Wer war Isao Tomita?

Isao Tomita, Credit: Keishi Miura

Das Interview ist auch in Japanisch und Englisch verfügbar.

Wie so oft in dieser Zeit treffen wir uns mit unseren Gesprächspartnern virtuell, per Videochat. Verbunden sind wir mit Naohiro Ukawa, japanischer Künstler und Gründer von DOMMUNE, einer Plattform, die im Jahr 2010 als erstes Live-Streaming-Studio in Japan eröffnet hat, und Gerfried Stocker, dem künstlerischen Leiter der Ars Electronica. Und obwohl beide tausende Kilometer voneinander entfernt – bedingt durch die weltweite Pandemie – in ihren Homeoffices sitzen, vereint sie doch ein zentrales Thema: Die Faszination über Isao Tomita.

Gemeinsam mit dem TOMITA information Hub hat der Prix Ars Electronica den Isao Tomita Spezialpreis ins Leben gerufen, um Musiker*innen und Soundkünstler*innen mit einem Preisgeld von 5.000 Euro und einer Performance beim Ars Electronica Festival in ihrer Arbeit zu unterstützen. Was Isao Tomita so auszeichnet, und was wir alle von dem im Jahr 2016 verstorbenen Pionier der elektronischen Musik lernen können, wie wir damit umgehen können, wenn künstliche Intelligenz das kreative Musikschaffen verändern wird, und welche Rolle die Natur dabei spielt, dazu mehr im folgenden Interview.


Naohiro Ukawa und Gerfried Stocker

Vielleicht beginnen wir am besten mit dieser Frage: Wann hast du zum ersten Mal von Isao Tomita gehört?

Naohiro Ukawa: Das war in der ersten Klasse der Junior High School. Es war die Zeit des Techno-Pop-Booms Anfang der 1980er Jahre, und Japan bewegte sich vom hohen Wirtschaftswachstum in Richtung Bubble Economy. In diesen boomenden Zeiten wurde ich auf die Synthesizer-Musik von YMO (Yellow Magic Orchestra) aufmerksam. Die Elektropop-Gruppe wurde 1979 gegründet, war eine von mehreren Techno-Pop-Bands, die zu dieser Zeit entstanden sind, und kam mit ihrer Musik damals bis in die japanischen Top-10-Song-Charts. Das war ein regelrechter Schock in der japanischen Musikszene, als Synthesizer-Musik, noch dazu ohne Songtext, neben Rock, Pop und Volksmusik in den Charts auftauchte.

„Rydeen“ war der große Musik-Hit von YMO zu dieser Zeit, die Band wurde bundesweit bekannt, zog auch Schulkinder in den Bann und lösten damit den Synthesizer-Boom aus. Ich war in der vierten Klasse der Grundschule und zu dieser Zeit damals haben wir Kinder all die modernen Autos mit hoher Geschwindigkeit bewundert… Lamborghinis, Ferraris und Maseratis waren da sehr angesagt, oder aber auch Ultraman und andere Superhelden. Durch diese Objekte der Bewunderung entstand eine eigene Modeerscheinung: Der Supercar-Boom. Ich hatte nicht einmal einen Führerschein (*lacht*). So wie Supercars konnten wir Schüler*innen uns natürlich auch keine Moog-Synthesizer leisten. YMO hat diese Bewegung angeführt und deren unterstützendes Mitglied Hideki Matsutake hat damals den Synthesizer bedient – und das hat er sich ursprünglich von Isao Tomita angeeignet, als er zuvor in den 1970er Jahren sein Assistent war.

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Die 1970er Jahre waren auch die Zeit, als Isao Tomita elektronische Musik in die Öffentlichkeit brachte…

Naohiro Ukawa: Isao Tomita war in der gleichen Klasse wie Asei Kobayashi – ein berühmter japanischer Komponist -, als er in der High School war, und von da an studierte er Komposition, und an der Keio Universität studierte er Musiktheorie. Als er in Osaka war, um Musik für den Toshiba IHI Pavillon auf der Osaka Expo 1970 aufzunehmen, ging er in einen Plattenladen und wurde auf „Switched-On Bach“ von Walter Carlos (Wendy Carlos) aufmerksam und begann sich für Synthesizer zu interessieren.

