Sie ist unser siebter Kontinent, macht 10% der Landmasse aus, umfasst 70% der Frischwasserreserven und 90% der Eismasse der Erde. Daneben stellt sie den größten Speicher wissenschaftlicher Daten über unsere Klimageschichte dar. Und sie schmilzt unaufhörlich, in der alarmierenden Geschwindigkeit von 200 Schwimmbecken pro Minute. Wäre sie gänzlich verschwunnden, würde das zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 60 Meter führen, zur größten Flüchtlingskrise, die die Menschheit bisher erlebt hat.
Die Rede ist von der Antarktis, was übrigens aus dem Altgriechischen kommt und soviel bedeutet wie „der Arktis gegenüber“. Ihr hat die italienische Architektin, Forscherin und Aktivistin Giulia Foscari bzw. das Kollektiv UNLESS die Antarctic Resolution gewidmet. Das 1000 Seiten starke Manifest, zu dem 150 führende Antarktis-Expert*innen beigetragen haben, ist ebenso Liebeserklärung wie Weckruf an die Welt. Und es ist nicht zuletzt eine Aufforderung zum Handeln: „Speak up for Antarctica now!“ lautet die Botschaft, denn obwohl die Zukunft des Planeten zu einem großen Teil vom Schicksal der Antarktis abhängt, hat sie keine Fürsprecher*innen und wird ihre Bedeutung weitgehend unterschätzt.
„Antarctic Resolution wurde von Giulia Foscari / UNLESS ins Leben gerufen, um die weltweite Aufmerksamkeit auf eines unserer wenigen globalen Gemeingüter zu lenken und eine Vertretung für unseren einzigen Kontinent ohne eine einheimische Bevölkerung zu schaffen, mit dem Ziel, zum Schutz der Antarktis und damit auch zum Schutz unserer eigenen Arten beizutragen.“
Für genau dieses Bestreben wurde das Projekt jetzt mit dem STARTS Prize 2022 in der Kategorie Grand Prize – Innovative Collaboration ausgezeichnet. Vergeben wird er für „innovative collaboration between industry or technology and the arts that open new pathways for innovation“. Die internationale Jury, der Francesca Bria (IT), Andres Colmenares (CO/ES), Asako Tomura (JP), LucÃa GarcÃa (ES) und Alexander Mankowsky (DE) angehörten, schreibt in ihrem Statement:
„It opens up new perspectives and insights by leveraging the means and powers of art as a research practice as well as a way to enable awareness and concern, participation and involvement.“
Um mehr über dieses unglaublich faszinierende und zugleich beängstigende Projekt zu erfahren, hat uns Giuli Foscari erzählt, wie dieses Wissen um die Antarktis entstanden ist, welche Maßnahmen getroffen werden, um das umfangreiche Werk der breiten Bevölkerung zugänglich zu machen und welche Kernbotschaft sie uns allen gerne mitgeben würde.
Was hat Sie angetrieben, was war die Motivation hinter dem Projekt Antarctic Resolution?
Giulia Foscari: Antarctic Resolution entstand aus der schockierenden Erkenntnis, dass wir kollektiv einen ganzen Kontinent vernachlässigen, der ein beispielloses wissenschaftliches Potenzial und gefährlich verlockende Rohstoffvorkommen besitzt und der droht, Küstensiedlungen auf der ganzen Welt buchstäblich zu überfluten und die größte Völkerwanderung auszulösen, die die Menschheit je erlebt hat. Als ich erkannte, dass meine Unkenntnis über den Kontinent umgekehrt proportional zur Bedeutung der Antarktis für unsere eigene Spezies war, war ich nicht nur motiviert, sondern auch fest entschlossen, irgendwie dazu beizutragen, die Antarktis dem Vergessen zu entreißen, indem ich Wissen über unseren siebten Kontinent aufbaue und verbreite. Dieser Ehrgeiz führte schließlich zur Gründung von UNLESS und zu den multidisziplinären kollektiven Bemühungen, die von Antarctic Resolution verkörpert werden.
