschein und es wird uns dadurch möglich sein, weltweit zusammenzuarbeiten und grundlegende Möglichkeiten zu schaffen, damit wir uns ausdrücken können.
Christoph Wachter (CH) und Mathias Jud (CH) wurden in Zürich geboren. Sie leben und arbeiten in Berlin. Die beiden Künstler haben bereits an zahlreichen internationalen Kunstausstellungen teilgenommen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet (Prix Ars Electronica, Swiss Art Award, EMARE, CECEL European Council, Edith Russ Haus, Förderpreis der Kunstministerin des Freistaats Sachsen, usw.). Insbesondere die Projekte Picidae (seit 2007), New Nations (seit 2009) und qaul.net (seit 2012) haben weltweit für großes Interesse gesorgt. Konzipiert als Open-Source-Projekte versuchen diese Arbeiten Formen von Internet-Zensur aufzudecken, die Konzentration der politischen Macht zu untergraben und sich von der Abhängigkeit bestehender Infrastruktur zu lösen. Die Tools, die die KünstlerInnen zur Verfügung stellen, werden von Gemeinschaften in den USA, Europa, Australien und in Ländern wie Syrien, Tunesien, Ägypten, Iran, Indien, China und Thailand genutzt. Sogar Aktivisten in Nordkorea nehmen daran teil. Aber nicht alle sind von diesen Projekten begeistert. Im Jahr 2012 erhielten sie für das Projekt HOTEL GELEM einen Preis des Europarats, das sie mit Roma-Familien in Europa durchgeführt haben. Dabei organisierte Manuel Valls (derzeit Premierminister Frankreichs) eine Gegendarstellung gegen das Kunstprojekt. Die Volksrepublik China verweigert Wachter und Jud seit 2013 die Einreise in das Land.