RADICAL ATOMS: Wenn Visionen greifbar werden

Transform,

Linz, 20:30 Uhr, Cambridge, 2:30 PM. Wir sind mit Prof. Hiroshi Ishii über Skype verabredet, starten die Videokonferenz mit dem MIT Media Lab in den USA, das pixelige Bild baut sich auf. Hiroshi Ishii kommt gerade aus einer Besprechung, nimmt uns bildlich mit vom Konferenzraum über ein paar Stiegen hinauf in sein Büro. Von Bildschirm zu Bildschirm sprechen wir nun über die Visionen, die sich die Tangible Media Group gesetzt hat, was er unter dem Begriff „RADICAL ATOMS“ – das Thema des diesjährigen Ars Electronica Festival 2016 – eigentlich versteht, und darüber, dass er schon seit langem gegen das allumfassende „Pixelimperium“ vorgeht und nach neuen Materialien und zukunftsweisenden Interaktionsformen forscht.

“Radical Atoms” ist der Titel Ihrer Zukunftsvision von menschlicher Interaktion. In diesem Jahr wird sich auch das Ars Electronica Festival 2016 mit einer zentralen Ausstellung dieser Thematik widmen. Wie sieht Ihre Vision der „radikalen Atome“ eigentlich aus? Worum geht es dabei? Und warum nennen Sie es radikal?

Hiroshi Ishii: “Radical” kommt von dem Begriff der “freien Radikale”, wie es auch von ChemikerInnen verwendet wird. In der Chemie bezeichnet der Begriff der freien Radikale Atome, Moleküle und Ionen mit ungepaarten Elektronen. Sie sind instabil, sehr dynamisch und wandelbar. Der Ursprung von „radikal“ liegt also in der Chemie, beim Ars Electronica Festival 2016 wollen wir den Begriff jedoch als Ausgangspunkt verwenden, um uns über „freie Atome“ und dynamische Materialien der Zukunft zu unterhalten.

Sie denken bereits über die nächsten Mensch-Maschine-Schnittstellen nach. Welche grundlegenden Elemente benötigt eine Schnittstelle dieser Art eigentlich?

Hiroshi Ishii: Derzeit gibt es einen großen Hype, der die Virtuelle Realität erblühen lässt. Auch dieses Interview, das wir gerade als Skype-Konferenz führen, aber auch Computer, Smartphones, Tablets und Fernseher, alles ist grundsätzlich auf Pixel aufgebaut. Hier treffen Photonen auf unsere Netzhaut und täuschen uns eine optische Illusion vor.

„Seitdem ich vor 22 Jahren zum MIT gestoßen bin, versuche ich konsequent gegen dieses „Pixelimperium“ anzukämpfen, wobei jeder Inhalt in immaterielle Pixel gepresst wird und hinter den Bildschirmen steckenbleibt. Es ist eine optische Täuschung, aber nichts Reales. Wir glauben jedoch an die „Greifbarkeit“. Hier kann man etwas direkt berühren, verändern und fühlen.“

Denken Sie doch nur an Ihre Liebsten – Sie müssen ihren Herzschlag und ihre Wärme spüren, um an ihre Existenz zu glauben. Bildschirme können das nicht. Unsere Vision, „Tangible Bits“, hat sich genau daraus entwickelt, dass wir die Pixelwelt hinter uns gelassen haben. In Radical Atoms steckt diese Denkweise genauso. Radikale Atome sind so „frei“ wie wir. Damit sind nicht notwendigerweise die Daten gemeint, aber vielmehr eine völlig unterschiedliche Weltsicht. Ich bin ein Forscher; meine Aufgabe ist es, radikal andere, neue und einzigartige Ideen vorzuschlagen. Wir wissen dabei aber nicht, ob wir damit Erfolg haben werden oder gar scheitern. Das Pixelimperium ist so stark!

Wie arbeiten Sie in der Tangible Media Group am MIT Media Lab? Können Sie uns etwas mehr über Ihre Arbeitsweise und Ihr Team erzählen?

Hiroshi Ishii: Drei Dinge sind uns sehr wichtig: Zuerst EnVISION – das ist die wichtigste treibende Kraft; nicht die Technologie und nicht die Bedürfnisse der BenutzerInnen. Die Technologie, so wie wir sie heute verwenden, wird in den nächsten drei Jahren veraltet sein. Die Bedürfnisse ändern sich laufend. Aber die wahre Vision hat eine viel längere Dauer, die länger ist als unsere eigene Lebenszeit. Angetrieben sein von einer Vision, das ist die zentrale Idee, und Radical Atoms ist so eine Vision. EnVISION ist besonders wichtig, wenn man darüber nachdenkt, wie die Zukunft der eigenen Kinder oder Nachfahren aussehen sollte.

