Der STARTS Prize der Europäischen Kommission besteht seit 2016 und wird durch die Ars Electronica organisiert. Von 23. bis 25. April fand das virtuelle Jurytreffen statt, bei dem durch eine fünfköpfige Jury 2 Gewinnerprojekte, 10 Honorary Mentions und weitere 18 Nominations aus allen Einreichungen gekürt werden. Wir haben mit den Jurymitgliedern Francesca Bria und Nicola Triscott über die Bedeutung des Preises, Diversität und die großen Themen der Zukunft gesprochen.
Beginnen wir mit dem STARTS Prize ganz allgemein. Wie würden Sie ihn und seine Möglichkeiten definieren?
Francesca Bria: Für mich geht es in diesem Jahr beim STARTS Prize um Dringlichkeit, denn wir als Gesellschaft versuchen gerade, die schwerste Krise seit Menschengedenken zu überwinden. Künstler*innen, Kreative, Technologien, aber auch politische Entscheidungsträger*innen sind gefragt, die brennenden Fragen unserer Zeit zu beantworten: was tun wir in der Zeit nach der Pandemie, um die multiplen Krisen um uns herum zu bekämpfen? Eine solche Krise kann die soziale Fantasie beflügeln – und genau diese Fantasie brauchen wir mehr denn je, um die großen Herausforderungen zu bewältigen. Das beginnt beim Klimanotstand und beim ökologischen Wandel und geht über die digitale Transformation bis hin zur Krise im Gesundheitswesen.
Wir brauchen interdisziplinäre Kooperation, ein neues, zukunftsorientiertes Denken und eine starke Zusammenarbeit zwischen Kunst, Wissenschaft, Technologie und Design. Künstler*innen sind als kritische Denker*innen unserer Gesellschaft, aber natürlich auch als Impulsgeber*innen für ein neues Denken sehr wichtig, um zukunftsweisende Themen wie das Erreichen von Klimaneutralität oder den Übergang zu einer inklusiveren, demokratischeren Gesellschaft anzugehen.
Der STARTS Prize ist also mehr denn je notwendig, um den europäischen Ansatz für technologische Innovation effektiv umzusetzen, der sich an Nachhaltigkeit, menschlichen Bedürfnissen und grundlegenden Werten orientiert.
Nicola Triscott: Für mich war es auch insofern eine spannende Aufgabe, weil es normalerweise an mir ist, die wissenschaftliche Perspektive zu argumentieren. Ich bin stets die Person, die für Zusammenarbeit, Vermittlung und innovative Konzepte argumentiert, weil ich mich so sehr für die Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Technologie interessiere. Und in dieser Jury war ich die Person, die die Kunst vertritt. Das war also neu und durchaus amüsant für mich.
Wie war das Jury-Wochenende für Sie? Sind Sie zufrieden mit Ablauf und Ergebnis?
Nicola Triscott: Leider muss ich sagen, dass Videokonferenzen eine unbefriedigende Art sind, eine Jury abzuhalten – auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass die aktuelle Zeit dies verlangt. Ich weiß nicht, ob wir zu einem anderen Ergebnis gekommen wären, aber es wäre ein ganz anderer Prozess, eine ganz andere Art von Gespräch gewesen. Oft hat es sich gar nicht wie ein Gespräch angefühlt, sondern einfach wie eine Reihe von Aussagen in den Raum hinein. Außerdem sieht man die Gesichter der Leute nicht und weiß nicht, wie sie reagieren. Es ist also kein normales Gespräch. Unter diesen Umständen haben wir es gut hingekriegt.
Mir hat geholfen, dass es ein Prozess über drei Tage war, weil ich Zeit hatte, abseits der Jurystunden über das Gesagte nachzudenken und tiefer in die Projekte einzutauchen. Besonders am letzten Abend vor der Endrunde habe ich mich mit den Projekten in der engeren Wahl beschäftigt. Das war produktiv und ich bin dankbar, dass wir diese Zeit hatten.
Francesca Bria: Da stimme ich definitiv zu, diese Art von Prozessen ist persönlich auf jeden Fall besser. Hier möchte ich gerne anmerken, dass das Team der Ars Electronica einen großartigen Job macht, den Auswahlprozess vorzubereiten und uns auf den gleichen Stand zu bringen. Auch die Jury-Plattform ist ein wunderbares Werkzeug zur Struktur des Prozesses.
Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass eine so unterschiedliche Auswahl an Jurymitgliedern sich am Ende einig ist. Wir kommen aus völlig verschiedenen Bereichen – Kunst, Industrie, Innovation –, aus geografisch unterschiedlichen Gegenden, haben verschiedene Backgrounds und dennoch öffnen wir hier unsere Perspektive, begeben uns in eine andere Position, um zu verstehen, woher der*die andere kommt und um zu verstehen, was der Wert dessen ist, was wir beurteilen. Das führt dazu, dass wir auf eine andere Art und Weise interagieren und das hat auch mit STARTS zu tun. STARTS hat keine feste Definition, sondern entwickelt sich weiter, auch entsprechend der Gespräche, die wir im Jury-Prozess führen. Ich finde das sehr wertvoll. Ich lerne eine Menge.