In Ihrer Einreichung heißt es: „Antarctic Resolution ist eine transnationale und multidisziplinäre kollektive Initiative, kuratiert von Giulia Foscari / UNLESS, mit dem Ziel, das Bewusstsein für die zentrale Bedeutung der Antarktis im globalen Ökosystem zu schärfen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, sich für die Antarktis einzusetzen und für antarktische Resolutionen zu werben.“ Was sind die Schritte und Maßnahmen, die zur Erreichung dieses Ziels unternommen werden, und wie kann dieses Ziel erreicht werden?
Giulia Foscari: Antarctic Resolution wurde mit dem doppelten Ziel konzipiert, ein hochauflösendes Bild unseres siebten Kontinents zu erstellen und die Menschen auf dem Planeten zu mobilisieren, um für Antarktis-Resolutionen zu werben und diese zu fordern, da es sich zweifellos um ein globales Gemeingut handelt, das im Interesse der Gesellschaft als Ganzes gerecht verwaltet werden sollte. Während das erste Projekt dank des unerschütterlichen Engagements von 150 weltweit führenden Antarktis-Expert*innen möglich war, die eng mit UNLESS zusammengearbeitet haben, um die erste enzyklopädische Publikation über die Antarktis zu erstellen, ist es nicht so einfach zu definieren, welches die besten Strategien sind, um die breite Öffentlichkeit zu aktivieren, sich mit einem weit entfernten Land zu beschäftigen, das scheinbar nichts mit ihnen zu tun hat.
Unser erster Versuch, dieses Ziel zu erreichen, ist die Kampagne, die wir kürzlich in Berlin anlässlich der Konsultativtagung des Antarktisvertrags gestartet haben – der jährlichen Konferenz, auf der die Mitgliedsstaaten des Vertrags (von denen nur 29 stimmberechtigt sind) zusammen mit ausgewählten Beobachter*innen und Expert*innen zusammenkommen, um alle Entscheidungen zu treffen, die die Zukunft des Gebiets unterhalb des 60. südlichen Breitengrads betreffen. Unter dem Titel „Speak Up For Antarctica Now“ ging die Kampagne auf die Straßen der deutschen Hauptstadt und rief die Berliner*innen und Passant*innen dazu auf, eine Stimme für unseren einzigen Kontinent ohne einheimische Bevölkerung zu erheben und sich für drei Resolutionen einzusetzen: ein sofortiges und dauerhaftes Verbot der Kohlenwasserstoffförderung in der Antarktis; die Verpflichtung, internationale Forschungsstationen auf dem Kontinent zu errichten, im Gegensatz zu den derzeit zahlreichen, meist uneffizienten nationalen Außenposten; und die Einrichtung von drei Meeresschutzgebieten im Südpolarmeer, der größten Kohlenstoffsenke des Planeten Erde.
Ich bin mir nicht sicher, was eine „erfolgreiche“ Strategie ist, um sicherzustellen, dass diese Belange in der geopolitischen High-Diplomacy-Arena auf Resonanz stoßen und letztendlich zu tatsächlichen Veränderungen in der Politik und der Regierungsführung führen, aber ich würde annehmen, dass man sowohl auf globaler Ebene agieren muss – indem man eine Bewegung ins Leben ruft, die stark genug ist, um Druck auf die Entscheidungsgremien auszuüben – als auch innerhalb der geopolitischen Sphäre – indem man mit der nötigen Geduld und Entschlossenheit strategische Allianzen innerhalb der Mitgliedsstaaten des Antarktisvertrages zur Verteidigung der Generationengerechtigkeit aufbaut.
Welche Bedeutung hat der Gewinn eines Preises wie des STARTS Prize für Sie und das Projekt, wie hilft er der Antarctic Resolution?
Giulia Foscari: Wir fühlen uns sehr geehrt, mit dem STARTS Prize ausgezeichnet worden zu sein. Wir glauben fest an die Kraft der künstlerischen Produktion als Katalysator für globales Handeln, die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Beschleunigung des Prozesses der Demokratisierung von Daten, die im Mittelpunkt der STARTS Initiative stehen.