Das nächste wichtige Element ist EmBODY. Wir müssen einen Prototyp bauen, um mit anderen Menschen dieses Erlebnis teilen zu können. Kennen Sie noch die Music Bottles, die wir beim Ars Electronica Festival 2001 vorgestellt haben? Das ist ein anschauliches Beispiel dieses Konzepts. Die Vision muss „materialisiert“ und greifbar werden, indem man Technologien verwendet wie Elektronik, Computer oder Maschinenbau. EmBODY hat also ganz stark damit zu tun, dass man eine Idee in eine greifbare Form bringt, um es Menschen zu ermöglichen, auch in Wirklichkeit mit ihren Körpern damit zu interagieren. In diesem Beispiel ist es das Öffnen der Flaschen, bei dem sie das Konzept plötzlich verstehen lernen.

Das dritte Element – eigentlich das wichtigste – ist INSPIRE. Solange eine Arbeit andere Menschen nicht inspiriert, bleibt all das stehen, Menschen würden nie anders denken und das Werk rasch wieder vergessen. Um Menschen inspirieren zu können, muss es eine sehr klare Botschaft geben, gespickt mit Schönheit oder Ästhetik, die wir Menschen sehr anziehend finden. Viele Aktivitäten der Ars Electronica haben diese inspirierende Kraft – Ars Electronica inspiriert Menschen gesellschaftlich, politisch, kulturell und technologisch. Das ist der Grund, warum wir uns sehr darüber freuen und uns sehr geehrt fühlen, im September 2016 unsere Arbeiten auszustellen und beim Symposium von Radical Atoms vorzutragen. Also, um all das zusammenzufassen: EnVISION, EmBODY und INSPIRE, das sind unsere drei Hauptkriterien.

Projekte wie TRANSFORM oder biologic sind zwei sehr schöne Visionen einer Mensch-Maschine-Schnittstelle, die digitale und physische Welten miteinander verbinden. An was arbeiten Sie gerade?

Hiroshi Ishii: Wir erforschen viele verschiedene Materialien. Bei „Transform“ geht es um etwa eintausend sich nach oben und unten bewegenden Stiften. In „bioLogic“ sehen Sie den Bacillus Subtilis natto, biologische Materialien, in denen lebende Bakterien ihre Rolle als Sensoren und Aktoren übernehmen. Aber es gibt noch so viele weitere Materialien auf diesem Planeten! Wir erforschen eine Vielzahl an Straßen, die uns alle in die Richtung unserer Vision von Radical Atoms führen. Aber das Wichtigste ist: Wie können wir Interaktionen gestalten? Diese grundlegenden technischen Komponenten sind ja nur Hilfsmittel, um Technologie zu ermöglichen. Die Frage ist jedoch vielmehr, wie können wir eine sinnvolle Interaktion gestalten? Wir betreiben eine Menge an konzeptioneller Arbeit. Wenn man sich „Transform“ ansieht, tanzt hier ein roter Ball auf weißen Stiften. Einer dieser weißen Stifte steht für ein Radical Atom – der rote Ball hingegen repräsentiert ein altes Material, ein Frozen Atom. Beim Ars Electronica Festival 2015 in der POSTCITY im vergangenen Jahr in Linz habe ich darüber bereits einen Vortrag gehalten. Wir versuchen, mit vielen neuen Projekten anzureisen, um all die Macht, die in diesen radikalen Atomen steckt, zu veranschaulichen – im Gegensatz zu alten Materialien wie Frozen Atoms, also starre Atome, oder unberührbare Pixel.

Für unsere LeserInnen: Können Sie uns schon sagen, was Sie beim Ars Electronica Festival 2016 zeigen werden?

Hiroshi Ishii: Die Ausstellung „RADICAL ATOMS – die Dinge neu denken“ wird ab dem 8. September 2016 im Ars Electronica Center zu sehen sein, dem ersten Tag des Ars Electronica Festival 2016. Zurzeit sind wir gerade in der abschließenden Planungsphase, aber unsere Vorschläge beinhalten viele Projekte wie „inFORM“ in der Version, die wir für das Cooper Hewitt Design Museum produziert haben. Außerdem zeigen wir „bioLogic“, ein anderes Hauptprojekt, das biologische Materialien als Motor einsetzt, und viele andere Dinge. Wir werden außerdem auch klassische Projekte wie „musicBottles“ zeigen. Wir sind sehr froh darüber, all das nach Linz zu bringen. Warum? Weil wir so viel von verschiedenen Disziplinen und Communities gelernt haben, aber Medienkunst bei Ars Electronica ist die am besten inspirierende Community für uns, weil es hier gänzlich neue Perspektiven zu sehen gibt und das Verständnis unserer technischen Gestaltungsarbeit erweitert. Wir freuen uns sehr, viele aufregende KünstlerInnen und DesignerInnen kennenzulernen, die uns ebenso helfen, die Zukunft von dynamisch physischen und computerbasierten Materialien zu gestalten, die mit ihrer Arbeit wiederum all die Kreativen der Zukunft inspirieren.

