Dr. Bernad Batinic: „Wir schlagen ein völlig neues Kapitel auf!“

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Am Rande eines Workshops zum Thema Wearables im Ars Electronica Center sprachen wir mit Prof. Bernad Batinic.

Aktuell läuft an Ihrem Institut, im Fachbereich Arbeits-, Organisations- und Medienpsychologie, ein Forschungsprojekt zum Thema Wearables. Es geht um die Nutzung von elektronischen Daten, die von Wearables erhoben wurden. Was genau sind Wearables und wo sind Sie heute bereits im Einsatz?

Bernad Batinic:  Wearables sind „tragbare Technologien“, die man  in der Regel am Körper trägt. Sie erleichtern die Erfassung verschiedenster menschlicher Verhaltens-, Interaktions- und Erlebnismuster in Form von elektronischen Daten. Wearables erfassen physiologische Daten, Geotracking-Daten sowie Daten zu Aktivitäten in sozialen, sportlichen und anderen Bereichen. Die bekanntesten Wearables sind wohl Smartphones und Fitnessarmbänder. Aber da gibt es eine große Bandbreite! Gefördert wird dieses Forschungsprojekt vom Linz Institute of Technology (LIT).

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Timothy Omer hat Diabetes Typ I und trägt ein Continuous Glucose Monitoring (CGM) System am Körper. Eine App auf seinem Telefon sammelt die Glukosewerte und macht Vorschläge zur geeigneten Medikation. Credit: Timothy Omer

Sie gehören zu den Pionieren auf dem Gebiet der elektronischen Datenerhebung im Internet und der Online-Forschung. Gleichzeitig sind Sie Leiter des Instituts für Pädagogik und Psychologie. Wie finden Wearables in Ihrem Bereich Anwendung und welchen Nutzen oder Mehrwert könnten die damit erhobenen Daten für Ihre psychologische Forschung haben?

Bernad Batinic: Wir entwickeln in unserem Bereich keine neue Technologie. Wir nutzen bestehende Technologien, wie zum Beispiel Fitnessarmbänder und Smartphones und viele andere Geräte, die es auf dem Markt gibt, um Daten von Personen zu erfassen. In den Sozialwissenschaften, zu denen die Psychologie gehört, geschieht die Datenerhebung bislang mit Fragebögen oder Interviews. In der Forschung ist das erheben von Daten ein ganz zentraler Punkt. Und wir haben immer mit einer bestimmten Unschärfe zu tun. Hier stoßen wir jetzt eine ganz neue Türe auf, mit der wir die Unschärfe reduzieren! Die Idee ist, Fragebögen und Interviews mit Daten aus dieser getragenen Technologie zu kombinieren und so bessere Ergebnisse zu bekommen.

Ich war vor 20 Jahren mehr oder minder der Erste im europäischen Raum, der Webumfragen durchgeführt hat. Online-Umfragen gab es schon hier und da vorher, aber sie zu einer verlässlichen wissenschaftlichen Erhebungsmethode auszubauen, damit war ich hier an der JKU Pionier. Inzwischen werden 1/3 aller empirischen Studien mittels Online-Fragebögen durchgeführt! Mit der Datennutzung aus den Wearables habe ich das Gefühl, dass wir wieder an so einem Umbruch stehen. Wir schlagen ein völlig neues Kapitel auf.

Ein Anwendungsbeispiel aus der Psychologie: wollen Sie die medizinischen Aspekte des Schlafes an sich untersuchen, gibt es dazu Schlaflabore. Soll allerdings der Stress von Schulkindern und die Beziehungsqualität zu den Eltern untersucht werden und welche Rolle der Schlaf dabei spielt, dann haben wir bisher die Eltern und Kinder befragt: schläfst du gut? Wachst du nachts häufiger auf? Gehst du immer zur gleichen Zeit ins Bett? Diese Angaben sind schon nicht schlecht. Sie haben aber  eine subjektive Verfälschung. Mit einer Sensormatte im Bett kann das Schlafverhalten der Kinder über 1-2 Wochen getrackt werden. Dies wird dann mit ihren Noten in der Schule in Beziehung gesetzt. Das bringt viel genauere Ergebnisse.

Es gibt beispielsweise auch Forschungen zu Arbeitslosigkeit. Unter anderem wird dort gesagt, je länger die Arbeitslosigkeit dauert, desto stärker ziehen sich die Menschen sozial zurück bzw. nehmen weniger am sozialen Leben teil. Traditionell erforscht man sowas indem man die Leute befragt: gehst du am Wochenende raus? Was machst du da so? Wie war deine Woche? Die Antworten darauf sind natürlich subjektiv und oft auch unbewusst verfälscht. Wenn man nun Daten aus Fragebögen wie diesen mit Daten zur Dauer der Arbeitslosigkeit kombiniert und dazu aber gleichzeitig Bewegungsdaten im sozialen Raum mit einbezieht –  auf einer Landkarte von Linz beispielsweise: sind die Probanden denn tatsächlich an der Donau gewesen? Oder im Freibad? Oder in der Fußgängerzone? – dann könnte man vielleicht feststellen, dass mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit, das Aktivitätsverhalten tatsächlich zurückgeht. Diese Messung ist viel genauer.

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Dieser tragbare Roboter wurde entwickelt um Patienten mit halbseitiger Gesichtslähmung während der Rehabilitation zu unterstützen. Ein spezieller Elektromyographie-Senor erkennt die Muskelaktivität und überträgt die Bewegungssignale und Gesichtsausdrücke der nicht-betroffenen Seite auf die gelähmte Seite. Credit: Kenji Suzuki

Die JKU und das Ars Electronica arbeiten seit Jahren in vielen Kooperationen miteinander. Morgen, am 10. Mai, beginnt die Tagung für Datenerfassung und -analyse mit Wearables. Die Auftaktveranstaltung dazu findet bereits heute in Zusammenarbeit im dem Ars Electronica Futurelab statt. Worin liegt für Sie der Reiz in dieser Zusammenarbeit?