Genau diese Ãœberzeugung hat uns bisher dazu gebracht, Antarctic Resolution auch in Form von Ausstellungen in Venedig (im zentralen Pavillon der 17. Architekturbiennale), in Madrid (im Museo Nacional Thyssen Bornemisza) und in Mailand (anlässlich der Pre-Cop 26) zu präsentieren. Die Ausstellungen wurden als Aufrufe zum Handeln konzipiert – ein Handeln, das wir für unaufschiebbar halten, wenn man bedenkt, dass die durch den Klimawandel verursachten planetarischen Katastrophen zunehmen (die durch die Umsetzung grundlegender umweltpolitischer Maßnahmen, die auf der Grundlage der bahnbrechenden Antarktisforschung entwickelt wurden, gemildert werden könnten) und die jüngsten politischen Unruhen, die das erschreckende Potenzial haben, die nationalen Interessen auf die Ausbeutung der antarktischen Ressourcen zu lenken.
Vor diesem Hintergrund freuen wir uns sehr über die Möglichkeit, die Forschungsergebnisse mit dem Publikum der Ars Electronica und allen anderen STARTS Partnern zu teilen, in der Hoffnung, dass die multidisziplinären Gespräche, die sich bei diesen Gelegenheiten sicherlich entwickeln werden, die Agenda von UNLESS weiter vorantreiben und den Kreis der Interessierten in der Antarktis erweitern können. Wir sind besonders dankbar für diese Nominierung, da wir das Potenzial für die Europäische Union sehen, als ein wichtiger Akteur in der Antarktis-Arena aufzutreten – indem sie die nationalen Agenden, die bisher im Rahmen des polaren Governance-Modells gefördert wurden, beiseite lässt und einen echten Geist der Zusammenarbeit im Einklang mit den Statuten des Antarktis-Vertrags anstrebt -, um nachhaltige Strategien und Beschlüsse für die Antarktis zu fördern, die die Chancen der Menschheit erhöhen könnten, die im Pariser Abkommen festgelegten Klimaziele zu erreichen. In dem Bewusstsein, dass die beschleunigte Ausdünnung der antarktischen Eisdecke ohne Frage die Existenz eines großen Teils der europäischen Küstengebiete gefährden wird, sind wir STARTS besonders dankbar für die Gelegenheit, die mögliche Rolle der Europäischen Union in und für die Antarktis zu erforschen.
Wenn Sie die Bedeutung der Antarktis in einem Satz ausdrücken müssten…:
Giulia Foscari: Was in der Antarktis geschieht – unserem größten planetarischen Archiv, das 10 % der Landmasse, 70 % des Süßwassers und 90 % des Eises des Planeten Erde umfasst -, bleibt nicht in der Antarktis.
Giulia Foscari W. R. (IT) is an architect, researcher and activist who has been practising in Europe, Asia and the Americas. She is the founder UNLESS, a non-profit agency for change, and of its alter ego UNA, an architecture studio focussed on cultural projects. Giulia taught at Hong Kong University and at the Architectural Association. The work of UNA and UNLESS was exhibited extensively internationally. Giulia authored Elements of Venice and edited Antarctic Resolution (Lars Müller Publishers). She is a member of the International Council of the MoMA, a Board Member of the Fondazione Musei Civici di Venezia and of the Antarctic Southern Ocean Coalition.
UNLESS is an agency for change. It is a non-profit organisation devoted to transnational research on extreme environments threatened by the planetary crisis. Founded by architect Giulia Foscari in 2019, the agency collaborates closely with a vast network of multidisciplinary specialists based in all seven continents. UNLESS operates alongside its alter ego, the architecture studio UNA.
Dieses Projekt kannst du ebenso wie die weiteren Gewinner*innen-Projekte des STARTS Prize 2022 von 7. bis 11. September 2022 am Ars Electronica Festival 2022 in Linz erleben.