Nachdem Isao Tomita seine Arbeit auf der Expo beendet hatte, kaufte er sich den Moog III-P Synthesizer – ein riesiges Gerät, das damals mehr als 10 Millionen Yen kostete. Vielleicht kennst du die Anekdote, dass dieses riesige elektronische Musikinstrument ohne Tasten beim Import aus den USA nach Japan lange Zeit im Zoll festgesteckt ist, weil es anfangs fälschlicherweise für eine militärische Ausrüstung gehalten wurde. Schließlich zeigte er den Zollbeamten ein Foto von Keith Emerson, der auf der Bühne spielte, und sie gaben den Moog III-P Synthesizer frei…

Er hat sich den Moog III-P Synthesizer dann zuhause aufgestellt und da es keine Handbücher dazu gab, verbrachte er viel Zeit damit, Klänge daraus zu erzeugen. Am Anfang hatte er auch Zweifel, ob das nicht eine reine Geldverschwendung war. Aber nach einem Jahr und vier Monaten Arbeit landete er mit dem Album „Snowflakes are Dancing“ einen Riesenhit – aber auch nur deshalb, weil sich das amerikanische Plattenlabel ihm einen Vertrag gab und es dann veröffentlichte. Er ging zuvor zu mehreren japanischen Plattenfirmen, alle lehnten ab, weil niemand wusste, welches Musikgenre das war und in welches Regal des Plattenladens man die Scheibe einsortieren sollte. Aber es erreichte Platz 2 der Billboard Classical Charts und wurde schließlich auch für die Grammys nominiert. Das war ein langer Trial-and-Error-Prozess, aber Isao Tomita hat den Produktionsstil mit Synthesizern kreiert und so auch an Hideki Matsutake weitergegeben, der YMO unterstützte.

Und später hast du dann Isao Tomita auch persönlich kennengelernt…

Naohiro Ukawa: Ja genau, nach meiner Gründung von DOMMUNE konnte ich Isao Tomita im Jahr 2010 persönlich kennenlernen. Wir haben uns seitdem in den letzten Jahren seines Lebens Dutzende Male getroffen und über viele Themen ausführlich gesprochen, wir haben zusammen Live-Performances organisiert, gemeinsam Plattencovers entworfen, viel gemailt und viele Ideen miteinander ausgetauscht. Nach seinem Tod im Jahr 2016 haben wir schließlich auf DOMMUNE im Gedenken an Isao Tomita einen 24-Stunden-Livestream veranstaltet.

Die gleiche Einstiegsfrage an dich Gerfried, wann hast du zum ersten Mal von Isao Tomita gehört?

Gerfried Stocker: Nun, eigentlich erinnere ich mich sehr gut daran, als ich 1978 das erste Mal Musik von Isao Tomita gehört habe. Es war eine der allerersten Erfahrungen als Teenager mit einem anderen Universum, als ich in einem eher kleinen Dorf auf dem Land aufwuchs und ein Freund, der natürlich viel älter war als ich, mit dieser Platte von Isao Tomita vorbeigekommen ist und wir klassische Musik gespielt auf einem Synthesizer hörten.

Das war für mich eine wirklich aufregende Erfahrung – es war nicht nur eine völlig neue Art, die Möglichkeiten von Technologie und Elektronik zu erweitern, sondern eine meiner ersten ernsthaften Begegnungen mit klassischer Musik. Zu hören, wie Isao Tomita das ganze Orchester nur mit Synthesizern interpretierte, ermutigte mich auch, viel tiefer zu ergründen, was klassische Musik eigentlich bedeutet. Das ist eine der ganz großen Errungenschaften von Isao Tomita – zwei Universen zu öffnen und sie miteinander zu verbinden!

