In den letzten beiden Stunden der Jurysitzung geht es zur Sache. In raschem Tempo werden Inhalte, Vorzüge und Schwächen der Projekte in der Endausscheidung abgewogen, Thematik mit Zeitgeist abgeglichen, der Grundgedanke der STARTS-Initiative immer wieder mit den Einreichungen gegengecheckt. Lieber groß denken oder kleine Schritt-für-Schritt-Projekte vorziehen? Wie viele Frauen sind in den Projekten dabei? Immer wieder der Blick auf die Uhr und die Frage: Abstimmung oder mehr Diskussion? Und plötzlich heißt es Abstimmung und Sekunden später sind die GewinnerInnen der ersten Kategorie gewählt. Es ist ein bisschen wie eine erzählerische Klimax, die sich langsam aufbaut und mit einem lauten Knall gelöst wird.
In diesem Beitrag werden die Siegerprojekte übrigens noch nicht verlautbart – das geschieht am 20. Mai in einer Pressekonferenz. Über die Juryberatungen, Stimmung, Einreichungen und Trends sowie die Wichtigkeit genau dieser beiden Kategorien haben wir mit Daehyung Lee gesprochen. Er ist südkoreanischer Kunstkritiker und Kurator, um den man in der koreanischen Kunstwelt nur schwer herumkommt.
Credit: vog.photo
Wie läuft die Jurysitzung?
Daehyung Lee: Ich war schon an vielen Jurys beteiligt, vor allem im Bereich Zeitgenössische Kunst und der Prozess ist stets ein spannender. Man trifft auf Kolleginnen und Kollegen und tauscht sich aus, gleichzeitig gibt es diese große Breite an Einreichungen. Wir haben 30 Nominierungen, zwischen denen es nun zu entscheiden gilt.
Was wirklich schade ist: Ich hoffe immer wieder auf tolle, starke Einreichungen aus Korea, aber bisher hab ich noch keine gefunden. Vielleicht ist das Bildungssystem dort noch nicht soweit. Zeitgenössische Kunst wird unterrichtet und Ingenieure werden ausgebildet, aber es gibt keine Verbindung zwischen ihnen. Die interdisziplinären Ansätze gehören unbedingt intensiviert.
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Ihr seht im Laufe des Juryprozesses ja sehr viele Einreichungen. Was sind dieses Jahr die Trends?
Daehyung Lee: Letztes Jahr gab es sehr viele Einreichungen zu Plastik und zum Leben in den Meeren. Diese sind zurückgegangen, dieses Jahr geht es mehr um den Boden, Bakterien, Kryptowährungen, Überwachung, die dunkle Seite der Künstlichen Intelligenz. Wichtig sind auch biotechnologische Aspekte und die Entwicklung neuer Materialien.
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Worin siehst du das Potential der beiden Kategorien? Artistic Exploration und Innovative Collaboration?
Daehyung Lee: Die Geschwindigkeit der Technologie, die Komplexität der Gesellschaft und die Ungewissheit der Zukunft sind die schwierigen Grundgegebenheiten unserer Zeit. Das kann nicht von einer Person, einer Nation, einer Firma gelöst werden. Wir müssen zusammenarbeiten. Wir müssen die Probleme aus unterschiedlichen Winkeln betrachten, von differierenden Standpunkten, durch verschiedene Menschen, Disziplinen und Technologien. Dabei gehören auch die unterschiedlichen historischen und kulturellen Backgrounds berücksichtigt. Und genau deshalb, aus all diesen Gründen wird Zusammenarbeit das Schlüsselwort unserer Zeit sein, um eine bessere Zukunft zu gestalten.
Bezüglich Artistic Exploration: Sobald wir auf den fahrenden Zug eines beliebigen Megatrends aufspringen, neigen wir zu Anpassung und gleichförmigem Verhalten. Viele Komponenten unserer Welt sind in sich geschlossene Systeme, konzeptionell und physisch. Wirtschaft und Territorium etwa. Genau deshalb brauchen wir Künstlerinnen und Künstler, die Rolle und Habitus der Technologie umlenken. Künstlerische Erklärungen sind wirklich wichtig, sie fordern veraltete Ansichten heraus und erweitern die Grenzen des Denkbaren. Wissenschaftliche oder technologische Aspekte können die Grundlage bilden, aber es ist immens wichtig, die Vorstellungskraft von KünstlerInnen zu berücksichtigen. Künstlerische Ideen können sowohl als Quelle von Inspiration als auch für Achtsamkeit dienen.
Und hier schließt sich der Kreis: Die Grenzen müssen ausgeweitet werden, völlig verschiedene Dinge müssen gemeinsam gedacht werden und zueinander finden, ansonsten ist wahre Zusammenarbeit unmöglich. Innovative Zusammenarbeit und künstlerische Entdeckungen befinden sich in einem symbiotischen Verhältnis und sind ohneeinander nicht möglich.
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S+T+ARTS = Science, technology, arts; also Wissenschaft, Technologie und Kunst. Was ist so spannend gerade an dieser Kombination?
Daehyung Lee: Die Vergangenheit lehrt uns, dass es neue Herangehensweisen braucht. Für die Zukunft sind drei Perspektiven, drei Typen essentiell. Es braucht zum einen PolitikerInnen und AkteurInnen, die Daten sammeln und auswerten. Sie stehen für die Vergangenheit. Zum anderen braucht es WissenschaftlerInnen, die Algorithmen und Logik entwickeln. Sie repräsentieren die Gegenwart. Und KünstlerInnen, die sich etwas aus dem Nichts heraus vorstellen und uns dies auch vermitteln können. Der Einfluss der Künste ist also unsere Zukunft!
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STARTS ist eine Initiative der Europäischen Kommission, mit der Technologie und künstlerische Praxis bestmöglich verbunden und zum Gewinn für die europäische Innovationspolitik als auch die Kunstwelt werden sollen. Im Mittelpunkt stehen Menschen und Projekte, die dazu beitragen, Europas soziale, ökologische und ökonomische Herausforderungen meistern zu können. Informationen zur Jury finden Sie hier.
Kunstkritiker, Kurator und von Forbes Korea zum POWER LEADER 2012 ernannt, kuratiert seit 17 Jahren zeitgenössische asiatische Kunst. 2009 kuratierte er die Korean Eye Moon Generation und bis 2012 ihre nomadische Ausstellung in der Saatchi Gallery in London. Derzeit leitet er das ARTLAB von Hyundai Motor und dessen globalen Kunstpartnerschaften, zu denen die Hyundai Motor Series von MMCA, die Hyundai Commission von Tate Modern, LACMAs The Hyundai Project und Bloomberg Brilliant Ideas gehören. Zuletzt kuratierte er „Counterbalance: The Stone and the Mountain“ im koreanischen Pavillon der La Biennale di Venezia 2017 und die Max Mara Coats! Seoul im Jahr 2017. Er hält einen MA in Curatorial Studies der Columbia University, New York, und war Berater für den interdisziplinären Spielplatz ZER01NE(2018), die Gwangju Biennale(2016), die Busan Biennale(2014) und die Cheongju Craft Biennale(2013).
This project has received funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under grant agreement No 732019. This publication (communication) reflects the views only of the author, and the European Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.