Es gibt zumindest eine Wahrheit, derer wir uns alle bewusst sind: die globalen Krisen und Herausforderungen unserer Zeit, können nur durch eine gemeinsame Suche bestritten werden – nur, wenn wir – zusammen mit allen anderen Spezies – den Planeten gemeinsamen zu eigen machen. Nicht jeder hat für sich, alle haben wir gemeinsam nur einen Planeten. Etablierte Sicht- und Verhaltensweisen müssen hinterfragt werden, um Wandel zu ermöglichen. (Co) Owning More-than-Truth, nennt sich die Themenausstellung des Ars Electronica Festival 2023. Um vorherrschende Normen herauszufordern und kritische Reflexion über die Komplexität des Eigentumsbegriffs in einem globalen Kontext anzuregen, bringt die Ausstellung verschiedene Themen, Disziplinen und Bereiche zusammen. Die Auseinandersetzung beruht auf drei mit dem Eigentumsbegriff verbundenen Akten: Navigating, Mapping und Shifting.
Der erste Schritt auf dem gemeinsamen Weg zu einer neuen Auffassung von Eigentum und Wahrheit ist das Verstehen. Wir stellen uns queere, postkoloniale Zukünfte genauso wie Technologien, die unsere natürlichen Rohstoffe kalibrieren, vor. Wissenschaftliche Theorien stellen oft eine Basis für Verstehen, für das, was wir als die Wahrheit wahrnehmen, dar. Gleichzeitig realisieren wir die Individualität unserer Welt- und Wahrheitsansicht. Diese erste Eigentumshandlung wird im Kontext der Themenausstellung als Navigating (Navigieren) bezeichnet. Die präsentierten Projekte eröffnen neue Perspektiven und zeigen zukünftige Möglichkeiten genauso auf wie präsente Gefahren. Špela Petrič (SI) und Studio Teratope (NL) beschäftigen sich im Rahmen von AIxxNOSOGRAPHIES, einem durch die Zusammenarbeit von Ars Electronica und der Deutschen Telekom ermöglichten Projekt, mit dem Einsatz von KI im Gesundheitswesen. Teilnehmer*innen werden in die Rolle von Amateur-Ethnograph*innen schlüpfen und sich auf eine Tour durch Infrastrukturen begeben, die auf eine der Anwendungen von KI im Gesundheitswesen abzielen. Brakfesten / La Grande Bouffe ist ein Makrofilm von Anne Duk Hee Jordan (DE/KR) und Pauline Doutreluingne (BE), der sich mit dem Ulmensterben und der Wiederherstellung des ökologischen Kreislaufs befasst. Im Rahmen von Organ Of Radical Care: Una Matriz Colaborativa, unterstützt durch die Europäische Initiative EMAP und kreiert von Charlotte Jarvis (GB) und Dr. Patricia Saragüeta (AR), wurde Menstruationsblut gesammelt und eine kollaborative Gebärmutter aufgebaut. Dagegen befasst sich StellaVerde von Gregor Krpič (SI), Simon Gmajner (SI), Dr. Jan Babič (SI), Dr. Marko Jamšek (SI) und Gal Sajko (Jožef Stefan Institute) (SI) mit der zukünftigen Nahrungsmittelproduktion in Form einer vertikalen Gartenanlage, die von einem Spiderbot betreut wird. Durch den Einsatz einer umfassenden und ständig aktualisierten Reihe von Sensoren ist es möglich, Pflanzen, die unter extremen Bedingungen wachsen, entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse zu pflegen.
Doch nicht nur neue Erkenntnisse sind gefragt. Auf der Suche nach der Wahrheit ist es ebenso wichtig, die Fakten oder Wahrheiten zu verbinden und aktiv Knotenpunkte zwischen verschiedenen Einheiten zu erkennen, sich eigen zu machen und neu zu kreieren. Mapping (Kartieren) beschreibt diesen Prozess zum Angleichen und Erfassen der Kartografien von natürlichen und digitalen Ökosystemen. Veranschaulicht wird der Aspekt des Verknüpfens zum Beispiel durch das Projekt Biosymbiotic Exoskeleton von Dorotea Dolinšek (SI). Dieser EMAP-geförderte Versuch, einen Raumanzug als Lebenserhaltungssystem zu gestalten, behandelt nicht nur die symbiotischen Allianzen zwischen Mensch, Technologie und nicht-menschlichen Lebewesen, sondern setzt sich auf diesem Weg auch mit unserer Fähigkeit, auf ökologische Herausforderungen zu reagieren, auseinander. Sistema Cinco: Non-Human Determinations von Cristo Riffo (CL) verbindet ein gehacktes Mikroskop mit robotischen Elementen, um die Abhängigkeiten und Beziehungen von Mikroorkanismen zu erforschen und molekulare Technologien der Natur denen des Menschen gegenüberzustellen. Das Mikroskop wird mit künstlicher Intelligenz verbunden, um sich die Realität von kybernetischem Management mit algorithmischer Steuerung vorstellen zu können. Außerdem versuchen Noor Stenfert Kroese (NL) und Amir Bastan (IR) mit ZOE, eine interne Kommunikation zwischen Reshi-Pilzen und einem Robotersystem herzustellen. Daten aus der Umgebung und aus dem Myzel des Reishi werden gesammelt und aus diesen und ihrem Verhältnis zur Umgebung Datenteppiche erstellt, um eine mögliche Korrelation sichtbar zu machen.