Es ist unglaublich wichtig, diese enorme Leistung aus unserer heutigen Perspektive zu verstehen. Wir können heute alle verschiedenen Klänge, die wir uns vorstellen können, erzeugen, und es ist unmöglich zu erkennen, welcher Klang von einem echten Instrument und welcher von einem Synthesizer kommt. Jeder, der diese Zeit miterlebt hat, weiß, was für eine mühsame Arbeit es war, mit den modularen Synthesizern all die Klänge zu produzieren, aufzunehmen und live aufzuführen. Mit seinem hohen Qualitätsniveau forderte Isao Tomita die Ingenieur*innen und die Leute, die diese Technologie produzierten, wirklich heraus und ging bis an die Grenzen dieser Technologie und darüber hinaus.

Ich denke, dass seine unglaubliche Arbeit mit klassischer Musik, mit Debussy, mit Strawinsky und später mit Holsts „The Planets“ auch ein sehr wichtiger Schritt war… eine Errungenschaft, die dazu beigetragen hat, die elektronische Musik zu befreien. Es brauchte jemanden wie Isao Tomita, der sagte: „Okay, das ist es, was wir mit Synthesizern machen können, also fragt uns nicht mehr, ob das ein echtes Instrument ist oder nicht. Schaut her, wir können damit alles machen, was wir wollen.“ Isao Tomita hat den Synthesizer, der zuvor nur den Ingenieur*innen und Techniker*innen gehörte, auf ein neues Niveau gehoben.

Isao Tomita hat nicht nur versucht, andere Instrumente zu imitieren, sondern auch völlig neue Klänge geschaffen…

Gerfried Stocker: Imitieren, das ist die eine Sache, das ist extrem harte Arbeit. Und indem man versucht, zu imitieren, kommt man automatisch von diesem Weg ab. Das ist ein Weg, wie man Möglichkeiten erkunden kann und automatisch geht man dann den nächsten Schritt. Wir müssen sehr vorsichtig sein mit diesem Wort des „Imitierens“. Ich denke, der wichtige Punkt ist, dass man sich für die Welt jenseits des klassischen Instrumentenklangs öffnet. Und wenn man dann darüber hinaus ist, kann man wirklich anfangen, kreativ zu sein.

Bei Isao Tomita darf man nicht vergessen, dass er eine sehr traditionelle klassische Musikausbildung hatte und dann Meisterstücke kreierte, indem er klassische Musik in den Synthesizer brachte. Wie Ukawa schon sagte, hat er damit die Generationen von Künstler*innen und Musiker*innen nicht nur in Japan stark beeinflusst. Er hat sie ermutigt, ihren Weg zu gehen, und er hat ihnen wirklich gezeigt und bewiesen, dass man über die Grenzen hinausgehen kann und dass dies der Weg ist, den man gehen muss.

Stimmt das auch mit deiner Sicht über Isao Tomita überein?

Naohiro Ukawa: Er war nicht nur der Pionier der echten Synthesizer-Musik, sondern er war auch der erste Künstler, der sich so ein neuartiges und teures Instrument gekauft hat und sich die Zeit nahm, persönlich damit zu arbeiten. Kurzum, er ist der Pionier der Desktop-Musik. Davor gab es in Japan ein Studio für experimentelle Musikkomposition bei Rundfunkanstalt NHK, wo Komponist*innen und Ingenieur*innen zusammenarbeiteten, um Musik zu entwickeln. Aber Isao Tomita holte sich seinen Moog III-P ins eigene Musikstudio, wo er auch die meiste Zeit verbrachte und oft nicht zuhause sondern im Studio auf einer Hängematte schlief. So arbeitete er drei Jahre lang, bis er sein Album für „Pictures at an Exhibition“ fertig hatte.

