Rebecca Merlic, die gestern im Ars Electronica Center den Marianne.von.Willemer.2020 Preis für digitale Medien verliehen bekam und bereits am Ars Electronica Festival 2020 vertreten war, hat die Privatwohnung abgeschafft: Nach ihrer Studienzeit in Tokio beschließt sie, dass Leben, Arbeiten, Wohnen und Essen auch im öffentlichen Raum stattfinden kann. Als junge, weiße, heterosexuelle junge Frau braucht sie in Zukunft keine privaten Räume mehr, sie macht sich die Stadt zu eigen. Es ist alles da, was sie braucht: Ramen-Shops zum Essen, öffentliche Bäder, um sich zu waschen und zu entspannen, gemeinsam mit anderen Menschen, Capsules oder Stundenhotels, in denen man günstig schlafen kann und Plätze mit W-Lan und ohne Konsumzwang, wo man sich aufhalten kann.
Die Erfahrungen, die sie in diesen zwei Monaten in Tokio gemacht hat, sammelt sie mit ihrem Smartphone, sie erhebt Daten über ihren Gesundheitszustand, über ihren Standort, fertigt 3D-Scans und Bilder von sich selbst an und schreibt Tagebuch. Daraus entsteht das Werk „TheCityAsAHouse“, ein „Visual Novel“, der mit der OpenSource Game Engine Unity erstellt wurde, um dem menschlichen Benutzer*in einen digitalen Raum zu eröffnen, in dem er oder sie die geschaffenen Erfahrungen noch einmal erleben und neue Räume erschließen kann. Wir wollten mehr über dieses möglicherweise zukunftsweisende Projekt erfahren und haben mit der Künstlerin über den Verlust von Sicherheit, das Konzept Zuhause und Pläne für die Zukunft gesprochen.
Was verbindest du mit der Person Marianne von Willemer und was bedeutet es für dich, einen Preis zu bekommen, der ihren Namen trägt?
Rebecca Merlic: Ich habe nach der Ausschreibung ein bisschen zu ihrer Person recherchiert und finde ihre Geschichte sehr tragisch. Sie wurde relativ jung verheiratet, ihr Schaffen wurde nicht anerkannt beziehungsweise den Erfolg haben andere an ihrer Stelle für sich verbucht. Es hat mich überrascht, welche Rolle sie in der Literatur hatte, weil sie nie dafür gewürdigt wurde.
Wie kam es zu dem Werk „TheCityAsAHouse“? Welcher Gedanke stand am Anfang dieses spannenden Projekts, welche Überlegungen hast du angestellt, bevor du dieses Experiment, nennen wir es mal so, gestartet hast?
Rebecca Merlic: Einerseits haben mich meine Begegnungen mit jungen japanischen Frauen inspiriert, die teilweise auch schon so leben – nicht so geblockt, wie ich das gemacht habe, aber ein bis zwei Mal in der Woche. An diesen Tagen kehren sie nicht ins Elternhaus zurück, sie mieten sich etwas in der Stadt, bleiben dort über Nacht, weil sie sich da nicht erklären müssen und viel freier sind. Andererseits meine eigene Wohnsituation – ich bin sehr oft umgezogen, als ich in Tokio studiert habe, weil es sehr schwierig ist, gerade für Ausländer*innen, Wohnungen zu mieten. Da habe ich gemerkt, dass ich 1000 Euro für eine Wohnung bezahle, in der ich nur 6 Stunden schlafe, weil sonst alles nach außen, in den öffentlichen Raum, verlagert ist.
„Junge Frauen in Japan leben teilweise schon so (…). Sie mieten sich ein bis zwei Mal in der Woche ein Zimmer in der Stadt, kehren nicht ins Elternhaus zurück, weil sie sich da nicht erklären müssen und viel freier sind.“
Was bedeutet für dich Zuhause, das Konzept Zuhause?
Rebecca Merlic: Dadurch, dass ich mit kroatischen Wurzeln in Deutschland aufgewachsen bin und relativ oft umgezogen bin als Kind, gibt es für mich kein fixes Zuhause. Durch meinen ungefestigteren Lebensstil als Kind, was es für mich wahrscheinlich auch leichter, dieses „Zuhause“ aufzugeben und nach den Funktionen im städtischen Kontext zu suchen. Wenn man es abstrahiert, das Zuhause auf gewisse Funktionen reduziert, findet man überall ein Zuhause.
Diese „eigenen vier Wände“ bieten den meisten Menschen ja auch sehr viel Sicherheit. Womit ersetzt man diese Sicherheit, wenn man alles über Bord schmeißt?
Rebecca Merlic: Es ist ja eigentlich alles nur eine Fiktion: Wenn man sich eine Wohnung mietet, kann man sie auch in ihre Funktionen aufschlüsseln, man kann den Wert pro Tag berechnen. Selbst wenn man ein Haus kauft, auf Kredit, ist es eine Fiktion von Besitz, die man vielleicht nie abbezahlt. 6 Tage die Woche ist es ein befreiendes Gefühl, an diesen Tagen braucht man die Sicherheit nicht, weil man sich freier fühlt. An einem Tag, aufgrund meiner Erziehung, auch wenn dieser Tag in Japan keine Bedeutung hat, war das der Sonntag. An diesem Tag wollte ich mich mit emotionalen Gegenständen umgeben zu denen ich oder andere Personen eine emotionale Bindung haben. Das macht glaube ich ein Zuhause aus: Es ist ein Archiv eines Lebens, das man angesammelt hat. Man könnte solche Archive produzieren, um diesen Gedanken zu ersetzen.