Wie wichtig ist eine große Bandbreite an Diversität in der Jury?
Francesca Bria: Vielfalt ist sehr wichtig. Wir haben mit dieser Sensibilität eine geschlechtliche Balance geschaffen, nun brauchen wir ein territoriales Gleichgewicht. Wir brauchen Leute aus dem globalen Süden für eine andere Perspektive. Es ist offensichtlich, dass Ästhetik, Schönheit, Werte, soziale Auswirkungen, sozioökonomische Hintergründe unterschiedlich sind, je nachdem woher man kommt, auch Bedürfnisse, Probleme und Dringlichkeiten sind unterschiedlich.
Am Ende ist der STARTS Prize natürlich von europäischer Identität geprägt und auch da gibt es große Unterschiede – wir [die Jurymitglieder] kommen aus verschiedenen Ländern und verschiedenen Disziplinen, insofern repräsentieren wir Europa auf gute Weise.
Nicola Triscott: Francesca hat absolut Recht. Wir waren eine recht weiße Jury. Es sollte mehr Vertreter*innen aus dem globalen Süden geben. Unterschiede machen es doch interessant!
Was waren wiederkehrende Themen innerhalb der Jury? Worüber wurde viel diskutiert?
Nicola Triscott: Wir haben viel über Handlungsfähigkeit, die politische Dimension der Projekte und über die relative Bedeutung einzelner Projekte diskutiert. Gegen Ende der Jurysitzung hatten wir eine Diskussion, die ich gar nicht erwartet hatte, nämlich die visuelle Vermittlung eines Projektes. Welches Bild sollen wir dazu auf die Website stellen und welche Botschaft wollen wir der kommerziellen Welt damit vermitteln? Darüber hatte ich vorher nicht nachgedacht.
Francesca Bria: Auch politisch dringliche Themen wir Klimaveränderung, ein humanistischer Blick auf das Digitale, etc. wurden besprochen – manche der Jurymitglieder waren darauf fokussiert, während andere sie für zu modisch hielten. Wir haben über kontroverse Themen in den Projekten diskutiert und über die Rolle der Kunst, durch eben diese Kontroversen die Grenzen zu verschieben. Die Balance zwischen Innovation, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und Werte und Nachhaltigkeit beinhaltet, und Provokation zu halten, ist ein wichtiger Punkt. Die Europäische Kommission vergibt den STARTS Prize, um auch symbolisch für diese neue Art der Innovation in Europa zu stehen und diese Bedeutung will sie der gesamten Bevölkerung vermitteln.
Es gab Jahre, wo die Diskussion dann zugunsten der Kontroverse ausging und dann wieder welche, wo es fast schon Handlungsanleitungen für Gemeinschaften gibt, wie manche Dinge zu verändern sind und noch andere, wo der Fokus auf der Industrie liegt und deren technologische und wissenschaftliche Entwicklung voranbringt.
Nach drei Tagen Jury: Was würden Sie als die großen Themen unserer Zeit bezeichnen?
Francesca Bria: Nachhaltigkeit und Klimakrise, Kreislaufwirtschaft und Klimaneutralität. Das sind sicherlich die dringlichsten Themen, weil der Klimawandel da ist, alles betrifft, alle betrifft, die Sicherheit jedes Menschen auf dem Planeten und die kommender Generationen. Viele Projekte beschäftigen sich damit, welche nachhaltigen Lösungen es in den Bereichen Energie, Nahrung, Wasser und Ozeane gibt.
Ein weiteres großes Thema war die Frage von Empathie und menschlicher Autonomie im Zusammenhang mit Technologie. Dabei zeigt sich ein europäischer Touch von Innovation, eine neue Art von Humanismus, die die Auswirkungen des Internets und der digitalen Wirtschaft auf das menschliche Verhalten behandelt. Es geht um große Themen wie Rassen- und Geschlechtervorurteile bei Künstlicher Intelligenz oder Deep Fakes, Gesichtserkennung, Überwachung, digitale Privatsphäre, Datenkontrolle oder Clean Tech oder Green Tech und natürlich die Macht der Tech-Giganten.
Darüber hinaus kamen wir auch zu künstlerischer Erforschung im Bereich von Genetik und Medizin, etwa medizinische Bildverarbeitung mit einer neuen Art von Datenexploration und Visualisierung. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Spitzentechnologie und künstlerischer Erforschung gibt der technologischen Innovation eine neue Dimension.
Nicola, wie fanden Sie als Newcomerin es als Mitglied der STARTS-Jury?