„Isao Tomita hat Musik geschaffen, die sich völlig von den damals bestehenden Strukturen unterschied. Man dachte, Synthesizer würden nur lineare Musik erzeugen, aber er brachte Tiefe, genauer gesagt, Farbe in diese Musik. Wenn er über Synthesizer sprach, verwendete er dabei oft die Analogie einer Farbpalette, wo man aus mehreren Farben eine neue mischen konnte. Das Modul-Patching war für ihn wie das Erschaffen eines Gemäldes aus einer Farbpalette.“


Ars Electronica 1984 – Isao Tomita bei der Klangwolke, Credits: Andreas Fleiß, Sepp Schaffler

Isao Tomita war ja auch mehrmals in Linz und hat vor allem 1984 mit seiner spektakulären Performance bei der Klangwolke die Menschen begeistert…

Gerfried Stocker: Ukawa hat ja bereits erwähnt, dass er bei der Osaka Expo 1970 die Musik für den Toshiba-IHI-Pavillon erschaffen hat. Damals wurde dort die neueste High-End-Musiktechnologie präsentiert und alles drehte sich nun um Surround-Sound und um Klänge, die sich im Raum bewegen. Sein SoundCloud-Projekt begann er in Linz und stellte all seine Kollegen vor eine sehr große Herausforderung: Er wollte große Soundsysteme auf Booten, die auf der Donau vor dem Publikum auf und ab fuhren, er ließ Lautsprecher auf einen Hubschrauber hängen, der über der Stadt und den 100.000 Zuseher*innen kreiste, und er selbst schwebte mit seinem Synthesizer in einer riesigen Glaspyramide, die auf einem Kran befestigt war.

Ich war noch zu jung, um das Spektakel selbst mitzuerleben, aber ich habe später viele Leute kennengelernt, die mit ihm daran gearbeitet haben… Ingenieure, Tontechniker, Leute, die sich um die Genehmigungen für all diese Dinge gekümmert haben. Und alle haben gesagt: „Oh mein Gott, das war so ein Kopfzerbrechen, aber es war eine der besten Erfahrungen meines Lebens!“. Und genau das ist ein großartiges Beispiel dafür, was Kunst und Künstler*innen tun können und müssen: Die Grenzen verschieben, uns herausfordern, voranzugehen. Isao Tomita hat viele Menschen und Künstler*innen beeinflusst, nicht nur durch seine Kunst selbst, sondern vielleicht sogar mehr durch seine Arbeitsweise.


Isao Tomita in Linz 1984, Credit: Keishi Miura

Was Isao Tomita so perfekt gemacht hat, ist, aus den Konzertsälen herauszugehen und den öffentlichen Raum zu betreten. Heutzutage sind wir an riesige Open-Air-Spektakel mit Lasern und sogar Tausenden von Drohnen, die am Himmel schweben, völlig gewöhnt. Aber man muss sich das in der Zeit der frühen 1980er Jahre vorstellen! So ein Event in den öffentlichen Raum zu bringen, das war fast wie eine Mission zum Mond.

„Das war in gewisser Weise ein demokratischer Akt, denn wie Ukawa schon sagte, diese Technologie war extrem teuer. Musik, ganz besonders klassische Musik, wurde noch als Teil der kulturellen Elite betrachtet. Und jetzt kommt dieser Typ, nutzt diese teure Technologie, verbindet sie mit der sakralen Musik, macht sie elektronisch und bringt sie nach draußen zu Tausenden von Menschen!“

Und das ist vielleicht auch der Anknüpfungspunkt, warum der Isao Tomita Special Prize nun im Rahmen des Prix Ars Electronica 2021 erstmals vergeben wird…

Gerfried Stocker: Isao Tomita war ein wunderbares Vorbild, und der Isao Tomita Special Prize ist eine wirklich wunderbare Gelegenheit, um nach jungen Künstler*innen Ausschau zu halten, die genauso begierig sind, das zu tun, was Tomita in den 1960er Jahren mit frühen elektronischen und modularen Synthesizern begonnen hat. Jetzt, wo ein neues Zeitalter angebrochen ist und sich die Musik wieder komplett verändern wird… Wenn wir an maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz denken, wird unsere Vorstellung von Kreativität und Musik so wie in den 1960er Jahren mit den modularen Synthesizern wieder auf den Prüfstand gestellt.