Bist du an dieselben Orte zurückgekehrt, hast du in denselben Capsules geschlafen, in denselben Restaurants gegessen?
Rebecca Merlic: Ja, manchmal ja. Wenn ich Interaktionen mit Personen hatte. Also in dem Ramen-Shop, in dem ich öfter war, wurde das Essen vom Besitzer gekocht, die Kapazitäten waren sehr klein, es war also sehr persönlich und familiär. Teilweise habe ich durch sprachliche Barrieren Beziehungen aufgebaut, die sehr nett waren, dann bin ich schon mal durch die halbe Stadt gefahren, um wieder dort zu essen.
Man schafft sich also Muster?
Rebecca Merlic: Ja, zwar immer mal wieder unterbrochen, abhängig vom Wochentag usw. Am Wochenende bin ich teilweise aufs Land gefahren, weil sich die Mieten für die Übernachtungen täglich anpassen. Sie orientieren sich am Markt, deshalb kann dieselbe Kapsel mal 25, mal 100 Euro pro Nacht kosten. An den Wochenenden bin ich also oft aufs Land gefahren oder habe bei Freund*innen übernachtet.
Wie lebst du jetzt und kannst du dir vorstellen, auf Dauer so zu leben?
Rebecca Merlic: Das kann ich mir sehr gut vorstellen und manchmal vermisse ich es auch! Ich lebe jetzt mit meinem Partner zusammen, wechsle jedoch oft mein Atelier, miete mir einen Raum, in dem ich auch übernachten kann, um nicht immer an denselben Ort zurückzukehren. Es bedeutet für mich eine gewisse Freiheit und Inspiration. Ich würde das gleiche auch gerne in Wien probieren, aber ich befürchte, dass es sehr einseitig wäre, weil es nicht so viele verschiedene Möglichkeiten gibt.
Das wäre meine nächste Frage gewesen, was Tokio von einer Stadt wie Wien oder Linz unterscheidet?
Rebecca Merlic: Dort gibt es Orte, die ich deklariert habe als Küche, als Schlafzimmer, als Badezimmer-Erweiterung. Es ging nie um Obdachlosigkeit, weil ich mich nie trauen würde, etwas über dieses Gefühl zu sagen. Es ging eher darum, einen freien, hedonistischen Lebensstil zu führen und den kapitalistischen Lebensstil, der dort noch viel stärker ausgeprägt ist als in Europa, umzunutzen. Ich habe zum Beispiel viel Zeit auch in Supermärkten verbracht, dort gearbeitet, es gab Internet und eine Toilette und man musste nichts konsumieren. Das ist bei uns schwieriger – bei uns gibt es wenig Orte, die Konsum anbieten, aber ihn nicht einfordern.
…aber trotzdem nutzen nur wenige diese Orte so, wie du sie genutzt hast?
Rebecca Merlic: Ich glaube schon, teilweise schon. Manche Orte nicht, aber ich glaube, dass es in Tokio keinen öffentlichen Raum mehr gibt, sondern dass es umgekehrt ist, dass der private Raum im öffentlichen Raum ist.
Abschließend gefragt: Gibt’s Folgegedanken, ein Anschlussprojekt, das du geplant hast?
Rebecca Merlic: Ich möchte gerne dorthin zurückkehren und zu sehen, wie es unter Coronabedingungen möglich wäre. Derzeit ist es noch nicht möglich, einzureisen, aber im Jänner hoffe ich, dass es möglich sein wird.
Rebecca Merlic, *1989 in Deutschland, Rückzugsmöglichkeiten in Tokio, München und Wien. Sie schloss kürzlich ihr Studium an der Akademie der Bildenden Künste, wo sie bei Wolfgang Tschapeller, Francois Roché und Michael Hannsmeyer studierte, mit Auszeichnung ab. In ihrem Studium spezialisierte sie sich auf analoge und digitale Kunst sowie auf Architektur. Ihre Arbeit ist stark von alternativen Gesellschaftsformen und der Ãœberschreitung sozioökonomischer Konventionen sowie von neuen Formen der Architekturproduktion unter Einsatz neuer Technologien geprägt. Während ihres Masterstudiums konnte sie am Astushi KITAGAWARA Lab an der Tokyo University of the Arts GEIDAI studieren. Sie ist Preisträgerin des Marianne-von-Willemer-Preises 2020 für digitale Medien und Stipendiatin des Leistungsstipendiums der Stadt Wien. Gegenwärtig arbeitet sie mit Lead Artist Rashin Fahandej bei American Arts Incubator – Austria zum Thema soziale Eingliederung. Ihre Arbeit ist auch bei ADAF Athens Digital Arts 2020 in Griechenland zu sehen.
Der Marianne.von.Willemer Preis wird jährlich von der Stadt Linz ausschließlich an Künstlerinnen vergeben. Nächstes Jahr wird der Preis in der Kategorie Literatur ausgeschrieben, 2022 wieder für Digitale Medien. Hier erfährst du mehr darüber und wie du dich selbst bewerben kannst.