Was brauchen Ihrer Meinung nach die AlchemistInnen unserer Zeit, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen, um solch stark inspirierende Projekte schaffen zu können?

Hiroshi Ishii: Keiner von uns beiden hat Englisch als Muttersprache, aber wir sprechen notwendigerweise Englisch, um miteinander kommunizieren zu können. In derselben Art und Weise müssen wir alle die gleichen Sprachen an Kunst, Design, Wissenschaft und Technologie sprechen können, gerade dann, wenn es darum geht, neue Materialien zu erfinden, mit denen man sich ausdrücken kann, mit denen man kommunizieren oder provozieren kann. Alle müssen alle Sprachen fließend sprechen können, wenn sie den Ansatz der „Alchemists of our time“ verfolgen wollen. Die AlchemistInnen von heute sind aber nicht AlchemistInnen der Chemie oder der Physik. Sie müssen eine Sprache sprechen, die noch viel breiter ist – technologisch, künstlerisch, gestalterisch und wissenschaftlich. Und wir müssen auch die unternehmerischen Auswirkungen verstehen lernen.

Materialien sind gute Ausgangspunkte dafür. Man entwickelt neue Materialien, um ihre oder seine Ideen ausdrücken zu können. Wenn man ein Bildhauer ist, verwendet man seine Hände, um Ton zu formen. Ein Tänzer oder Choreograph setzt seinen Körper ein. Eine Musikerin greift auf ihr Klavier zurück, um zu spielen und zu komponieren. Aber wie materialisiert man seine Idee? Wie schafft man neue Materialien, um die Idee wiederzugeben? Das ist besonders wichtig. Ich glaube, die AlchemistInnen dieser Zeit sollten wirklich all diese Sprachen sprechen, die Ideen zwischen den Sprachen übersetzen können, und sie sollten Freude daran haben, verrückte Materialien zu erfinden, die zuvor noch nie jemand gesehen oder berührt hat. Und somit werden sie die ersten Menschen auf diesem Planeten sein, die ihr eigenes Material für wissenschaftliche Experimente verwenden können, für künstlerische Ausdrucksformen und für die Gestaltung, oder was auch immer. „BioLogic“ ist ein sehr feines Beispiel dafür. Wir haben dabei eine zweite atmende Haut entwickelt, die sich Bakterien zunutze macht. Die Mensch-Maschine-Schnittstelle ist ein altes Paradigma, aber eine Schnittstelle zwischen dem Menschen und einer lebenden Maschine ist doch etwas Neues. Wir können Paradigmen bewegen, wenn wir neue Materialien erfinden. All das bringt uns auch neue Bedeutungen über die künstlerische, die wissenschaftliche, die gestalterische und die technologische Sichtweisen.

In den kommenden Wochen werden wir hier auf dem Ars Electronica Blog mit ausführlichen Interviews und Impressionen umfangreich über das bevorstehende Ars Electronica Festival 2016 und das Thema „RADICAL ATOMS and the alchemists of our time“ berichten. Folgen Sie uns auf Facebook, Twitter, Instagram und Co., abonnieren Sie unseren Newsletter und informieren Sie sich auf ars.electronica.art/radicalatoms über das Medienkunstfestival, das von 8. bis 12. September 2016 in Linz, Österreich, stattfinden wird.

Hiroshi Ishii

Hiroshi Ishii (JP/US) ist Jerome-B.-Wiesner-Professor of Media Arts and Sciences am MIT Media Lab, Co-Direktor des Things That Think (TTT) consortium und Leiter der Tangible Media Group, die er mit der Vision einer neuen Interaktion von Mensch und Computer gegründet hat: „Tangible Bits” and „Radical Atoms.” Diese Vision haben er und sein Team an einer ganzen Reihe von Institutionen für Wissenschaft, Kunst und Industriedesign vorgestellt, darunter ACM SIGCHI, ACM SIGGRAPH, Cannes Lions Festival, Aspen Ideas Festival, Industrial Design Society of America, AIGA, Ars Electronica, Centre Pompidou und Victoria and Albert Museum. 2006 wurde Ishii von ACM SIGCHI an die CHI Academy berufen. In den Jahren vor seiner Tätigkeit am MIT Media Lab leitete Ishii eine Forschergruppe am NTT Human Interface Laboratories Japan, wo sein Team die TeamWorkStation und das ClearBoard erfand.

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