Verändert künstliche Intelligenz die Rolle der Künstler*innen? Was bedeutet es, Schöpfer*in und Künstler*in zu sein? Die einzige Antwort, die wir auf diese Fragen haben können, ist, wieder als Künstler*innen aufzutreten und zu sagen: „Okay, wir nehmen die Herausforderung an und wir werden diese Technologie einen Schritt weiterbringen. Wir holen sie in den menschlichen Bereich, wir machen die Technologie zu einem Teil der Kultur!“ Und das ist genau das, worum es beim Isao Tomita Special Prize geht.

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Mit welchen Herausforderungen werden junge Künstler*innen von heute konfrontiert? Ist es primär die künstliche Intelligenz oder gibt es da noch weitere?

Gerfried Stocker: Ich denke, es ist beides. Es gibt die Herausforderungen, die seit jeher die großen Herausforderungen für junge Künstler*innen sind – und das ist vor allem, den eigenen Weg und die eigene Identität zu finden. Da geht es einerseits darum, auf Vorbilder und die Helden der Vergangenheit zu schauen, zu hören, was sie geleistet haben, aber andererseits herauszufinden, was die eigene Position und Rolle sind, was man selbst dazu beitragen kann, und wie man die eigenen Ideen vorantreiben und verwirklichen kann. Das ist eine Herausforderung, die für die Kunst und die Künstler*innen durch die Jahrhunderte hindurch universell ist.

Die nächste Herausforderung ist freilich gar nicht so anders. Es ist die Herausforderung, dass jede Generation von jungen Künstler*innen glücklicherweise stets mit neuen Möglichkeiten konfrontiert wird. In der Geschichte gab es immer wieder neue Instrumente und neue Formen der Präsentation von Musik. Aber unter all diesen technologischen Fortschritten von heute, ist natürlich die künstliche Intelligenz in gewisser Weise eine besonders große, weil sie nicht nur die Art und Weise herausfordert, wie wir Musik produzieren oder wie wir Klänge erzeugen, sondern auch wie wir uns künstlerisch ausdrücken.

Das ist eine sehr zentrale Frage, die sich Künstler*innen stellen müssen…

Gerfried Stocker: Es ist eigentlich eine sehr große Frage nach der Grundlage der Kunst und des Künstlerseins. Die Frage nach der Kreativität. Und wie können wir das erforschen, wie können wir interessante, produktive Wege finden, um mit diesen wirklich aufregenden neuen Technologien zusammenzuarbeiten, die natürlich in vielerlei Hinsicht beängstigend für uns sind, weil sie wirklich den zentralen Punkt treffen, was wir als rein menschlich definieren würden, nämlich kreativ zu sein.

„Der Kern des Künstlerdaseins ist Kreativität. Jetzt gibt es Maschinen, die zumindest simulieren können, kreativ zu sein, und wer weiß, vielleicht werden diese Maschinen schon jetzt oder in naher Zukunft kreativ sein. Was ist also die Rolle des Menschen? Und ich denke, darauf gibt es sehr gute und klare Antworten von den Künstler*innen. Sie sind jetzt herausgefordert, ihre eigene Identität als Individuen zu gestalten, und eine Art kollektive Vorstellung davon zu schaffen, was es bedeutet, Künstler*in im Zeitalter dieser neuen Technologie zu sein.“

Naohiro Ukawa: Isao Tomita forderte die Technologie heraus und öffnete tatsächlich eine Menge neuer Türen für die Kunst! Er hat uns eine Welt der elektronischen Musik eröffnet, und ich glaube, wir sollten zusammen mit den Künstler*innen nachdenken, was es bedeutet, ähnlich wie Isao Tomita, eine Gesellschaft nach der Pandemie zu sein. Wie sieht die nächste Welt aus? Und dabei geht es nicht nur um Technologie.