Bernad Batinic: Das haben wir bereits im Projektantrag ganz bewusst so gelegt: die Ars Electronica war unser Wunschpartner. Wir sehen das als Möglichkeit den Kontakt zur Ars Electronica noch weiter auszubauen. Den Auftakt hier in einem so visionären Haus zu machen, finde ich sehr passend zu unserem Tagungsthema. Zumal das Ars Electronica Futurelab ja viele eigene Forschungen und Experimente in diese Richtung macht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Tagung sind Forschende, die sowohl von außerhalb Linz, als auch außerhalb Österreichs, wie der Schweiz und Deutschland, kommen. Da war es auch unsere Idee, die Arbeit des Ars Electronica Centers unseren Teilnehmern noch breiter bekannt zu machen.

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Rovables, energieautarke Miniaturroboter, die sich auf Kleidung frei bewegen und klettern können. Sie enthalten Sensoren und können eine Vielzahl von Aufgaben übernehmen: laufend den Gesundheitszustand überprüfen; sich auf eine Handgelenksdrehung hin zu einer intelligenten Uhr zu formieren, zum interaktiven Kleidungsstück, zum Display oder zu einem Schmuckstück. Credit: Artem Dementyev

Haben Sie ein Forschungsprojekt im Kopf, das Sie unbedingt mal bearbeiten möchten und das vielleicht zur Umsetzung mit der Ars Electronica interessant sein könnte?

Bernad Batinic: Ja gibt es. Also ich hab ganz viele Ideen! Wir haben so viele unterschiedliche Datenquellen heutzutage: der Bordcomputer im Auto trackt mein Fahrverhalten. Wie stressig habe ich mich gerade in dieser und jener Situation gefühlt? Wie oft habe ich die Geschwindigkeit übertreten? Gleichzeitig trage ich mein Fitnessarmband, das meinen Puls misst und ich habe mein Handy bei mir, das aufzeichnet wie häufig ich Kontakt zu anderen Leuten habe: seltene Kontakte, häufige Kontakte, wie lange ich mit jemandem telefoniere oder Ähnliches. Wir haben ganz viele Geräte, die alle Daten produzieren. Das Besondere wird die Kombination dieser unterschiedlichen Datenquellen sein. Das wird ganz neue Power hervorrufen! Das finde ich ganz faszinierend, wo da die Reise hingeht!

Eine Sache, an die ich in dem Zusammenhang schon länger denken muss, ist eine Visualisierung all dieser Daten. Gerne auch als eine künstlerische Visualisierung in Zusammenarbeit mit dem  Ars Electronica Festival. In der Psychologie betrachten wir häufig das Individuum. Stellen Sie sich vor, wir statten 500 Leute mit Fitnessarmbändern aus oder 1.000 oder 10.000 in Österreich und tracken diese im Laufe eines Tags oder eines Monats. Es spielen nur gewisse Randdaten eine Rolle, wie Alter, Geschlecht, lebend in der Stadt oder auf dem Land usw. Nicht die Daten der Individuen werden betrachtet, sondern als Gruppe. Während dieser Zeit passieren beispielsweise verschiedene Medienereignisse, wie ein Rücktritt in der Politik, ein Unglück im In- oder Ausland usw. Wir messen im Verlauf den Stresszustand oder den Erregungszustand unserer Bevölkerung und visualisieren das.

Es soll in dieser Darstellung möglich sein hinein zu zoomen, Gruppen zu selektieren und zu vergleichen und das Stresslevel oder die Bewegungsaktivitäten der Bevölkerung zu einem bestimmten Ereignis oder zu einem bestimmten Zeitpunkt zu betrachten: Frauen gegen Männer, Stadt gegen Land, Wien gegen den Rest und so weiter.

Die Besucherinnen und Besucher des Ars Electronica Festivals sollten auch selbst experimentieren können. Mir gefällt die Idee etwas für wissenschaftliche Laien zu visualisieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, Gruppen zu verstehen: Was passiert da jetzt eigentlich? Stellen Sie sich ein Fußballstadion vor. Da bräuchte ich das Spiel gar nicht mehr zu sehen und könnte anhand des Erregungszustands erkennen, wie grad der Verlauf des Spiels ist. Quasi eine Visualisierung des kollektiven psychologischen Zustands. Das wäre so meine Idee! Wir hätten dann eine Art Glücksindex oder Zufriedenheitsindex oder Stressindex für die Bevölkerung.

Professor Dr. Bernad Batinic leitet die im Jahr 2005 gegründete und am Institut für Pädagogik und Psychologie angesiedelte Abteilung für Arbeits-, Organisations- und Medienpsychologie (AOM). Batinic studierte in Gießen Psychologie (1995), promovierte (2001) und habilitierte (2006) sich an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2004 ist er als Universitätsprofessor an der JKU Linz tätig. Er setzt sich seit seinem Psychologiestudium mit Online-Forschung und den Möglichkeiten des Internets zur Erhebung von Daten auseinander. Bereits 1994 führte er eine Online Umfrage im Usenet durch und 1995 veröffentlichte er die erste Anleitung im Internet zur Durchführung von Online Befragungen. Er war Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Online Forschung und ist der erste Forscher im deutschsprachigen Raum gewesen, der im WWW eine Umfrage realisiert hat. Im Themenfeld Arbeits- und Organisationspsychologie forscht Bernad Batinic mit seinem Team insbesondere zu Aspekten der Erwerbsarbeit und Wohlbefinden.

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