Die Bandbreite an Materialien, an Rohstoffen, aus denen wir Menschen immer wieder neue Objekte zusammensetzen, ist noch lange nicht in Stein gemeißelt. Findige IngenieurInnen und ForscherInnen arbeiten weltweit mit Hochdruck daran, neue Materialien mit neuen Eigenschaften und Fähigkeiten zu schaffen. Eines der besten Beispiele dieser interdisziplinären Teams ist die Tangible Media Group am MIT Media Lab in Cambridge, USA. Unter der Leitung des Professors Hiroshi Ishii und seiner Vision der „radikalen Atome“ entstehen in dieser Denkfabrik schon seit über 20 Jahren faszinierende neue Materialien am laufenden Band. Pünktlich zum Ars Electronica Festival 2017 bringt Hiroshi Ishii drei der neuesten Entwicklungen aus Boston mit nach Linz in die bereits seit einem Jahr laufende Ausstellung „RADICAL ATOMS“ im Ars Electronica Center. Prof. Hiroshi Ishii stellt uns im Interview die drei Neuzugänge näher vor.
Professor Ishii, welche neuen Projekte haben Sie uns aus Boston mitgebracht?
Hiroshi Ishii: Wir stellen drei neue Projekte vor – alle fallen in den Bereich RADICAL ATOMS, das Thema des Ars Electronica Festivals im vergangenen Jahr. RADICAL ATOMS ist mittlerweile eine dauerhafte Ausstellung im Ars Electronica Center, die aus zwei Strängen besteht: Shape Display und programmierbare Materialien. Wir zeigen momentan Projekte wie inFORM, die zu der Gruppe der Shape Displays gehören, während Interfaces wie bioLogic, PneUI und jamSheets Teil der programmierbaren Materialien sind. Die drei neuen Projekte, aeroMorph, Cilllia und kintetiX reihen sich hier ebenfalls in die Gruppe der programmierbaren Materialen ein. Es sind sozusagen die Nachfolger in dieser Gruppe.
Wenden wir uns gleich dem ersten Projekt zu – was ist so besonders am Projekt aeroMorph?
Hiroshi Ishii: aeroMorph untersucht, wie man aufblasbare Origami-Strukturen mit verschiedenen Materialien schafft. Es ist ein perfektes Beispiel für „Soft Robotics“, für sanfte Robotik – eine wichtige und große neue Bewegung in der Robotik und ein Bereich, in dem wir sehr viel dazugelernt haben. Es ist eine Art organisch-inspirierter Zugang und damit ein starker Kontrast zu den soliden, mechanischen, harten Robotern mit ihrer geringen oder kaum vorhandenen Flexibilität. Vielleicht haben Sie vor kurzem den „weichen“ Roboter gesehen, der die Bewegungen eines Oktopus nachahmt. Das ist ein Paradigmenwechsel, der eine neue Architektur der Robotik schafft und uns dadurch inspiriert hat. Darüber hinaus kommt beim Projekt aeroMorph noch das alte Kunsthandwerk des Origami hinzu. Natürlich ist Origami ein traditionelles Handwerk aus Japan und viele MathematikerInnen und WissenschaftlerInnen sind fasziniert von dieser Kunst. Prof. Erik Demaine zum Beispiel, ein sehr berühmter Professor am MIT, beschäftigt sich mit Origami. Aus dieser Kunst können sich große Möglichkeiten entfalten. Mit aeroMorph wird ein universeller Biegemechanismus vorgestellt, der programmierbares, formveränderndes Verhalten in Papier, Plastik und Textilien ermöglicht. Bei aeroMorph dreht sich alles um digitale Fabrikation und Computersimulation, was sehr wichtig ist, weil verschiedene Materialien sehr komplexe Verhaltensweisen an den Tag legen. Es ist sehr schwierig, sie strukturell so zu designen, um die gewünschte Bewegung hervorzurufen. aeroMorph trägt dazu bei, unseren Traum der RADICAL ATOMS zu verwirklichen.
Das nächste Projekt, „Cilllia“, lässt bisher komplizierte Strukturen wie Haare und Felle aus dem 3-D-Drucker entstehen, aber das ist nicht alles, was „Cilllia“ kann…
Hiroshi Ishii: Cilllia ist eine Herangehensweise, wie man dichte Haarstrukturen mittels 3D-Druck nachstellen kann. Es ist eine technische Lösung und eine Design-Innovation für zukünftiges, synthetisches Fell. Dieses Forschungsprojekt geht aber über die Herstellung hinaus. Mittels Vibration kann man ein Objekt auf der Oberfläche von Cilllia bewegen. Es ist aber nicht nur ein Antrieb, es kann auch ein Sensor sein! Wenn Menschen oder Objekte das Material berühren, kann Cilllia durch das Geräuschmuster dies auch „spüren“. Vibration ist überall. Wenn ein Zug in einen Bahnhof ein- oder ein Auto am Ars Electronica Center vorbeifährt, werden diese Vibrationen hörbar – wenn wir hinhören! – aber auch sichtbar durch kinetische Bewegung wie bei Windrädern. Cilllia hat optisch eine sehr einzigartige Funktion, aber auch einige physikalische Aspekte der Wärme für Kleidung. Es bringt eine Menge an Möglichkeiten für die Zukunft mit.