Isao Tomita hat in seinem Album „Dawn Chorus“ das gleichnamige natürliche Phänomen aufgegriffen, das durch den Einfluss von Sonnenflecken bei Sonnenaufgang auf der Erde entsteht. Über Antennen können diese elektromagnetischen Wellen hörbar gemacht werden, die sich ähnlich wie das Zwitschern der Vögel in der Morgendämmerung anhören. Er nahm die Sounds auf und experimentierte sehr viel damit, und Isao Tomita entdeckte mit diesem natürlichen Dämmerungschor ein weiteres Feld für sich, nämlich die Koexistenz mit der Natur im akustischen Bereich.

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Mit den Auswirkungen des Klimawandels ist das Thema „Natur“ viel stärker präsent als je zuvor…

Naohiro Ukawa: Diese neue Art des Field Recordings war sehr innovativ und seine Verbindung zur natürlichen Umgebung, seine Fantasien einer kosmischen Welt, waren Teil seiner Identität. 2012 gab es ein Konzert, die „Ihatov Symphony“, bei dem er die virtuelle Sängerin Miku Hatsune als Solistin in seine Performance eingebunden hat und dabei versuchte, verschiedene Phänomene des Universums in seine Musik und seine Performance einzubeziehen. Er hat versucht, diese innere Kommunikation zwischen der Erde und dem Universum seit seines SoundCloud-Projekts in Linz 1984 seine gesamte Karriere lang voranzutreiben. Er thematisierte auch die schreckliche und verheerende Tragödie des großen japanischen Erdbebens in Fukushima.

Isao Tomita verwendete zwar die neueste und fortschrittlichste Technologie, schaute aber auch immer auf die Natur – und das wird eines der wichtigsten Dinge nach dieser Pandemie sein: Nachzudenken über die Natur und das Gleichgewicht zwischen Menschen und Natur nicht aus den Augen zu verlieren. Es geht nicht darum, die neuesten Technologien wie damals den Synthesizer oder heute künstliche Intelligenz einzusetzen, sondern es geht darum, über das Leben aller Wesen auf unserem Planeten nachzudenken.

Isao Tomita und ich haben am Ende seiner Karriere viel über Realität und Virtualität gesprochen und dass beispielsweise Realität durch elektronische Klänge nachgebildet werden kann. Er wollte den Moog-Synthesizer zum Sprechen bringen, arbeitete zuerst in den 1970er Jahren an der Synthese des PaPiPuPePo-Sounds, führte das Projekt aber von da an im Untergrund weiter, bis zum Erscheinen von Hatsune Miku. Wir diskutieren auch darüber, warum das traditionelle japanische Puppentheater, das Ningyō jōruri, in unserem Land so erfolgreich war und warum wir Empathie und Emotionen beim Betrachten des Puppenspiels fühlen. Isao Tomita hat damals gemeint, dass es vielleicht genau das ist, was Kunst ist – dass die Unnatürlichkeit selbst Kunst ist und wenn wir dies mit der Natur verbinden können, das wird uns schließlich erlauben, großartig zu sein.

Kunst ist also künstlich, von Menschen geschaffen, mit Technologien, die von Menschen geschaffen wurden. Technologie ändert sich aber im Lauf der Zeit, so ähnlich wie eine Jahreszeit kommt und vorübergeht. Diese Jahreszeit zu spüren, aber gleichzeitig auch die Erde und das Universum zu verstehen und mit Technologie eine vielfältige Sicht auf die Natur zu haben, das ist glaub ich ein sehr wichtiger Punkt gewesen für Isao Tomitas Welt.


Isao Tomita und Naohiro Ukawa

Du hast Isao Tomita mehrmals persönlich getroffen, welchen Rat, glaubst du, würde er jungen Künstler*innen geben?

Naohiro Ukawa: Ich glaube, sein Rat an die jüngere Generation war, ein Otaku zu werden. Das Wort wird vielleicht nicht mehr so oft benutzt, aber in den 1970er Jahren gab es Leute, die zu Hause blieben, sich eingeschlossen und etwas geschaffen haben, obwohl man es damals aber eher für cooler hielt, in einer Band zu sein. Es geht vor allem um die anfängliche Leidenschaft, etwas zu erschaffen.