Nicola Triscott: Wir haben bereits über die inhaltlichen Nachteile des Umstands gesprochen, dass die Jurysitzung nicht physisch gemeinsam stattfinden konnte. Auf der anderen Seite bedeutete das auch, dass ich in meiner Küche sitze und für meine Umgebung „vorhanden“ bin, was Emails, Anrufe oder persönliche Dinge angeht. Reist man zu einer Jurysitzung, taucht man in diesen Prozess und diese Gespräche ein. Das habe ich wirklich vermisst. Und vor allem am Anfang empfand ich meinen Beitrag als dürftig, weil es so viele Ablenkungen gab.
Abseits davon war ich sehr aufgeregt, als Teil der STARTS Prize Jury eingeladen zu werden, weil mich dieser Preis wirklich fasziniert. In den Gesprächen verstand ich zunehmend, was er anderen Jurymitgliedern und der Ars Electronica bedeutet. Dadurch würde sich beim nächsten Mal ein anderer Ausgangspunkt für mich ergeben. Ich stimme Francesca zu, wir haben durch die Ars Electronica absolut die richtigen Informationen erhalten, das Portal ist fantastisch, aber mit diesem neuen Wissen über die Bedeutung wird die Einarbeitung in die Projekte eine bessere sein.
Insgesamt war es eine gute Erfahrung, weil es intellektuell so anregend war. Diese Jury war eine ganz andere Gruppe von Menschen für mich, eine andere Art von Gespräch. Es war sehr spannend, Meinungen und Meinungsverschiedenheiten wegen unserer unterschiedlichen Perspektive zu hören.
Und, wissen Sie, es fühlt sich für mich wichtig an, momentan global und in Europa zu sein, gerade für jemanden in Großbritannien…
Francesca, Sie sind Jurymitglied der ersten Stunde, waren also bei den Entwicklungen dabei. Wie haben Sie das erlebt? Und haben Sie so etwas wie ein Lieblingsprojekt aus all den Jahren?
Francesca Bria: Was sich geändert hat, war die Art und Weise, wie wir STARTS definieren. STARTS ist etwas Offenes – es geht um die Reise der Erforschung an der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Wissenschaft. Und eben durch diese Reise des STARTS Prize fangen wir an zu verstehen, was wirklich Einfluss hat. Es geht nicht so sehr darum, dass die Künste zu neuen Produktinnovationen, Dienstleistungen oder neuem Output für die Industrie beitragen, sondern vielmehr darum, dass wir den Beitrag von Kunst, Kultur und Kreativität zur Entwicklung wissenschaftlicher und technologischer Innovationen neu bewerten. So kann die Gesellschaft befähigt werden, die neuen Materialien, den neuen Wissensaustausch oder neue Produktionsprozesse zu nutzen. Das ist sehr radikal, sehr neu.
Für mich gibt es nicht diesen einen Favoriten, aber ich liebe die Kooperationsprojekte. Ich suche nach Methoden der Zusammenarbeit, wie verschiedene, weltweit verstreute Institutionen und Gruppen zusammenkommen und diese innovativen Projekte auf die Beine stellen, bei denen die Bürger*innen von Grund auf einbezogen werden. Das bedeutet soziale Innovation, mehr Nachhaltigkeit, Inklusion und Demokratie. Und das ist es, worum es in Europa geht.
Nicola Triscott (UK) PhD ist Kuratorin, Forscherin und Autorin und hat sich auf die Schnittstellen zwischen Kunst, Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft spezialisiert. Seit 2019 ist Nicola Triscott Direktorin/CEO des FACT (Centre for Film, Art & Creative Technology) in Liverpool, UK, wo sie 2020 die Ausstellung And Say the Animal Responded? kuratierte. Zuvor war sie künstlerische Gründungsdirektorin/CEO von Arts Catalyst (von 1994 bis 2019) und Principal Research Fellow an der University of Westminster (2017-19). Sie hat einen Doktortitel in kuratorischen Studien von der University of Westminster. In 25 Jahren baute Nicola Arts Catalyst zu einer der profiliertesten und angesehensten Kunst- und Forschungsorganisationen Großbritanniens auf, die sich durch ehrgeizige Künstleraufträge auszeichnet, darunter bemerkenswerte Projekte von Tomás Saraceno, Otolith Group, Ashok Sukumaran, Marko Peljhan, Ariel Guzik und Critical Art Ensemble. Nicola hält Vorträge und publiziert international.
Francesca Bria (IT) ist die Präsidentin des Nationalen Innovationsfonds Italiens und Ehrenprofessorin des Instituts für Innovation und öffentliche Zwecke an der UCL in London. Sie ist Senior-Beraterin der Vereinten Nationen (UN-Habitat) für digitale Städte und digitale Rechte. Francesca Bria leitet das DECODE-Projekt zur Datenhoheit in Europa und ist Mitglied der hochrangigen Expertengruppe der Europäischen Kommission zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Forschung und Innovation (ESIR). Francesca hat einen Doktortitel in Innovation und Unternehmertum vom Imperial College, London, und einen MSc in digitaler Wirtschaft von der Universität London, Birbeck. Sie lehrte an mehreren Universitäten in Großbritannien und Italien und beriet Regierungen, öffentliche und private Organisationen.