Projekte wie Consensus Gentium von Karen Palmer (GB) und Microfluidic Oracle Chip & Autopoesis Answering Machine (MOC&AAM) von Agnes Meyer-Brandis (DE) bringen uns zur letzten Station der Suche, die uns von der Frage Wem gehört die Wahrheit zur Antwort (Co)Owning More-than-Truth der Themenausstellung führt. Bei Ersterem handelt es sich um ein interaktives Kunstwerk für das iPhone, das sich mit Überwachung und algorithmischen Bias bei KI-gesteuerter Gesichtserkennungstechnologie befasst. Es wird eine Art Erzählung geschaffen, die das Publikum durch Aktion und Reaktion beeinflusst und so das Potential moderner Überwachungstechnologien aufgezeigt. MOC&AAM ist das Ergebnis einer künstlerischen Recherche in Labors für synthetische Biologie. Es handelt sich um eine Art Orakel bestehend auf einem Netz miteinander verbundener mikrofluider Chips, die winzige Kanäle im Submillimeterbereich enthalten, durch die Flüssigkeiten fließen können, die in diesem Fall aus einer Vielzahl mikroskopisch kleiner, handgeschriebener Fragen bestehen. Am Ende jeder Frage wenden sich die Tröpfchen entweder dem Wort JA oder NEIN zu. Wer erstellt und validiert Daten? Die Fortschritte im technologischen und medialen Bereich führend unter anderem dazu, dass die Grenze zwischen real und fake immer mehr verschwimmt und persönliche Daten zu Token werden. Das bringt uns zum Kern der Ausstellung: Was wir als die Wahrheit wahrnehmen, ist oft nur subjektiv konstruiert. Es ist daher wichtig zu reevaluieren, wie sich unterschiedliche Narrative darauf auswirken, wie die Wahrheit sowie unser Planet gestaltet werden. Während wir das Netz aus sich wandelnden Wahrheiten navigieren, will die Themenausstellung Wahrheit nicht als festes Ziel sondern als kontinuierliche Suche und Reise in die Zukunft sehen, die wir zu haben wünschen.
Wer die Reise durch die Themenausstellung nicht allein bestreiten will, kann während des Festivals an einer der diversen Expert Guided Tours teilnehmen. Während Touren mit Christl Baur oder Martin Honzik, den Kurator*innen der Ausstellung, eine intensive Auseinandersetzung und einen Blick hinter die Kulissen von (Co)Owning More-than-Planet versprechen, bieten Führungen mit einigen der Künstler*innen und Partner einen fokussierten Blick auf thematische Hintergründe ihrer Werke. So gibt es die Möglichkeit die Ausstellung durch die Expert Tour Mattering mit Miha Turšič (SI/NL), durch die Expert Tour: Terraforming Earth – Decolonizing Space mit Annick Bureaud (FR) und durch die Expert Tour: Massive Binaries mit Andy Gracie (GB/ES) zu entdecken. Außerdem führt Špela Petrič (SI) mit der Expert Tour AI and Health Care durch das Ordensklinikum Linz Elisabethinen und Stadtökologe und Botaniker Friedrich Schwarz (AT) bietet mit der Expert Tour: POSTCITY Rooftop Ecosystem eine besondere Führung mit Schwerpunkt auf Biodiversität und Naturschutz in Städten an.
Außerdem kann dem More-than-Planet Lab und den zahlreichen dort stattfindenden Workshops einen Besuch abstatten, um Erfahrungen und Erkenntnise in Aktion umzuwandeln und sich auszuprobieren, kann Mehr zu diesem Workshop-Space im Bunker der POSTCITY kann in dem Blog zur More-than-Planet Initiative der EU nachgelesen werden.
Ein Teil der Ausstellung, die im Rahmen des Projekts More-than-Planet präsentiert wird, wird durch das Programm Kreatives Europa der Europäischen Union kofinanziert. Die Ausstellung zeigt Werke der EMAP (The European Media Art Platform) Residency, die im Rahmen des European Media Artist in Residence Exchange (EMARE) entstanden sind, der Art Science Residency, die von der Art Collection Deutsche Telekom finanziert wird, und des Randa Art|Science Residency Projekts, das vom Institut Ramon Llull organisiert und von Ars Electronica und dem Barcelona Institute of Science and Technology (BIST) ausgerichtet wird. Die Ausstellung umfasst auch Werke, die mit dem ArTS (Art, Technology, Society) Production Grant for Swiss Artists ausgezeichnet wurden, einem von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützten Programm. Der Creative Industries Fund NL unterstützt ebenfalls einen Teil der Ausstellung.
Mehr zu den Highlights des Ars Electronica Festival 2023 findest Du hier. Details werden laufend auf dem Blog und der offiziellen Festivalwebsite veröffentlicht.