Ich denke, der Grund, warum Punkmusik damals so populär und weit verbreitet war, dass man an dem Tag, an dem man sein eigenes Instrument kaufte, eine Band gründen konnte, auch wenn man noch nicht spielen konnte. Das war beim Synthesizer nicht der Fall – es war schwieriger, selbst Sounds damit zu erzeugen und zu hören, es gab kaum Handbücher dazu und man musste alles selbst herausfinden. Auch das ist das Ergebnis des gleichen DIY-Geistes wie beim Punk.

Heutzutage haben wir eine Menge an Apps im Internet, mit denen man Musik erzeugen kann. Es gibt heute zahlreiche Tools, die man nutzen kann, um seine Leidenschaft auszuleben. Und ich denke, Isao Tomita war ein Pionier, der uns diese Welt eröffnet hat. Und dadurch hat er uns den Weg von der ersten Idee bis zur künstlerischen Umsetzung verkürzt.

„Er sagte selbst, dass man in sich selbst eintauchen muss. So wie er es in seinem Studio damals gemacht hat. Vielleicht brauchte er einen ganzen Tag, um nur einen Klang einer Flöte zu kreieren, vielleicht schlief er ein und brauchte dann einen weiteren Tag, um herauszufinden, wie eine Geige klingt. Er ist in diese kreative Welt eingetaucht, um sein Kunstwerk zu schaffen. Und das ist glaube ich auch der Rat, den er den jungen Künstler*innen geben würde.“

Gerfried Stocker: Was wir an Isao Tomita am meisten schätzen müssen ist, dass er uns als Künstler gezeigt hat, dass wir hart arbeiten müssen, um dieses Universum zu erschaffen, um diese Einheit zwischen uns Menschen und unserer Umwelt zu schaffen. Sich um unsere Welt, um unseren Planeten zu kümmern, ist definitiv eine der Botschaften, die er uns vermittelt hat, und definitiv eine der großen Herausforderungen für die Künstler*innen der Zukunft.

Naohiro Ukawa: Der vielseitige Künstler ist für sein weitläufiges Betätigungsfeld bekannt, er ist u.a. als Grafikdesigner, Videokünstler, Musikvideoregisseur, Visual Jockey (VJ), Schriftsteller, Professor und „Genzai“-Künstler tätig. Im März 2010 gründete Ukawa den Livestreaming-Kanal „DOMMUNE“, dessen tägliche Programme auf Anhieb eine Rekordanzahl an Zuschauern erreichten und in und außerhalb Japans intensiv diskutiert wurden. 2010 erhielt Ukawa vom japanischen Amt für kulturelle Angelegenheiten die „Japan Media Arts Festival Jury Selection“ für DOMMUNE für seine Kunstform. 2021 wurde ihm der „Minister of Education Award for fine Arts“ verliehen.

Gerfried Stocker ist Medienkünstler und Ingenieur der Nachrichtentechnik. Seit 1995 ist Gerfried Stocker künstlerischer Leiter und Geschäftsführer von Ars Electronica. Mit einem kleinen Team von Künstler*innen und Techniker*innen entwickelte er 1995/96 die Ausstellungsstrategien des Ars Electronica Center und betrieb den Aufbau einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung, dem Ars Electronica Futurelab. Unter seiner Führung erfolgte ab 2004 der Aufbau des Programms für internationale Ars Electronica Ausstellungen, ab 2005 die Planung und inhaltliche Neupositionierung für das 2009 baulich erweiterte Ars Electronica Center, ab 2015 die Expansion des Ars Electronica Festival und im Jahr 2019 die großangelegte thematische und innenarchitektonische Neugestaltung des Ars Electronica Center. Stocker berät zahlreiche Unternehmen und Institutionen in den Bereichen Kreativität und Innovationsmanagement, ist Gastredner auf internationalen Konferenzen und Universitäten. 2019 erhielt er ein Ehrendoktorat der Aalto University, Finnland.

Ein großer Dank geht an Emiko Ogawa für die Organisation des Interviews und an Yoko Shimizu für die Simultanübersetzung. Der Text wurde von Martin Hieslmair bearbeitet und gekürzt.

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