Credit: Jifei Ou, Tangible Media Group, MIT Media Lab
Das Projekt kinetiX wendet sich Objekten zu, die auf komplizierte Formveränderungen aufbauen…
Hiroshi Ishii: Ja, kinetiX ist etwas komplett Neuartiges. Es sind einzigartige, neue Materialien, die am Computer gestaltet, gedruckt und produziert werden können. KinetiX führt ein zellbasiertes Materialdesign ein, das entweder aus rigiden Platten und Stäbchen oder elastischen Gelenken besteht. Unterschiedliche Kombinationen dieser Elemente führen zu einer Vielzahl an formverändernden Möglichkeiten. Es ist eine sehr fortgeschrittene Methode des Gestaltens – für den Maschinenbau, Autodesign und -bau und vieles mehr. KinetiX würde neue digitale und physische Formen ermöglichen, genauso wie Materialien, die ihren Härtegrad verändern und unsere Vision der RADICAL ATOMS weitertreibt.
„Plastik gab ProduktdesignerInnen die unendliche Flexibilität, unterschiedlichste Formen zu kreieren. Das Digitale gab uns die unendliche Freiheit des dynamischen, pixelbasierten Ausdrucks. RADICAL ATOMS wie kinetiX würde Auswirkungen von ähnlicher Größe in den kommenden Jahrzehnten haben!“
Sie beschäftigen sich tagtäglich mit neuen programmierbaren Materialien – erkennen Sie derzeit einen Trend?
Hiroshi Ishii: Additive 3-D-Drucktechnologien hatten signifikante Auswirkungen; Computermodellierung und Simulationstechnologien auch. Die Herausforderung, vor der wir jetzt stehen, ist es, neue und verlockende Anwendungen zu erfinden. Man könnte sie fast „Killer Apps“ nennen. Noch wichtiger ist es allerdings, die Menschen sehen zu lassen, dass Materialien nicht unbedingt erstarrt, rigide und hart sein müssen. Wenn man eine Vision und Ideen hat, kann man sie tanzen, singen und spielen lassen.
Welchen Ratschlag haben Sie für KünstlerInnen, die sich ebenso auf die Suche nach neuen Materialien begeben wollen?
Hiroshi Ishii: Male nicht mit dem Pinsel und Farben von anderen. Forme nicht mit Ton, der dir von anderen in die Hand gegeben wird. Erfinde neue Materialien und Werkzeuge für deinen eigenen Ausdruck. Um das zu tun, höre auf, KonsumentIn von Grafiksoftware großer Firmen oder von Werkzeugen zu sein, die dir deine Eltern gegeben haben. Sprich Wissenschaft, Technologie und Design wie eine Sprache, um neue Materialien für den künstlerischen Ausdruck zu schaffen. Genau darum geht es uns, wenn wir RADICAL ATOMS schaffen.
Machen Sie sich selbst ein Bild von den neuen Materialien der Tangible Media Group des MIT und besuchen Sie die Ausstellung „RADICAL ATOMS“ ab 7. September 2017 im Ars Electronica Center, die auch noch nach dem Ars Electronica Festival 2017 zu sehen ist. Darüber hinaus wird Prof. Hiroshi Ishii im Rahmen des Symposiums „Art & Science: From Vision to Practice“ am 10. September 2017, 10:00, beim Ars Electronica Festival 2017 in der POSTCITY einen Vortrag halten.
Hiroshi Ishii (JP/US) ist Jerome-B.-Wiesner-Professor of Media Arts and Sciences am MIT Media Lab, Co-Direktor des Things That Think (TTT) consortium und Leiter der Tangible Media Group, die er mit der Vision einer neuen Interaktion von Mensch und Computer gegründet hat: „Tangible Bits” and „Radical Atoms.” Diese Vision haben er und sein Team an einer ganzen Reihe von Institutionen für Wissenschaft, Kunst und Industriedesign vorgestellt, darunter ACM SIGCHI, ACM SIGGRAPH, Cannes Lions Festival, Aspen Ideas Festival, Industrial Design Society of America, AIGA, Ars Electronica, Centre Pompidou und Victoria and Albert Museum. 2006 wurde Ishii von ACM SIGCHI an die CHI Academy berufen. In den Jahren vor seiner Tätigkeit am MIT Media Lab leitete Ishii eine Forschergruppe am NTT Human Interface Laboratories Japan, wo sein Team die TeamWorkStation und das ClearBoard erfand.